Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Hinrichtung

Am 3. Mai frühmorgens um 7 Uhr gab mein Nachbar Antonow das beunruhigende Signal: Schauen Sie!

Ich stürzte ans Fenster.

Vom Festungstor bewegte sich ein eng zusammengedrängter Haufen von Menschen in Uniformen, und in ihrer Mitte: eine Person im Halbpelz.

Wir begriffen: man hatte einen Gefangenen in die Festung gebracht. Gemischte Gefühle ergriffen mich: Schmerz um das junge Leben, das man jetzt gleich in unserem brüderlichen Grab begraben wird, und ein freudiges Gefühl, daß ein Hauch frischer Luft, Kampfesluft, auch zu uns dringt, jene Luft des Kampfes von dort jenseits der Mauern. Aber der stechende Schmerz um das junge Leben war stärker als die Freude.

Doch der Gefangene wurde nicht zu uns in das Gefängnis gebracht, man führte ihn in die Kanzlei. Nachmittags sagte Antonow finster: »Auf dem Hof ist ein Geistlicher.«

»Was ist denn da dabei?« fragte ich verständnislos.

»Es wird eine Hinrichtung stattfinden,« erwiderte düster Antonow.

Seit dem Jahre 1884 hatten auf dem Hof der Zitadelle mehr als einmal Hinrichtungen stattgefunden; man tötete Minakow und Myschkin; dann Stromberg und Rogatschew, und im Jahre 1887 fünf Personen aus dem Prozeß Lukaschewitsch und Noworusski. Aber alle diese Hinrichtungen fanden heimlich statt. Man ging dabei so geheimnisvoll zu Werke, daß wir davon weder etwas sahen noch hörten.

Die matten Fensterscheiben, die dicken Wände des Gebäudes und die frühe Morgenstunde, wenn alles ringsum noch schlief, ließen gar nicht ahnen, daß in der Nähe etwas Ungewöhnliches geschehe.

Jetzt war es ganz anders. Die Fensterscheiben waren durchsichtig; wir sahen, daß jemand in die Festung gebracht wurde, und man konnte ihn auf dem Gefängnishof nicht anders als an unseren Fenstern vorüberführen; wir mußten ihn sehen.

Jetzt schleicht sich der Wachtmeister, mit einer Schnur in der Hand, verstohlen an den Fenstern, an die Mauer gedrückt, vorbei, ängstlich besorgt, daß man ihn nicht sehe ... Verstohlen folgt ihm ein Gendarm, der unter dem Mantel Säge und Beil trägt.

Sicherlich wird man »ihn« während der Nacht bei uns vorüberführen. Aber wir werden nicht schlafen, um ihn wenigstens mit den Augen zu begleiten.

Aber die Gendarmen überlisteten uns. Niemand von uns sah, wo und wann der Verurteilte in der dunklen Nacht hinaufgeführt wurde.

Um 3 Uhr morgens begann es zu tagen. Auf dem Gefängnishof waren weiße Häuser sichtbar, die Wohnungen der Verwaltung. Daneben ein heller Streifen, der Weg. Auf der anderen Seite, mitten im Hof, stand eine weiße Kirche und schwarze, noch ganz kahle Bäume. Tot und öde mutete dieser Hof an beim anbrechenden Tageslicht, das auf den öden, menschenleeren Raum seine gelblichen Schatten warf. Hintereinander erschienen im Hof: der Inspektor, sein Gehilfe, der Kommandant, der Garnisonschef, der Arzt, der Geistliche, die Gendarmen. Sie gingen in einer Gruppe den Weg entlang in der Richtung des Gefängnistores. Abseits, wie ein Ausgestoßener, ein Verpesteter, mit einem Gendarmen vor und einem hinter sich schritt ein starker Kerl. Es war der Henker ...

Sie gingen alle vorüber und verschwanden im Tor der Zitadelle. Wieder war alles öde und tot und versank im fahlen Zwielicht des anbrechenden Tages. So vergingen 40 Minuten – die letzten in »seinem« Leben.

Langsam, müden Schrittes entfernte sich der Geistliche, gebeugt unter der Last des soeben Durchlebten. Er ließ sich auf die Bank neben der Kirche nieder.

Wieder trat lautlose Stille ein, erfüllt von Todesahnung ... Es ist vorüber ... Und wieder erscheinen der Kommandant, der Inspektor, die Gendarmen und ein Herr in der Uniform des Justizbeamten. Wieder schleppt sich abseits der Ausgestoßene, der Verfemte, der dicke Mann im Tuchmantel.

Als sie das Tor unseres Hofes durchschritten, wandte sich einer von jenen, die den Henker mieden und vor einer Berührung mit ihm zurückwichen, der Mann, der die »Justiz« hier vertrat, mit dem Gesicht zu uns, zu unseren Fenstern, wo er unsere an die Scheiben gepreßten Gesichter sehen mußte. Er wandte uns sein wohlgenährtes Gesicht zu und lächelte selbstzufrieden. Es war ein freches, sattes, zufriedenes und herausforderndes Gesicht.

Aber einer von den Gendarmen, der die Obrigkeit zum Platz der Hinrichtung begleiten mußte, griff sich plötzlich im Zitadellentor an die Brust und stammelte: »Euer Wohlgeboren – ich kann nicht! Lassen Sie mich gehen! Ich kann es nicht aushalten! – Ich kann nicht!«

Es war die Hinrichtung Balmaschows, der den Innenminister Sipjagin getötet hatte.


 << zurück weiter >>