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Das Problem der Machtergreifung

Der politische Teil des Programms, der von der Niederwerfung der absolutistischen und der Aufrichtung der Volksherrschaft handelte, führte uns zur Frage der Staatsumwälzung und der Bildung einer provisorischen Regierung. Zwar sprach unser Programm nicht von der Machtergreifung durch die Partei, sondern von einer provisorischen Regierung als Interim zwischen dem Sturz des Zarismus und seiner Ablösung durch die Volksvertretung; ohne solche Zwischenregierung sei keine revolutionäre Umgestaltung der Staatsmacht möglich. Erst später, in dem Dokument »Die Vorbereitungsarbeit der Partei«, wird die Machtergreifung als Ziel der Partei erwähnt. Diese Formel, die – ich glaube – von Scheljabow herrührt, rief scharfe Kritik hervor. Wir lehnten sie als jakobinisch ab, denn sie dekretiere revolutionäre, sozialistische und politische Umgestaltungen und zwinge so den Willen einer Minderheit der Mehrheit auf.

Die ganze Frage der »provisorischen Regierung« war bei dem vorhandenen Bestande unserer Partei eine akademische Frage, die aufgeworfen wurde, um das Programm harmonischer und systematischer aufzubauen, jedoch ohne den Gedanken daran, daß wir jene Regierung noch selbst erblicken oder gar in sie eintreten würden. Im Gegenteil: Wir Revolutionäre würden aller Wahrscheinlichkeit nach mit unseren Händen die Kastanien aus dem Feuer holen für die Liberalen: die Advokaten, Professoren und Schriftsteller und die sonstigen in Stadt und Land öffentlich Tätigen, wie das auch in Frankreich im 19. Jahrhundert gewesen war.

Doch es hieß, auch das in Kauf nehmen, – nur um den Zarismus zu stürzen, der alle Volkskräfte erstickte, das Volk zu Elend, Unwissenheit und Entartung verdammte. Wie fern uns jegliches Jakobinertum lag, zeigt uns das Schreiben des »Vollzugskomitees« an Alexander III. nach den Ereignissen des 1. März 1881; indem es die Forderung der Einberufung der Konstituierenden Versammlung aufstellte, versprach das Vollzugskomitee gleichzeitig, daß es sich dem Volkswillen, wie er in den Entscheidungen der Volksvertreter zum Ausdruck kommen würde, fügen werde.

Der Sinn dieses Versprechens war: falls die Volksvertretung die Hoffnungen der revolutionären Partei nicht erfüllen sollte, würde sie nicht zur Gewaltanwendung, zum Terror gegen die Volksvertretung greifen, sondern zur Propaganda ihrer Ideen unterm Volke, das sich nicht auf der Höhe seiner Aufgabe gezeigt hatte.

Indessen gab es in den Reihen unserer Partei verschiedene, einander entgegengesetzte Elemente. Da war vor allem die Genossin Oschanina. Sie stammte aus einer reichen Großgrundbesitzerfamilie des Gouvernements Orel und hatte ihre revolutionäre »Taufe« in ihrer Heimat erhalten, von einem alten Revolutionär, dem Jakobiner Saitschnewski, der in den sechziger Jahren Zwangsarbeit durchgemacht und seitdem in Orel unter Polizeiaufsicht gestanden hatte. Während einer ganzen Reihe von Jahren zog er wie ein Magnet die studierende Jugend, darunter auch Oschanina, an. Sie war eine Frau von scharfem Verstand, gewandt, hartnäckig und energisch, und das verlieh ihr Einfluß sowohl unter uns wie unter Fremden. Aber ihr Tätigkeitsfeld war nicht Petersburg, sondern Moskau, wo sie sich seit den Anfängen des »Volks-Willens« aufhielt. Ihre jakobinischen Anschauungen hätten sich, wenn überhaupt, in Moskau durchsetzen müssen. Allein an der revolutionären Jugend, in der sie zusammen mit Telalow wirkte, war der Einfluß ihrer Anschauungen in keiner Weise zu spüren. Ebensowenig ist es ihr zuzuschreiben, daß das Prinzip der »Machtergreifung« in einigen Schriften des »Volks-Willens« erwähnt wurde.

Der Historiker könnte nun denken, der jakobinische Einfluß sei etwa vom Ausland her gekommen. Dort erschien ein Organ dieser Richtung, der »Nabat« (Alarm). Diese Zeitschrift schrieb es ihrem Einfluß zu, als die Revolutionsbewegung in Rußland einen Kampfcharakter annahm und den Absolutismus zu attackieren begann. Mit Unrecht! Der »Nabat« hatte fast keine Verbreitung in Rußland; während der ganzen Zeit nach meiner Rückkehr aus Zürich bis zu meiner Verhaftung 1883 habe ich nicht ein einziges Exemplar dieser Zeitschrift zu Gesicht bekommen oder auch nur in einer der größeren Städte Rußlands jemand über das Blatt sprechen hören. Es gab wohl Einzelpersonen jakobinischer Richtung, wie den schon genannten Saitschnewski in Orel oder die ehemalige Züricher Studentin Jushakowa in Odessa; es hatte freilich den Prozeß der Jakobiner in Kursk gegeben, wo Lavrenius und seine Genossen abgeurteilt worden waren. Aber außer ihren Namen wurden weder sie selbst noch etwas über ihre Tätigkeit bekannt.

Wenn unter den Gründern des »Volks-Willens« sich die Jakobinerin Oschanina befand, so war einer unserer liebsten Genossen, Sundelewitsch, ein ehemaliges Mitglied der Organisation Tschaikowskis, späterhin ein »Landfreiheitler«, der erklärte, er sei Sozialdemokrat. Er hatte in Deutschland die sozialdemokratische Doktrin kennengelernt und tief in sich aufgenommen, war Sozialdemokrat im Geiste der Mitglieder der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei geworden. Klug, lebhaft, sehr tätig, der erste, wenn es galt, technische Mittel aller Art für den Gebrauch der Partei zu ergattern, konnte Sundelewitsch unter dem Zwang der Verhältnisse des russischen Lebens nicht umhin, einzusehen, daß das durch und durch bäuerliche Rußland jener Zeit nicht die Elemente besaß zur Schaffung einer proletarischen Arbeiterpartei, wie sie im industriellen Deutschland bestand. Konnte man aber deshalb abseits der Bewegung bleiben, wenn man vor sich das Übel des Zarismus sah, und wenn eine Gruppe da war, die diesem Erzfeind des russischen Volkes erbarmungslosen Krieg erklärt hatte? So trat er trotz seiner sozialdemokratischen Anschauungen in die Reihen des »Volks-Willens«, um unter russischen Verhältnissen Hand in Hand mit jenen zu kämpfen, die das russische Leben auf den Kampfposten gestellt hatte, und mit den Waffen, wie die russischen Verhältnisse sie erforderten.

Aus ein und demselben Grunde verschmolzen sowohl Sundelewitsch wie Oschanina völlig mit den übrigen Volksfreiheitlern und waren sehr aktive Mitglieder, ohne im geringsten Unstimmigkeiten noch irgendeine persönliche, ihrer Auffassung eigentümliche Note in die allgemeine Richtung unserer Parteitätigkeit hineinzutragen. Das, was uns gemeinsam war und alle ohne Unterschied ergriff, das war der tätige Geist, das Streben nach aktivem Kampf und das Gefühl der Empörung gegenüber dem passiven Zustand, in dem das Volk verharrte und mit ihm die »Gesellschaft« und die bis dahin noch friedlichen Sozialisten.


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