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Im Institut

Ich trat im Jahre 1863 in das Institut ein. Nach den Vorschriften hätte ich mit der untersten Klasse, der VII., anfangen müssen. Ich war damals elf Jahre alt, und meinem Wissen nach konnte ich ruhig in die V. Klasse aufgenommen werden. Mit Rücksicht darauf wurde eine Ausnahme gemacht, und ich kam in die VI., wo ich sofort erste Schülerin wurde. Diesen Platz behielt ich auch in der V. Klasse. Erst in der IV. Klasse verlor ich den Vorrang. Ich hatte mich daran gewöhnt, daß mir alles leicht fiel, und hörte auf zu lernen. Ich kam auf den dritten Platz und im nächsten Jahr sogar auf den vierten. Als ich fünfzehn Jahre alt geworden, da kam mir wieder die Einsicht. Bis zu meiner Entlassung hatte ich noch zwei Jahre. Es galt nun, sich zusammenzunehmen und wieder Erste zu werden. Ich wollte das Institut mit Auszeichnung verlassen; natürlich dachte ich nicht mehr daran, Hofdame zu werden, aber die Lehrer bevorzugten mich, und ich begriff, daß ich den ersten Platz wieder einnehmen müsse.

Der Termin der Beendigung meiner Schulzeit nahte heran, und ich begann darüber nachzudenken, was ich eigentlich nachher anfangen solle. Ich beschloß zu studieren. Aber hier ergab sich eine neue Schwierigkeit. Unsere Klassenlehrerin stellte mir fortwährend schlechte Noten für »Betragen« aus. Es ist allgemein bekannt, daß man im Institut die Schüler vor allem nach dem Betragen einschätzt. Wenn z. B. die Schülerin in den zwei letzten Jahren einen einzigen Tadel erhalten hat, dann geht sie der Auszeichnung verlustig. Ich hatte nun eine solche. Das kam, weil ich mit der Klassenlehrerin beständig kleine Reibereien hatte. Anfangs war ich ihr Liebling; sie bevorzugte mich, was mich sehr unangenehm berührte, da es eine Ungerechtigkeit gegen die anderen bedeutete. Zu Hause, wo die Eltern uns Kinder gleichmäßig behandelten, hatte sich in mir ein Gefühl für Gleichheit und das Bedürfnis danach entwickelt. Wenn ich noch so ausgelassen war, alles wurde damit von ihr entschuldigt, daß ich eben ein sehr lebhaftes Mädchen sei. »Sie ist das reine Quecksilberl« sagte sie dann, und damit war jede Unart erledigt. Ich war aber nicht nur ein mutwilliges Mädchen, sondern liebte es auch, die anderen zu necken und ihre schwachen Seiten zu verspotten. Besonders litt meine nächste Nachbarin unter meiner Spottsucht. Obwohl wir uns befreundet hatten, brachte ich sie oft zu Tränen. Die Klassenlehrerin nun, anstatt mir einen Verweis zu geben, tröstete meine Freundin und sagte: »Figner ist ein gerades und offenes Mädchen, dem man seine Offenheiten nicht übelnehmen darf.«

Doch das gute Verhältnis zur Klassenlehrerin sollte nicht lange dauern. Kleine Schikanen von ihrer Seite setzten ohne allen Grund plötzlich ein. So sagte sie mir einmal ohne irgendwelche tatsächliche Veranlassung: »Die Figner hält es mit allen.« Das empörte mich, und ich antwortete ebenso ungerecht und grundlos: »Sie urteilen wohl nach sich selbst!« Das bedeutete einen vollkommenen Bruch zwischen uns. Sie beklagte sich über mich bei der Vorsteherin, und ich bekam im Beisein aller Schülerinnen von der Vorsteherin einen Verweis für meine Frechheit.

Mein Kampf mit der Klassenlehrerin dauerte fast drei Jahre, bis sie eines Tages mich ganz unerwartet zu sich einlud und sagte: »Ich bin es müde, mit Ihnen um den Einfluß auf die Klasse zu kämpfen. Wollen wir Frieden schließen?« Diese Worte versetzten mich in Staunen, und ich fand keine andere Antwort als folgende: »Ich war mir nicht bewußt, daß zwischen uns ein Kampf vorging und noch dazu um den Einfluß auf die Klasse!« Derartiges sagte mir ein so reifer, kluger Mensch, wie unsere Klassenlehrerin, mit der verglichen ich ein Kind war.

Nach dieser Aussprache zwischen uns strich sie alle ihre früheren tadelnden Bemerkungen über mich, obgleich ich in meinem Benehmen genau dieselbe blieb. Treu meinem Entschluß, begann ich wieder gut zu lernen, nahm wieder den ersten Platz ein und bekam bei der Entlassung die goldene Medaille, von der ich schon in der Kindheit geträumt hatte.

Während der Beratung der Lehrer, wer die Auszeichnung bekommen sollte, hatte die Klassenlehrerin meine Freundin vorgeschlagen, aber die übrigen Lehrer hielten fest zu mir, und sie wurde mir zugesprochen.

 

Was gab mir der sechsjährige Aufenthalt im Institut?

Das enge Zusammenleben mit Kameraden in dem vom äußeren Leben völlig abgeschlossenen Institut entwickelte in uns das Gefühl der Kameradschaft und das Bedürfnis danach. Der regelmäßige Unterricht und die strenge Arbeitseinteilung gewöhnten an Disziplin. Wenn ich bis zum Eintritt in das Institut auch gern gelernt habe, so entwickelte das Institut doch noch die Gewohnheit, geistig zu arbeiten. Aber was die geistige Entwicklung und die wissenschaftliche Ausbildung anbetrifft, gaben diese Lehrjahre mir nicht nur sehr wenig, sondern sie hemmten auch meinen geistigen Fortschritt. Auch die unnatürliche Absonderung vom Leben und von den Menschen hatte ihren großen Nachteil.

Nach dem Unterricht machten wir gewöhnlich unsere Aufgaben. Manche mußten den Vortrag der Lehrer niederschreiben. Wir hatten nämlich gar keine Lehrbücher und lernten auf folgende Weise: der Lehrer sprach über den betreffenden Gegenstand, zwei bis drei der besten Schülerinnen mußten in aller Eile mit allen möglichen Kürzungen das Gehörte aufschreiben. Später verglichen wir das Geschriebene, versuchten das nur Angedeutete zu ergänzen und konnten oft nur mit der größten Anstrengung des Gedächtnisses den allgemeinen Wortlaut zusammenstellen, den dann die übrigen Schülerinnen, jede für sich, in ihr Heft übertragen mußten.

Man kann sich leicht denken, wie überlastet wir durch dieses so vollkommen unnötige Schreiben und Abschreiben waren. Unsere Erholung bestand nur in den kurzen Pausen, wir hatten gar keine Zeit, uns ordentlich auszutoben.

Manchmal tummelten wir uns im Sommer im Institutsgarten, im Laufe des Winters gingen wir vielleicht zweimal aus. Körperliche Übungen hatten wir keine, abgesehen von einer Tanzstunde in der Woche, – wir wuchsen infolgedessen als schwächliche, blutarme Geschöpfe heran.

Die moralische Seite unserer Erziehung wurde noch mehr vernachlässigt. Niemand sprach auch nur ein Wort mit uns über unsere Pflichten gegen uns selbst, gegen die Familie, die Gesellschaft, das Vaterland.

Das Lesen wurde auch nicht gefördert, in all den Jahren war nie davon die Rede. In meiner Klasse haben außer mir etwa noch drei bis vier Mädchen gelesen, die übrigen nahmen nie ein Buch, außer den Schulbüchern, in die Hand.

Abends, wenn die Tagesarbeit vollbracht war, holte ich mir vorsichtig die vor der Klassenlehrerin versteckten Bücher herbei und begann zu lesen. Das genügte mir aber nicht, und ich las auch nachts. Ich war die Einzige im Institut, die das tat. Kerzen durften wir nicht haben, im weiten Schlafraum brannte ein einziges Talglicht, aber in einer Ecke des Raumes, wo die Schülerinnen der drei höheren Klassen schliefen, stand ein Tischchen mit dem Christusbild, und davor brannte ein Lämpchen. Öl für dieses Lämpchen kauften wir selbst von unserem Taschengeld, und wenn es nicht reichte, so ersetzte ich es durch Rizinusöl.

Nachts hatte die böse, sehr böse Marie Grigorjewna die Aufsicht über uns. Sie war klein, mager, alt, trug eine schwarze Haube, ein schwarzes Kleid und hatte schwarze, glühende Augen. Ihre regelmäßigen Züge und diese Augen waren die einzigen Spuren vergangener großer Schönheit. Ob sie tatsächlich sehr fromm war oder nur um Vergebung alter Sünden betete, ich weiß es nicht – jedenfalls betete sie stundenlang in ihrem Zimmer, wo sie auch ihr Bett hatte. Ich nutzte die Frömmigkeit der Alten aus, ging zum kleinen Tisch mit dem Heiligenbild, ließ mich auf die Knie davor nieder und vertiefte mich in meine Lektüre.

Von Zeit zu Zeit unterbrach Marie Grigorjewna ihre Gebete und ging durch alle Schlafsäle. Sobald ich nur ihren Katzenschritt vernahm, fing ich an, mich zu bekreuzigen, und hörte damit nicht auf, solange ich sie hinter mir fühlte. Und sie stand – stand, bis sie es doch satt bekam, mein endloses Sichbekreuzigen mit anzusehen, und sich wieder entfernte. Dann holte ich mein unter dem Tisch verstecktes Buch wieder hervor und las weiter. Ich las damals meist englische Romane, die meine Freundinnen mir von ihren in Kasan wohnenden Verwandten verschafften.

Obgleich im Institut eine Bibliothek bestand, bekamen wir doch nie ein Buch zu sehen. Den Schlüssel zum Bücherschrank hatte der Schulinspektor, der sehr selten unser Institut besuchte. Nur ein einziges Mal gab mir die Klassenlehrerin einen Band von Belinski, den sie der Bibliothek entnahm. Ich war aber durchaus nicht an ernste Lektüre gewöhnt, zudem behandelte dieser Band nur Theaterstücke, und ich war noch nie im Theater gewesen. Was Wunder, daß diese Aufsätze mich nicht interessierten: ich las nur Romane und Novellen, in den ganzen sechs Jahren meines Aufenthaltes im Institut war es das einzige ernste Buch, das in meine Hände geriet.

In diesen Jahren verdanke ich meine geistige Entwicklung nur den Büchern, die ich während der Ferien unter der Leitung der Mutter las. Aber auch zu Hause las ich nur Romane, Novellen, Erzählungen, wenn auch weit bessere als im Institut. Ernstere Aufsätze las ich auch da nicht. So kam es, daß mein Lesen sehr einseitig war – es nahm eben nur das Gefühl in Anspruch. Doch in den letzten Jahren im Institut wurden die großen Mädchen auch in den Ferien nicht mehr nach Hause entlassen; man fürchtete etwaige zersetzende Einflüsse.

Ich war etwa zwölf Jahre alt, als die Mutter mir die Novelle des nun längst in Vergessenheit geratenen Schriftstellers Feoktist Tolstoi »Die Krankheit des Willens« zum Lesen gab. Als ich sie beendet hatte, fragte ich mich erstaunt, warum wohl der Verfasser dem Buche einen so sonderbaren Titel gegeben hatte. Warum er wohl das Streben seines Helden nach Wahrheit, seinen Widerwillen gegen die Lüge, der ihm zu einer Kette von Leiden werden sollte, der ihn zum Bruch mit seinen Freunden, mit dem geliebten Mädchen führte, mit »Krankheit« bezeichnet hatte? Ich war überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte. Wo war da »Krankheit des Willens«? Ich begriff es einfach nicht und ging zur Mutter. Die Mutter erklärte mir, daß man gewiß immer die Wahrheit sagen und es auch von andern fordern müsse; doch gäbe es Ausnahmefälle, wo man das Abweichen von der absoluten Wahrheit nicht mit einer derartigen Strenge beurteilen dürfe, wie es der junge Mann in der Erzählung getan habe. Es heiße, seine Wahrheitsliebe übertreiben, wenn man z. B. seine Beziehungen zu Menschen abbreche, weil sie sich manchmal geringe harmlose Lügen erlauben; man laufe dabei Gefahr, einsam und unglücklich zu werden, wie es der Held Tolstois geworden ist. Nach den Worten der Mutter hatte seine übertriebene Wahrheitsliebe schon die Form einer Krankheit angenommen. Durch diese Erklärung hatte die Mutter in meinen Augen verloren: ich verließ sie unbefriedigt und enttäuscht.

Ein Jahr später erlaubte mir mein Onkel Kuprijanow, zwei dicke Bände einer Zeitschrift, in der die Spielhagenschen Romane abgedruckt waren, nach den Ferien ins Institut mitzunehmen. Unter andern stand darin auch der Roman »In Reih' und Glied«. Dieser Roman machte auf mich einen unauslöschlichen Eindruck. Ich begriff die Charaktere der handelnden Personen und die soziale Seite des Romans sehr gut: die edlen Bestrebungen Sylvias und Leos und die ganze Hohlheit der bürgerlichen Gesellschaft, in der sie vergeblich eine Stütze suchten. Kein einziger Roman hat meinen Gesichtskreis so geweitet, wie dieser. Er stellt zwei Lager scharf und bestimmt einander gegenüber, in dem einen sah ich hohe Ziele, Kämpfe und Leiden –, im anderen nur satte Selbstzufriedenheit, Leere und Flittergold. Als ich nach vielen, vielen Jahren dasselbe Buch noch einmal las, kam ich genau zu demselben Resultat wie mit dreizehn Jahren.

Die Persönlichkeit eines jeden Menschen gestaltet sich gewöhnlich unter dem Einfluß kaum bewußter Eindrücke, die das Leben, die Menschen und Bücher nach und nach hinterlassen. Aber manchmal geschieht es, daß eines dieser Elemente das Fundament zu der sich entwickelnden Persönlichkeit legt.

In meiner Entwicklung hat ein solches Fundament Nekrassows Werk »Sascha« gelegt, das uns unser Lehrer zur Analyse übergab.

Der Inhalt dieser Dichtung ist bekannt. Der kluge, gebildete und welterfahrene Agarin gerät aus der Hauptstadt in ein entlegenes Dorf. Dort, in der einfachen, patriarchalischen Familie seines Gutsnachbars lernt er ein junges Mädchen kennen, das von keinerlei geistigen Ideen berührt ist. Er beginnt, sie geistig zu entwickeln; spricht viel und schön von den sozialen Pflichten, von der Arbeit zum Wohle des Volkes. Unter dem Einfluß dieser Predigten erwachsen in Sascha ideale Bestrebungen und Bedürfnisse. Als sie aber nach einem Jahr ihrem Lehrer wieder begegnet, ist sie von ihm furchtbar enttäuscht. Sascha ist mittlerweile geistig und moralisch gereift, und sie sieht das wahre Antlitz Agarins als das eines hohlen Schwätzers, der sich darauf beschränkt, mit schönen Worten um sich zu werfen, und außerstande ist, im wirklichen Leben etwas zu leisten. Sascha überzeugt sich, daß bei diesem Helden die Worte mit den Taten nicht im Einklang stehen. Enttäuscht wendet sie sich von dem Menschen ab, der ihren Geist geweckt hat und ihr Ideal gewesen war.

Dieser Roman beschäftigte mich lebhaft, und ich grübelte lange über ihn nach.

Er lehrte, wie man leben und wonach man streben müsse, er lehrte, keine Phrasen machen, sondern seinen Prinzipien getreu leben.

Dieses von mir selbst ebenso wie von anderen fordern – das wurde zur Losung meines Lebens.


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