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Die ersten Jahre

Man hatte uns alles geraubt; die Heimat und die Menschheit, Freunde, Kameraden und die Familie, man hatte uns abgeschnitten von allem Lebendigen.

Selbst das Tageslicht wurde uns durch die matten Doppelfenster geraubt. Die Festungsmauern verdeckten den weiten Horizont, die grünen Wiesen, und vom weiten Himmel war nur ein kleiner Streifen vom Hof aus sichtbar.

Von allen Menschen waren uns nur Gendarmen geblieben, die uns gegenüber taub wie Standbilder waren, mit regungslosen Gesichtern.

Das Leben ging hin ohne Eindrücke; Tage, Monate, Wochen unterschieden sich in nichts voneinander.

Manchmal schien es mir, daß es nichts in der Welt gäbe außer mir und der Zeit, die sich dahinschleppt in ihrer Endlosigkeit.

Es war keine Uhr da; es gab nur alle zwei Stunden die Ablösung der äußeren Wache; ihre schweren, regelmäßigen Schritte hallten dumpf im leeren Gefängnishofe wider ...

Die Zelle, die anfangs weiß gestrichen gewesen war, verwandelte sich in einen düsteren Kasten; der Asphalt-Fußboden wurde mit schwarzer Ölfarbe gestrichen, die Wände oben grau, unten bleifarben, fast schwarz. Niemand konnte sich beim Anblick dieser Zelle des Gedankens erwehren: das ist ein Sarg.

Übrigens sah das ganze Innere des Gefängnisses wie ein Grabgewölbe aus. Ab ich eines Tages zur Strafe in den Karzer geführt wurde, sah ich es bei nächtlicher Beleuchtung. Gleich Lichtern in Friedhofskapellen brannten vierzig Lampen neben vierzig fest verschlossenen Türen, hinter denen vierzig Gefangene, lebendig begraben, ihrem Ende entgegensahen.

Von allen Seiten umgaben uns Geheimnisse und Ungewißheit: wir durften niemand von den unsrigen sehen, noch mit Verwandten im Briefwechsel stehen. Kein Lebenszeichen durfte von ihnen zu uns, noch von uns zu ihnen dringen. Wir durften von niemand und von nichts wissen, niemand sollte wissen, wo wir uns befanden ...

»Sie werden von Ihrer Tochter erst wieder etwas hören, wenn sie im Grab liegen wird,« hatte der stellvertretende Minister des Inneren, Orschewski, zu meiner Mutter gesagt.

Selbst unsere Namen wurden der Vergessenheit übergeben; statt ihrer wurden wir mit Nummern bezeichnet, wir wurden staatliche Gegenstände ...

Wir kannten auch nicht die Gegend, die uns umgab, – wir sahen sie nie. Wußten auch nicht, welche Gefangenen sich hier befanden.

Alles, was lieb und nah gewesen war, verschwand.

Es blieb nur das Unbekannte, Fremde, Unbegreifliche.

Alles beherrschte die Stille. Nicht die Stille, in der die Nerven sich erholen, – jene unheimliche Stille, die den Menschen ergreift, wenn er lange mit einem Toten allein bleibt.

Der Mensch horcht auf, lauscht, bereitet sich auf etwas vor und wartet ...

Diese Stille kann doch unmöglich ewig dauern?

Sie muß doch mit irgend etwas ein Ende nehmen! Das Vorgefühl von etwas Drohendem nagt an der Seele. Es muß doch irgend etwas geschehen – unwiderruflich geschehen ... Es muß schrecklich werden, – viel, viel schrecklicher als alles bisher Erlebte ...

So vergingen Tage und Nächte und wieder Tage und Nächte, die einander vollkommen glichen. So vergingen Monate, so verging das ganze erste Jahr ...

 

Ich war in diesen Jahren sehr niedergedrückt. Doch wen hätte Schlüsselburg nicht niedergedrückt? Und woran hätten wir Narodowolzy uns in Schlüsselburg aufrichten sollen?

Die revolutionäre Bewegung war zerschmettert, die Organisation zerstört, das Vollzugskomitee bis auf den letzten Mann zugrundegegangen.

Enger zog sich die Schlinge der Selbstherrschaft zusammen, und als wir aus dem Leben ausschieden, hinterließen wir keine Erben, die den begonnenen Kampf hätten fortsetzen können.

Der verdüsterten Seele drohte der Zusammenbruch.

Aber eine innere Stimme erhob sich und rief warnend: »Halt ein!« Es war nicht Todesangst, die so sprach. Der Tod war erwünscht, er verschmolz mit der Idee des Martyriums, mit dem Begriff der Heiligkeit, der sich in der Kindheit durch die Traditionen des Christentums gebildet und sich später durch die ganze Geschichte der Kämpfe für die Rechte der Unterdrückten vertieft hatte.

Die Angst vor dem Wahnsinn, dieser geistigen und körperlichen Erniedrigung des Menschen, hielt mich zurück.

Aber zurückhalten, das bedeutete: zum Normalen streben, zur seelischen Gesundung.

Und dabei halfen die Freunde.

Die stummen Wände Schlüsselburgs begannen ihre Sprache zu sprechen, Verbindungen mit den Kameraden wurden hergestellt.

Das gab Wärme, Liebe, und die eisige Rinde Schlüsselburgs schmolz.

Auch andere Einflüsse setzten ein; strenge Worte, harte Lehren. Einmal fragte mich mein Nachbar, ein mir unbekannter Mensch, was ich tue?

»Ich denke an die Mutter, und – weine,« erwiderte ich.

Mein Nachbar fuhr mich an. Er fragte mich, ob ich die Erinnerungen Simon Mayers, des Kommunarden, gelesen habe. Ob ich mich der Szene auf dem Schiff erinnere, wo man während des Sturmes den Kommunarden die Köpfe zu rasieren beginnt?

Er stellte mir als Beispiel diesen Simon Mayer hin. Er belehrte mich! Das entriß mich meinem Zustande. Simon Mayers Erinnerungen hatte ich gelesen. Der Szene auf dem Schiff und noch vieler anderer erinnerte ich mich sehr gut. »Wozu diese Predigt?« dachte ich, »ich bedarf ihrer nicht.«

Aber gerade dieser Belehrung bedurfte ich.

Wenn mein Nachbar mir Mitgefühl gezeigt hätte, mich freundlich getröstet haben würde, so hätte es sicherlich nicht geholfen: seine Worte hätten meiner Stimmung entsprochen.

Aber er tadelte mich offen; er belehrte mich, er kränkte mich. Und diese Kränkung wurde meine Rettung. Sie stand im Widerspruch zu meinem seelischen Zustand, sie war unvereinbar mit ihm. In der Einsamkeit nimmt jede Kleinigkeit ungeheure Dimensionen an; sie durchdringt das Bewußtsein; sie bohrt darin herum. So war es auch jetzt. Ich konnte die Gedanken an die Worte des Nachbars nicht mehr loswerden. Die Wand, die uns trennte, erinnerte ununterbrochen an unser Gespräch, und jedesmal weckte die Erinnerung daran ein Gefühl der Kränkung und Gereiztheit.

Mein Gram, meine Schwermut erlitt eine Störung, und das war gut und heilsam.

Es gab noch etwas Anderes, unvergleichlich Größeres:

Das Gericht war der letzte abschließende Akt des revolutionären Dramas, an dem ich teilgenommen hatte. Meine soziale Tätigkeit war damit abgeschlossen. Daß wir, die Narodowolzy, den »Volkswillen«, in den Annalen der Geschichte verzeichnet hatten, daß Schlüsselburg auf die zeitgenössischen Geister einen großen Einfluß ausüben würde, und daß diese russische Bastille auch uns mit ihrem Ruhme bestrahlen würde, daran dachte niemand von uns: wir waren viel zu bescheiden dazu.

Und da, im fünften Jahr meiner Einkerkerung, es war nach unserm allgemeinen Hungerstreik, der mit einem Mißerfolg endete, als ich dem Tode näher war als je und sterben wollte, aber gegen meinen Willen gezwungen wurde, zu leben; als in meiner Seele Enttäuschung und Verzweiflung herrschten, und meine Nerven endgültig erschüttert waren, damals hörte ich den Begabtesten unter uns über mich sprechen.

Er sagte: »Wera gehört nicht nur ihren Freunden, sie gehört Rußland ...«

Diese Worte hoben mich auf eine nie geahnte Höhe, – eine Höhe, die mich ängstigte. Sie drückte, diese Höhe; sie legte Verpflichtungen auf, die über meine Kräfte gingen.

Diese Worte zeigten eine Aufgabe: danach streben, ihrer würdig zu sein, die Aufgabe, an sich zu arbeiten, mit sich zu kämpfen und sich zu überwinden.

Kämpfen, sich überwinden! Sich besiegen! Krankheit, Wahnsinn und Tod besiegen ...

Aber wie kämpfen? Wie sich überwinden?

Sich überwinden – hieß die Dunkelheit zerreißen, die auf der Seele lastet, hinwegschieben alles, was die Augen verdunkelt. Hinwegschieben hieß – vergessen ... Und ich suchte zu vergessen, die Erinnerungen wegzustoßen.

Zehn Jahre stieß ich sie weg – zehn Jahre lang suchte ich zu vergessen. Die Liebe zur Mutter, die Sehnsucht nach der Heimat, nach der Tätigkeit und der Freiheit lagen ein Jahrzehnt lang im Sterben ...

Es starb der Schmerz ab – mit ihm die Liebe. Der Schnee fiel – ein weißes Gewand überzog die Vergangenheit.

Und ich? Ich blieb am Leben und war gesund.


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