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Die Werkstätten und die Gärten

Im Jahre 1893-94, als so viele Werkstätten eröffnet waren, daß jeder die Möglichkeit hatte, täglich zu arbeiten, spielte die physische Arbeit eine wichtige Rolle in unserem Leben. Jetzt kamen uns die Behörden in dieser Hinsicht entgegen. Es wurde eine bedeutende Summe zur Anschaffung von verschiedenartigstem Material ausgeworfen, und wir bestellten alles Nötige. Manche machten nur elegante Möbel, andere einfache Sachen, manche spezialisierten sich. Man arbeitete auf Bestellung des Kommandanten, der verschiedenen Angestellten oder zum eigenen Gebrauch.

Unsere Schöpfungen zeichneten sich durch ihre Schönheit und Eleganz aus, obgleich außer den drei Arbeitern (Pankratow, Martynow und Antonow) niemand von uns früher je ein Werkzeug in der Hand gehabt hatte. Wir probierten verschiedene Methoden aus, machten kleine Erfindungen, ja schufen oft echte Meisterwerke, die uns ein großes ästhetisches Vergnügen verschafften. Besonders schöne Sachen wurden im Korridor zur Besichtigung ausgestellt; so ein Büfett mit Schnitzereien, an dem Antonow ein halbes Jahr gearbeitet hatte und wofür er 25 Rubel bekam, die er unter alle verteilte.

Jahrelang drang Antonow auf die Errichtung einer Schmiede, um Schlosserarbeiten ausführen zu können. Endlich im Jahre 1900 wurde das »allerhöchst« gestattet. Die Kameraden errichteten selbst das dazu nötige Gebäude auf dem großen Hof der Zitadelle, durch den einst ich und die anderen in den Karzer gingen ... Jetzt, seit dem Jahre 1893, arbeiteten in diesem Gebäude in zehn Zellen 15 bis 20 Menschen, die zuletzt während der Arbeit fast nicht mehr eingeschlossen wurden. Der große, früher so öde und unheimliche Korridor war jetzt angefüllt mit Brettern für die Tischlerarbeiten.

In der Schlosserei ging die Arbeit flott vorwärts, und die Kameraden verfertigten Rasiermesser, Tischlerwerkzeug, Zuckerscheren, elegante kleine Sächelchen. Antonow behauptete, er sei imstande, sogar den Mechanismus für ein Motorboot und mir ein Klavier zu bauen.

Die Gärtnerei pflegten wir besonders. Wir ließen uns Samen der verschiedenartigsten Gemüsearten und Blumen kommen. Wir zogen gegen 450 Blumenarten. Besonders tat sich darin Lukaschewitsch hervor, der schon seit der Kindheit ein großer Blumenkenner und Liebhaber der Botanik war. Wir veranstalteten sogar einmal eine Gemüseausstellung in einem der Gärten. Auf einem breiten, mit Tüchern dekorierten Gestell lagen Lukaschewitschs riesenhafter Kürbis, die gigantischen Zwiebeln Antonows, meine Erdbeeren, die Rosen Wasili Iwanows, die Tomaten Popows u. a. Die Besucher waren die Gefangenen, der Kommandant und der Arzt. Lukaschewitsch gelang es, für diejenigen, die unter dem Mangel an Tabak litten, unter dem lateinischen Namen Nicotiana eine vorzügliche Tabaksorte einzuschmuggeln. Als die Pflanzen ausgewachsen waren, sammelten wir die Blätter und bereiteten Tabak, der anfangs heimlich, später offen geraucht wurde. Der Mangel an Streichhölzern veranlaßte uns, in bezug auf Erzeugung von Feuer alle Stadien durchzumachen, die die Menschheit einst durchwanderte. Die Gefängnisverwaltung zog es vor, die Sache zu legalisieren; 1896 während der Inspektion durch den Innenminister Goremykin trat unser Arzt für die Genehmigung des Rauchens als Vorbeugungsmittel gegen Skorbut ein. In der Tat wurde der Tabak daraufhin zugelassen.

Allmählich gelang es uns sogar, die für unseren Gemüsebau eingeräumte Fläche zu erweitern. Wir bekamen zu diesem Zweck von Hangart den großen Hof der alten Zitadelle mit jener schönen Wiese, die mich einst so entzückt hatte. Jetzt war der Platz, auf dem einst so viele Revolutionäre hingerichtet worden waren, mit großen Anlagen von Tabak, Tomaten, Gurken, Melonen usw. umgeben. Frolenko pflanzte Obstbäume und Beerensträucher. Als er Geld brauchte, um die notwendigen Ableger zu erhalten, bat er unsere Gemeinde um die Genehmigung, eine Bestellung privat übernehmen zu dürfen, um sich das notwendige Geld (10 Rubel) beschaffen zu können. Da wurde die »prinzipielle Frage« aufgerollt; ob das dem Geist des Kollektivismus nicht widerspreche. Nach längerem Für und Wider wurde bestimmt, daß Frolenko zwar eine Bestellung privat nicht übernehmen dürfe, das nötige Geld aber, wenn nötig auch mehr als die von ihm geforderten 10 Rubel, dem allgemeinen Fonds entnehmen könne.

Dank den Werkstätten und der Gärtnerei verwandelte sich das Gefängnis allmählich in eine geschlossene Arbeitskommune. Die Arbeit ging hier so rege vonstatten, daß man unwillkürlich an einen Ameisenbau dachte. Die Mehrheit von uns hatte es satt, ziel- und systemlos zu lernen, sie hatte es satt, da sie keine Hoffnung hatte, die erworbenen Kenntnisse praktisch anzuwenden. Wir waren auch müde, immer an dasselbe zu denken, immer dieselben Schmerzen zu empfinden. Da wir keine Möglichkeit hatten, uns einer sozialen Tätigkeit zu widmen, fanden wir in der physischen Arbeit um so leichter eine Ablenkung, eine Möglichkeit, unsere Energie zu entladen, ein Gebiet, auf dem wir unsere Kräfte verwerten konnten. Wir stellten uns Ziele, wie z. B. die Verwandlung eines unfruchtbaren, steinigen Bodens in weichen, fruchtbaren, auf dem ein schöner Garten angelegt werden konnte. Manche Kameraden leisteten auf diesem Gebiet direkt Wunder ... Herrliche Rosen aller Art im Garten W. Iwanows; eine schöne Fontäne, deren Becken von Wasserpflanzen umgeben war: das Werk Lukaschewitschs und Noworusskis. Eine ähnliche Fontäne machte Noworusski in meinem Garten, wobei er noch die Wände meines Käfigs mit schönen grünen Schlingpflanzen bepflanzte, die im Frühjahr weiß blühten.

Dieser grüne, lebendige Zaun, hinter dem die Gefängnismauer vollständig versteckt war, und die leise rieselnde Fontäne verwandelten jenen Raum, wo ich einst spazieren gegangen, jenen toten Raum, bis zur Unkenntlichkeit.

Aber meine Gefängnisgenossen waren mit diesen Errungenschaften noch nicht zufrieden. Sie konnten nicht gleichgültig ein Stückchen unbearbeiteten Bodens sehen, ohne sofort an seine Eroberung zu denken. So bekamen sie im Jahre 1898 oder 1899 nach lang andauernden Unterhandlungen mit der Verwaltung die Genehmigung, auch den Hof hinter dem alten Gefängnis, auf dem nur Gras und Brennesseln wuchsen, und der mit Spänen von unserer Tischlerarbeit vollgeschüttet war, zur Gartenarbeit auszunutzen.

Es war eine ungeheure Arbeit, dieses Grundstück zu reinigen, umzugraben, die Steine zu beseitigen und an Stelle der Kieselsteine und allerlei Schuttes gute, fruchtbare Erde zu legen. Die Arbeit wurde gemacht, ohne daß ich den Arbeitsplatz besuchen durfte, denn die Kameraden wollten mir eine Überraschung bereiten. Als sie fertig war, riefen sie mich herbei. Ich kam, und das Gefühl, das mich ergriff, war so heftig, daß ein Tränenstrom unaufhaltsam aus meinen Augen brach. Vor mir lag ein echter, schöner Garten mit Sträuchern und Beeten. Allerlei Blumen, Flieder, Jasmin und eine wunderbare alte Eberesche hoben sich von der Umgebung ab. Ja, das alles war wie ein echter Garten, von dem anliegenden Grundstück durch ein selbstgemachtes, primitives Drahtnetz abgegrenzt.

Ich stand im weichen Zwielicht des sich neigenden Tages, im Duft des Flieders. Es war so schön und so einsam. Vor mir der Garten, Blumen, Drahtzaun – und ringsum hohe Gefängnismauern.

Die Woge eines unbestimmbaren Gefühls erfüllte meine Brust und entriß mir Tränen.

Woher diese Tränen? Warum weinte ich? Ich sah keinen Grund zur Trauer.

Als ich ›nach Hause‹ kam (so nannte ich meine Zelle) und ruhig wurde, begriff ich: dieser Garten, der durch die Mühe meiner Kameraden innerhalb der Festungsmauern entstanden war, mit seinen Sträuchern und Blumen, dem Zaun, den die Gefangenen so primitiv als »Spinngewebe« geflochten hatten – alles dies erinnerte mich an andere Gärten, andere Umzäunungen. In die Gefangenschaft mitgenommene Bilder erhoben sich aus den dunklen Tiefen des Gedächtnisses, wo sie vom Willen mit Gewalt zurückgedrängt worden waren. Diese Bilder waren begraben gewesen, tief im Gedächtnis versunken; – nun stiegen sie zur Oberfläche und protestierten mit Tränen dagegen, daß man sie für verstorben gehalten hatte.


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