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Drohende Gefahr

Drei Tage waren vergangen; man hatte mich nicht abgeführt. Das Gefängnis schien erstorben und erinnerte an die alten Zeiten, als es sich noch unter der eisernen Faust Sokolows befand.

Endlich bekamen wir von Antonow, der den Wachtposten am Fenster inne hatte, eine Meldung: der Militäruntersuchungsrichter war eingetroffen und verhörte in der Kanzlei jeden Gendarmen einzeln.

Dann kam die Reihe auch an uns.

In Begleitung des Kommandanten, des Inspektors und mehrerer Gendarmen betrat ein hochgewachsener, junger Mensch mit einem strengen, intelligenten Gesicht meine Zelle.

»Wie konnten Sie so etwas tun?« fragte er mich.

In den vorhergehenden Tagen hatte ich viel darüber nachgedacht, wie ich mich bei der Untersuchung zu verhalten habe. Ich befürchtete, man werde versuchen, der ganzen Sache einen persönlichen Charakter zu verleihen, sie mit übergroßer Erregung infolge der Entziehung des Briefwechsels zu erklären, und trachten, sie zu vertuschen. Ich wollte aber alles vermeiden, was die Beurteilung meiner Tat mildern konnte: es sollte ganz davon abgesehen werden, daß ich schon 20 Jahre im Gefängnis war, alle persönlichen Motive sollten ausgeschlossen und die Sache als bewußter Protest des ganzen Gefängnisses betrachtet werden.

Ich erzählte alle Umstände des Abends und der Nacht des 2. März, berichtete von dem Rundgang des Inspektors, wie er, ohne irgendwelchen Grund anzugeben, uns erklärt hatte, daß im Gefängnis von nun an die alten Instruktionen in ihrer ganzen Strenge wieder in Kraft treten sollten; ich schilderte unser Erstaunen und unsere Unruhe über die Repressalien, zu deren Herbeiführung wir nichts beigetragen hatten; dann die Erregung, die uns ergriff, als plötzlich in der Nacht die Gendarmen, ohne unsere Fragen zu beantworten, jemand hinaustrugen, und wir das Keuchen des Kameraden und die erregten Befehle des Kommandanten hörten: »Losbinden!« ... »Den Arzt holen!«

Ich erzählte dann von dem Briefe, den zurückzuhalten der Inspektor kein Recht gehabt hätte. Er müßte ihn an das Departement weitergeben, gleichgültig, welchen Inhalts er sei; die Zensur obläge dem Polizeidepartement, und ich hätte ganz genau gewußt, daß es den Brief nicht weiterschicken, sondern nur selbst durchlesen werde.

»Vielleicht benahm sich der Inspektor Ihnen gegenüber grob und rief dadurch die Tat hervor?« fragte mich der Untersuchungsrichter.

»Nein, er war nicht grob. Er ist überhaupt weich im Umgang, und nicht er, sondern ich erhob die Stimme im Gespräch.«

»Vielleicht kränkte oder empörte Sie die Erklärung des Inspektors, daß man Ihnen den Briefwechsel entziehen werde?«

»Nein. Mir lag nichts mehr am Briefwechsel. Hätte man ihn mir in den ersten Jahren gestattet, so wäre er ein großes Glück gewesen. Aber jetzt, nach soviel Jahren, verursacht er mir nur Schmerz.«

»Also, Sie wollten die Sache nur der Öffentlichkeit übergeben?«

»Ja,« erwiderte ich.

Je länger ich sprach, desto weicher und heller wurde das Gesicht des Fragenden. Jetzt verbeugte er sich, und mit den Worten: »Leben Sie wohl« verließ er die Zelle.

Dann war er bei Popow, und wir erfuhren endlich die Ursache der gegen uns gerichteten Repressalien. Popow hatte den Versuch gemacht, durch einen jungen Gendarmen einen Brief aus dem Gefängnis zu befördern. Er war an seine Mutter gerichtet und vollkommen harmlos. Niemand von uns außer Sergej Iwanow wußte davon.

Der Gendarm, ein junger, rotbackiger Bursche, räumte gewöhnlich die Zelle während des Spaziergangs auf. Es gelang Popow, einige Male mit ihm ein paar Augenblicke allein zu bleiben. Der Soldat sprach ihm dann gewöhnlich sein Mitgefühl aus und erklärte sich bereit, ihm einen Dienst zu erweisen: nur die Angst, in das Strafbataillon zu geraten, hielt ihn bisher zurück. Etwas anderes wäre es, wenn er wüßte, daß er zu den »Politischen« kommen werde!

Popow beschloß, die Bereitwilligkeit seines Freundes auszunutzen, und übergab ihm den Brief mit der Bitte, ihn in den Postkasten zu stecken. Am selben Tage noch, nicht etwa durch Verrat, sondern durch die Dummheit des Soldaten, geriet dieser Brief in die Hände des Kommandanten.

Alles Folgende war nun verständlich ...

Es begannen qualvolle Tage voller Ungewißheit. Diese Ungewißheit über unser weiteres Schicksal umstrickte uns förmlich. Niemand verließ seine Zelle. Wir stellten allerlei Hypothesen auf.

Es hing etwas in der Luft. Der Kommandant Obuchow bat uns, um Gotteswillen alle scharfen Instrumente, über die wir verfügten, abzuliefern. Dabei sagte er, daß er uns in einer Woche verlasse, ebenso der Inspektor. So erfuhren wir, daß eine völlige Veränderung des Verwaltungsapparates bevorstehe. Das sprach dafür, daß unsere Sache für richtig angesehen wurde und günstig enden werde.

Ende März meldete uns Antonow, daß der neue Kommandant angekommen sei. Und tatsächlich erschien er bald bei uns. Es war ein alter Bekannter, der Offizier Jakowlew, der in der Peter-Paul-Festung uns während der Besuche unserer Angehörigen überwachte, der Perowskaja auf das Schafott begleitet hatte und der Gehilfe Sokolows im Alexej-Vorwerk gewesen war.

Er verlas uns ein Dokument, das eigentlich nichts besagte. Es schien, als wolle man uns in etwas beschränken, etwas entziehen, uns bestrafen. Tatsächlich aber bestand das Wesentliche darin, daß die Zellen nachts wieder beleuchtet sein sollten und es verboten wurde, in den Kammern Glassachen zu haben.

Popow entzog man den Spaziergang zu zweien für einen Monat; mich trafen keinerlei Repressalien, nur die Entziehung der Korrespondenz blieb in Kraft.

Die Kameraden jubelten, denn sie hielten die Angelegenheit für erledigt.

Am nächsten Tag gingen wir wieder spazieren. Auch ich betrat denselben »Käfig«, wo ich vor einem Monat spazierengegangen war. Aber in welchem seelischen Zustand? In diesen vier Wochen hatte ich soviel durchlebt, und das Durchlebte war so brennend, so scharf gewesen. Allein geblieben, befestigte sich in mir die Bereitschaft, dem Schicksal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten: zu sterben oder in irgendeine Kasematte für immer allein eingemauert zu werden. Bereit sein, hart wie ein Stein, zum Stein zu werden. An nichts anderes zu denken. Auch nicht an das Mitgefühl der Kameraden. Überhaupt nichts Weiches aufkommen zu lassen, weder in den Kameraden noch in mir selbst – alles zu ersticken, was rühren und erweichen könnte.

Die furchtbaren Träume, die mich in den ersten Jahren so gequält hatten, kamen wieder, nur in anderer Art: ich sah beständig Aufruhr und Empörung im Gefängnis. Ich sehe deutlich, wie Popow dem Inspektor einen Schlag versetzt. Ein schreckliches Handgemenge mit den Gendarmen, die ihn schlagen; die Szene Myschkins, der Weihnachtstag 1884 ersteht von neuem: es ist 7 Uhr abends. Das Geklirr des fallenden Geschirrs, Lärm, Getrampel und der Schrei: »Schlagt mich nicht, schlagt mich nicht! Tötet mich, aber schlagt mich nicht!«

Oder vor mir steht Lukaschewitsch, der liebe, sanfte Lukaschewitsch von gigantischem Wuchse, und mit den Augen, die reinen, klaren Augen eines Kindes. Er sandte mir einen wunderbar zarten Brief, voll Ergebenheit und rührender Anhänglichkeit. Und nun sehe ich im Traum, wie diese weiche Seele vom Protest erglüht, vom Protest für mich. Rasend stürzt er sich auf seine Gegner; eine Bande Gendarmen werfen ihn zur Erde, treten ihn mit Füßen, diesen schönen, starken Menschen. Ich erwache voll Entsetzen. Es ist mir, als steckte in meiner Kehle eine spitze Nadel. Das Atmen wird schwer, der Halskrampf Sergej Iwanows hat jetzt auch mich erfaßt Und viele, viele Jahre später, wenn ich durch irgend etwas stark erschüttert wurde, stellte sich sofort dieser Halskrampf als Überbleibsel der durchlebten Erschütterung ein.!

Oder mir träumt, daß ich sterbe; die schwere Grabplatte beklemmt meine Brust; die Kälte des Steines erfaßt mich von allen Seiten. Ich fühle deutlich, wie allmählich meine einzelnen Organe absterben und langsam mein Inneres erstarrt. Ich erwache endlich mit einem Schrei, und ein unaufhaltsamer Tränenstrom bricht aus meinen Augen ... So sind sie, diese schweren Tage und qualvollen Nächte; wieder diese qualvollen Nächte.

Am Tage meines ersten Spaziergangs ist Lukaschewitsch im Nebenkäfig. Ich weiß eigentlich nicht, warum, aber eben er ist es, den ich jetzt zum erstenmal wiedersehen will. Er ist allein. Mit zweien zusammentreffen wäre schwerer. Ich kann gar nicht sprechen; die Stimme ist wieder verschwunden, wieder dünn und hoch geworden, gerade so wie in den schwersten Zeiten. Nur schwer lösen sich einzelne Worte von meinen Lippen.

Stumm lasse ich mich auf meinen improvisierten Stuhl am Zaun nieder, und wir schweigen.

Ich hatte die ganze Zeit das Kriegsgericht erwartet und fühlte mich dem Tode von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Ich erwartete ihn fortwährend, bereitete mich auf ihn vor. Denn bereit muß man sein, um im gegebenen Moment nicht zu zucken. Und vier Wochen dieser Todeserwartung konnten nicht anders als verheerend wirken.

Eine eigenartige Freude erfüllte mich; ich war innerlich froh, daß ich in mir die Kraft zu einem energischen Protest gefunden hatte. Mir schien, daß für mich, die zu ewigem Kerker Verurteilte, das beste Ende das Schafott sei. Sterben im Gefängnis ... den Alterstod sterben, wäre das nicht schrecklich?

Wenn man sich auch mit aller Kraft an den Gedanken klammert, daß der schwere Gefängnisaufenthalt derselben Freiheitsidee dient, so ist es doch nur ein passiver, kraftloser Zustand. Welche Unbeweglichkeit, welche Erstarrung! Das Beste im Menschen ist irgendwo in die Tiefe verscheucht, darf sich nicht entfalten; versteckt, erstickt scheint es, als ob es überhaupt schon verschwunden sei. Zweifel an sich und den Kameraden stellen sich ein, und da einem von der Menschheit nur ein kleines Häuflein geblieben, beginnt man, das Hohe, das Schöne, das in der Menschheit ist, zu vergessen, verliert die Empfindung für das Große. Die Begeisterung und Liebe, die durch nichts genährt wird, die keinen Ausweg hat, ist an der Wurzel durchschnitten. Und das Leben, das elende, trübe Leben schleppt sich endlos hin ... bis zum Tod auf der Gefängnispritsche. Nein. Lieber auf dem Schafott! Nicht leidend, sondern handelnd, im Protest für seine Freunde, seine Kameraden ...

Und was nun? Wieder haben sie mir die Möglichkeit, zu sterben, entrissen! Zwangen mich, mich auf den Tod vorzubereiten, quälten, verstümmelten mich und ließen mich dann leben ...

Es war schwer, ins Leben zurückzukehren ... Tage, Wochen gingen hin. Alles schien erledigt zu sein. Die Instruktionen wurden nicht wieder in Kraft gesetzt.

Eines Tages bemerkten wir, daß man im alten Gefängnishof irgendwelche Vorbereitungen traf. Plötzlich kam die Nachricht: Frolenko sah aus dem Fenster, wie man das Schafott herausschleppte. Im Gefängnis entstand große Aufregung. Antonow sagte: »Wir müssen uns von Wera verabschieden.«

Im Dunkel des Gefängnisses nimmt alles gesteigerte, verzerrte Dimensionen an; das Leben ist auch sonst voller Gespenster – bei uns war es ein einziges Gespenst.

Wieder die Ungewißheit. Wieder sind wir die »Blinden« und irren tastend umher; die Augen geschlossen, die Hände vorgestreckt und bei jedem Schritt in Gefahr, in den Abgrund zu stürzen.

Ja, die Gendarmen haben das Schafott aufgestellt, und wir wissen nicht, für wen.

Wenn das Schafott da ist, so wird auch die Hinrichtung kommen. Wen wird man hinrichten? Für wen ist das Schafott?

Die Ungewißheit erreichte ihr Ende in der Morgenröte des 4. Mai.


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