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Wera Figner, Sommer 1880

Erster Teil
Freiheit oder Tod

Zu Hause

Ich bin am 24. Juni 1852 im Kasaner Gouvernement geboren. Mein Vater entstammte dem dortigen Adel. Meine Mutter war die Tochter des Bezirksrichters Kuprijanow, der es verstanden hatte, zu seinen Lebzeiten sein ganzes großes Vermögen zu verschwenden. Obgleich er über 6000 Desjatinen Land besaß, waren nach seinem Tode seine Vermögensverhältnisse in einer derartigen Verwirrung, daß seine Erben es vorzogen, auf die Erbschaft ganz zu verzichten, denn die Schulden, die er hinterließ, waren so groß, daß man sie nicht einmal annähernd feststellen konnte.

Mein Vater, Nikolai Alexandrowitsch Figner, war in der Forstschule erzogen und diente nach Beendigung seines Studiums als Förster. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft quittierte er den Dienst und wurde Friedensrichter.

Wir waren sechs Kinder im Hause; zwei weitere Geschwister waren früh verstorben. Meine Eltern waren sehr energische, tüchtige und arbeitsfreudige Menschen. Wir verdanken ihnen in dieser Beziehung eine gute Erbschaft. Ich – die Älteste – beteiligte mich an der revolutionären Bewegung während einer ihrer berühmtesten Perioden. Ich wurde zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslänglicher Gefangenschaft in der Schlüsselburg begnadigt. Meine Schwester Lydia war Mitglied der revolutionären Organisation, die die sozialistische Propaganda unter den Fabrikarbeitern betrieb, und wurde dann später gemeinsam mit Bardina und Peter Alexejewitsch in den Prozeß der »Fünfzig« verwickelt. Es ist dies der bekannte Prozeß, der seinerzeit einen so tiefen Eindruck auf die Jugend und den liberalen Teil der russischen Gesellschaft gemacht hat. Das Urteil lautete auf Zwangsarbeit, die der Senat dann in Ansiedlung in Sibirien unter Verlust aller Bürger- und Vermögensrechte verwandelte. Mein Bruder Peter war Bergwerksingenieur im Ural und stand an der Spitze eines der größten Berg- und Hüttenwerke des Urals. Mein Bruder Nikolai hatte eine glänzende künstlerische Laufbahn; er wurde ein berühmter Sänger und war der erste, der in Rußland die Kunst des Sängers mit der des Schauspielers verband. Meine Schwester Eugenie wurde angeklagt wegen Teilnahme an der Verschwörung im Prozeß Kwatkowski – es handelte sich um das Attentat auf den Winterpalast im Jahre 1880. Auch sie wurde zum Verluste aller Rechte und Verbannung nach Sibirien verurteilt. Meine jüngste Schwester Olga, ein sehr begabter und energischer Mensch, nahm wenig Anteil an der revolutionären Bewegung; sie heiratete den Arzt Florowski, dem sie nach Sibirien in die Verbannung folgte, und hat sich dort gemeinsam mit ihm viel der Kultur- und Aufklärungsarbeit gewidmet.

 

Wir wurden äußerst streng erzogen; der Vater war heftig, streng und despotisch, die Mutter gut, sanft, aber machtlos. Sie wagte es nie, uns zu liebkosen, geschweige denn, uns je vor dem Vater in Schutz zu nehmen. Meines Vaters Richtschnur in der Erziehung war: eiserne Disziplin und absolute Unterwerfung. Woher er den militärischen Geist hatte, weiß ich wahrhaftig nicht. Es war vielleicht der damals alles beherrschende Geist Nikolaus I., der seiner Erziehung und seiner Persönlichkeit das Gepräge aufgedrückt hatte. Wir Kinder aber mußten sehr darunter leiden. Pünktlich zur Minute mußten wir aufstehen und ebenso zur Minute schlafen gehen. Immer dieselbe Kleidung, dieselbe Frisur ... nach jeder Mahlzeit sich bekreuzigen und den Eltern danken; bei Tisch durfte kein Wort gesprochen werden; widerspruchslos mußte alles gegessen werden, gleichgültig, ob es zu viel oder zu wenig war. Wir sollten lernen, nicht wählerisch zu sein. Tee bekamen wir nie, wir mußten immer Milch trinken und schwarzes Brot essen. Wir sollten unseren Magen nicht verwöhnen. Ebenso mußten wir ohne ein Wort der Klage Kälte ertragen. Nichts durften wir ohne Erlaubnis anrühren, besonders ja nicht Vaters Sachen; wenn das Unglück geschah, daß man etwas zerschlug oder auch nur an den unrichtigen Platz stellte, dann erstreckte sich der väterliche Zorn über das ganze Haus. Und dann setzte die Strafe ein: man mußte im Winkel stehen, wurde an den Ohren gezogen oder bekam Schläge mit dem Lederriemen, der immer dazu in Vaters Arbeitszimmer hing. Er strafte grausam, unbarmherzig. Wenn die Brüder gezüchtigt wurden, dann litten wir alle mit. Auch nicht die geringste Kleinigkeit blieb ungestraft. Wir durften nichts vor dem Vater verheimlichen – unerbittlich forderte er die strengste Wahrheit von uns, und die Mutter ging mit ihrem Beispiel darin voran. Wenn auch blutenden Herzens, da sie die Folgen kannte, so verheimlichte sie doch nie auch nur das geringste Vergehen vor dem Vater. Und diese Strenge erstreckte sich sogar auf Unvorsichtigkeiten im Spiel. Wenn wir uns irgendwie weh getan hatten, so kam noch zu dem natürlichen Schmerz die moralische und physische Mißhandlung des Vaters hinzu. Uns Mädchen schlug er nicht mehr, seitdem er mich einmal als sechsjähriges Kind während einer stürmischen Überfahrt über die Wolga fast zum Krüppel geschlagen hatte. Aber wenn er uns auch seitdem nicht mehr schlug, so fühlten wir uns doch nicht erleichtert: wir fürchteten ihn mehr als das Feuer; sein kalter, durchdringender Blick genügte, um uns das Blut in den Adern gerinnen zu lassen.

Und mitten in dieser tödlichen, seelenlosen Kasernenatmosphäre war ein einziger heller Punkt: unser Trost und unsere Freude, unsere alte Wärterin. Rings um uns hatte niemand das geringste Verständnis für den kindlichen Charakter, die kindlichen Bedürfnisse. Keinerlei Nachsicht Kinderschwächen gegenüber, nichts als Unbarmherzigkeit und Härte. Nur im Zimmer der Wärterin, wohin der Vater nie kam, nur mit ihr allein fühlten wir uns wir selbst; wir fühlten uns als Menschen, Kinder und Herren, vor allem aber als geliebte und verwöhnte Kinder. Dieses Zimmer war für uns gewissermaßen ein Heiligtum, wo der Gekränkte und Erniedrigte sich wieder aufrichten konnte. Hier konnte man all sein Kinderleid enthüllen und Zärtlichkeit und Mitgefühl finden. Wie gut tat es, sich auf dem Schoße der Wärterin zu verbergen, sein Leid auszuweinen und die Tränen von ihren Küssen trocknen zu lassen! Die gütige, treue Seele! Wie einsam hätten wir ohne sie gelebt! Hier war eine Welt voll Wärme und Zärtlichkeit, ungehemmten Frohsinns, Liebe und Ergebenheit.

 

Allgemein fand man mich als Kind schön. Die Eltern behandelten uns Kinder gleichmäßig und machten keinerlei Unterschied zwischen uns. Im Gegensatz zu ihnen überschütteten mich die Freunde und Bekannten, die unser Haus besuchten, mit Liebkosungen und kleinen Geschenken und freuten sich an meinem Geplauder. Dieser stete Umgang mit Erwachsenen trug viel zu meiner frühen Entwicklung bei und veranlaßte mich, frühzeitig über mich selbst und über die Beziehungen der Menschen zu mir nachzudenken. Gedanken entstanden, die sonst dem Alter, in welchem ich mich damals befand, nicht eigen sind.

Wir fuhren oft zu Besuch zu meiner Tante, die unweit von uns wohnte. Dort traf ich häufig einen Freund von ihr, der mich während unserer gemeinsamen Spiele seine »Frau« nannte; ich nannte ihn meinen »Mann«. Später, als ich sieben Jahre alt war, kam ein Brief von ihm an meine Tante, die ihn laut vorlas. Er teilte ihr seine Verheiratung mit. Ich war tödlich verletzt; wie wagte er es, zu heiraten, während er mich seine Frau genannt hatte! Das war einfach Verrat, den er an mir begangen hatte. Denn ich glaubte tatsächlich, er sei mit mir verbunden I

Doch ich verbiß meinen Schmerz; ein innerer Instinkt sagte mir, daß ich ihn den Erwachsenen nicht zeigen dürfe. Warum ich es nicht durfte, begriff ich nicht; ich fühlte einfach, daß ich Schweigen müsse, und schwieg.

Etwas in derselben Art ereignete sich noch einmal später, als ich neun Jahre alt war.

Die Männer mit ihren übertriebenen Aufmerksamkeiten entwickelten in mir die Ansprüche einer Frau, während wieder andere unbewußt mich dazu drängten, den Erfolg im Leben zu suchen.

In der Nähe der Stadt, etwa fünf Kilometer von ihr entfernt, lebten auf einem großen, schönen Gute zwei alte Schwestern, frühere Weltdamen, die ihr ganzes Leben in Petersburg verbracht hatten; erst im Alter hatten sie sich zurückgezogen und füllten nun ihre Tage und Nächte mit Kartenspiel aus. Aus der ganzen Umgegend kamen ununterbrochen Gäste, die gleich ihnen den »grünen Tisch« liebten. Die jüngere dieser Schwestern hatte erfahren, daß ich zu meiner Erziehung nach Petersburg in das Smolny-Institut kommen sollte. Sobald sie mich erblickte, mußte ich mich ihr gegenüber setzen, und sie begann, mir von dem Institut zu erzählen und mein künftiges Schicksal auszumalen. »Sieh zu, daß du immer gut lernst,« prägte sie mir immer wieder ein. »Du mußt unbedingt erste Schülerin sein. Sobald du die erste bist, bekommst du ein goldenes Ordensband als Auszeichnung. Die Großfürsten und sogar der Zar besuchen das Institut. Wenn du das Ordensband hast, dann fällst du auf und wirst Hofdame. Dann wirst du am Hofe leben, auf Hofbällen tanzen usw.«

Bis dahin hatte ich außer dem Wald und dem Dorf, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, nichts gesehen. Ich lauschte darum den Erzählungen des alten Fräuleins wie Kinder den Märchen aus »Tausend und einer Nacht«.

In jenen Jahren las uns die Mutter manchmal etwas vor, einmal, zum Beispiel, aus einem alten Geschichtsbuch eine Erzählung aus dem Leben der alten Moskauer Zaren. Es hieß dort, daß, sobald der Zar heiraten wollte, man im ganzen Lande den Befehl erließ, der Adel solle seine erwachsenen Töchter nach Moskau bringen. Dort am Hofe mußten sie sich alle versammeln, und der Zar wählte sich eine von ihnen, die Schönste, zur Frau.

Sicherlich, dachte ich, werde ich auch nach Moskau kommen, sobald der Zar wird heiraten wollen. Ich sah noch keinen Unterschied zwischen der Vergangenheit und Gegenwart. »Von allen Mädchen wird er vielleicht mich wählen! Ich werde Zarin! ... Meine Wärterin wird dann in Silber und Gold gehüllt sein, und ich – in Brillanten und Rubinen.«

Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich tatsächlich in das Smolny-Institut eingetreten wäre; aber es kam nicht dazu. Statt dessen kam ich in das Kasaner Institut, wo gerade zu jener Zeit die Erziehungsmethode eine erfreuliche Änderung erfahren hatte. Und so verloren sich in dieser fast klösterlichen Umgebung, ohne irgendwelchen Einfluß von außen, von selbst die kindlichen Phantasien von Hofglanz und goldenen Kronen.

Übrigens hat das spätere Leben auf ganz eigenartige Weise die kindlichen Träume erfüllt. Ich erhielt, wenn auch kein Zarentum, so doch einen »Königsthron«. In Schlüsselburg, wo wir unter all den Männern nur zwei Frauen waren – Wolkenstein und ich –, nannten uns die Kameraden, um die Armut unseres Lebens etwas zu verschönern, »Königinnen«. Ich trug aber nicht den Purpurmantel mit weißem Hermelin, sondern den grauen Sträflingskittel mit dem gelben Flecken auf dem Rücken ...

Ich war ein lebhaftes, begabtes Kind, voll Heiterkeit und Frohsinn. Übermütig und schelmisch, liebte ich es, meine Geschwister zu necken. Oft fanden Ringkämpfe zwischen uns statt, und wenn man mich hindern wollte, an ihnen teilzunehmen, geriet ich in Zorn, warf mich zu Boden und schlug mit Händen und Füßen um mich.

Natürlich geschah das nie vor den Augen des Vaters, sondern immer im Zimmer der Wärterin.

Mit der Puppe mochte ich nicht spielen, Lesen und Schreiben erlernte ich ohne Anstrengung, doch weiß ich nicht mehr genau, in welchem Alter.

Bis zu meinem Eintritt in das Institut hatte uns die Mutter wenig Zeit gewidmet. Später, in der Periode meines geistigen Wachstums, verdanke ich ihr viel. Ich glaube, in den ersten Jahren waren es die öfteren Schwangerschaften, Geburten und das Stillen der Kinder, die sie daran hinderten. Ich war schon zehn Jahre alt, als meine jüngste Schwester Olga geboren wurde, und in dem kurzen Zeitraum von zehn Jahren war es die sechste Geburt. Was Wunder, wenn wir nur die vom Vater uns auferlegte Disziplin kannten; diese Disziplin aber streifte nur unser äußeres Leben. Am stärksten empfanden wir sie bei den unvermeidlichen gemeinsamen Mahlzeiten. In der übrigen Zeit waren wir uns selbst überlassen.

Soweit die Mutter mit uns überhaupt in Berührung kam, versuchte sie immer, moralisch auf uns einzuwirken. Eine ihrer steten und unablässigen Forderungen war die der absoluten Wahrhaftigkeit. Auch suchte sie unser Mitgefühl für die Leiden unserer Mitmenschen wachzurufen. Ich entsinne mich dabei folgender Episode: Sie rief uns einst in ihr Zimmer und sagte mit bewegter Stimme: »Hört, heute bringt man uns ein kleines Mädchen, welches bei uns bleiben wird. Dieses Kind ist sehr unglücklich: Ihr alle lauft, springt, die Kleine aber ist infolge einer Krankheit lahm geworden –, sie kann nicht gleich anderen Kindern gehen. Daß es euch ja nicht einfällt, sie auszulachen; übrigens werdet ihr ja selbst sehen, wie gut und klug sie ist.«

Kurz vorher erlebte ich etwas, was für immer Spuren in mir zurückgelassen hat.

In einem großen, niedrigen Zimmer stand eine eisenbeschlagene Truhe, die stets verschlossen war. Es wurden in ihr Gegenstände aufbewahrt, die wenig gebraucht wurden. Einst öffnete die Mutter die Truhe und begann darin herumzukramen. Meine Schwester und ich schauten gespannt zu; doch am meisten fesselte unsere Aufmerksamkeit das Hängeschloß an der Truhe. Es war nach amerikanischem System gemacht, war aus Messing, und hatte die Form eines Löwen, eines richtigen Löwen mit Schweif und Mähne. Der Löwe wanderte zwischen uns beiden hin und her; es war so interessant, ihn auf und zu zu machen. Das Resultat aber war: als die Mutter endlich die Truhe wieder verschließen wollte, – funktionierte das Schloß nicht mehr.

»Wer hat das Schloß zerbrochen?« fragte die Mutter. – »Ich nicht, ich nicht!« riefen wir beide wie aus einem Munde. »Jemand von euch hat das Schloß verdorben, aber wer?« fragte noch einmal die Mutter. »Lydia hatte es zuletzt in der Hand!« sagte ich darauf.

Ohne ein Wort zu verlieren, ergriff die Mutter Lydia und versetzte ihr ein paar Klapse. Lydia schrie natürlich laut auf. Mich ergriff ein tiefes Schamgefühl, nicht daß sie mir besonders leid tat, nein, ich schämte mich ganz einfach; denn vielleicht war ich die Schuldige gewesen, vielleicht hatte ich den Löwen verdorben, und die Schuld fiel auf die Schwester nur deshalb, weil ich gesagt hatte, daß sie das Schloß zuletzt in der Hand gehalten ... Dies erste Schamgefühl in meinem Leben konnte ich nie wieder vergessen. Ich hatte eine Lektion für immer und ewig bekommen.

Als ich acht Jahre alt war, stellten die Eltern für uns drei ältere Kinder eine Gouvernante an.

Einst besuchten wir Verwandte, und dort lernte meine Mutter die Resultate der pädagogischen Tätigkeit unserer späteren Erzieherin kennen. Die kleine Julia, die ein Jahr älter als ich war, spielte Klavier, sprach französisch und tanzte. Was konnte man sich besseres wünschen? Zum Mißvergnügen meiner Verwandten verließ Nadeschda Dimitrjewna deren Haus und siedelte zu uns über. Sie war etwa sechsundzwanzig Jahre alt, weiß, rot und dick, kleidete sich nachlässig, hatte kurzgeschnittenes, lockiges Haar, hinkte auf einem Fuß und trennte sich nie von ihrem schwarzen Pudel, dem sie zum nicht geringen Ärger unserer Wärterin viel Zeit widmete. Uns unterrichtete sie im Französischen und Tanzen, mich noch außerdem in der Musik. Der Tanzunterricht war für mich und Lydia sehr quälend.

Mit der Musik beschäftigte ich mich gerne, wie ich überhaupt das Lernen liebte. Gewissenhaft übte ich die mir aufgegebenen zwei Stunden. Aber die kleinen Hände konnten die Oktaven noch nicht fassen. Um dieses schneller zu erreichen, kam Nadeschda Dimitrjewna nachts mit einem brennenden Licht in der Hand an mein Bett, ergriff meine Hand und spreizte mir die Finger. Natürlich erwachte ich davon, fügte mich aber in das Unvermeidliche; doch hielt ich die Augen fest geschlossen, »um den Schlaf nicht zu verscheuchen«.

Schlimm ging es uns mit der französischen Sprache. Kaum konnten wir etwa zehn französische Vokabeln, als Nadeschda Dimitrjewna forderte, wir sollten miteinander französisch sprechen, widrigenfalls wir eine beschämende Strafe erhalten würden; z. B. schnitt sie aus Kartonpapier eine große Zunge, beklebte sie mit rosa Papier und hing sie an ein Band. Zur Strafe mußte man dieses Band mit der Zunge am Halse tragen. Natürlich war es nicht sehr angenehm, dieses Ding zu tragen, und wir bemühten uns, so viel wie möglich zu schweigen, oder wir betrachteten uns gegenseitig mit gespannter Aufmerksamkeit, denn sobald einer sich vergaß und ein russisches Wort sprach, dann konnte man ihm die lächerliche rote Zunge abtreten.

Überhaupt war Nadeschda Dimitrjewna in bezug auf Strafen sehr erfinderisch. Für Zerstreutheit hatte sie z. B. folgende Strafe erfunden: sie machte aus blauem, dickem Zuckerpapier einen großen, spitzen Hut, den sie den »Idiotenhut« nannte. Derjenige, der sich vergangen hatte, mußte nun diesen fürchterlichen Hut aufsetzen. Man kann sich leicht denken, wie verhaßt uns diese Erzieherin mit derartigen Erziehungsmethoden war. Auch die Wärterin teilte unsern Haß. Sie war es auch, die uns zuletzt von ihr befreite, denn wir selbst hätten es nie gewagt, uns gegen sie aufzulehnen. – Die Eltern hatten im Laufe des ganzen Jahres nie das Klassenzimmer betreten, uns nie nach dem Erfolg des Unterrichtes gefragt. Mich persönlich schonte Nadeschda Dimitrjewna noch ein wenig, ich war die Älteste, – und, was das Wesentliche für sie war, man konnte mit mir bei Gelegenheit prahlen. Ich sah meine Bevorzugung und ihre Ungerechtigkeit meinen Geschwistern gegenüber. Aber die Eltern waren keinerlei Herzensergüssen zugänglich, und wir mußten alles in uns verschließen. Endlich faßte die Wärterin Mut, sprach mit den Eltern, und wir wurden Nadeschda Dimitrjewna los, nachdem wir ein Jahr lang unter ihrem Regiment gestanden hatten.

Um diese Zeit verließ meine Tante Lisa das Institut, und ich wurde ihrer Erziehung übergeben. Die Tante war das typische Produkt der Erziehung der alten Zeit, naiv, etwas überschwänglich und ohne irgendwelche tieferen Interessen. In dem Institut, wo sie erzogen worden war, hatte man sie gelehrt, sich viel mit ihrem Aussehen zu beschäftigen. Während des Unterrichts mit mir saß sie vor dem Spiegel und probierte allerlei Frisuren mit ihrem dicken Haar oder putzte die mandelförmigen Nägel ihrer kleinen Hände mit Hilfe eines ganzen Vorrats von Scheren, Feilen und allerlei anderen Instrumenten.

Es begann nun ein lebhaftes Gesellschaftsleben bei uns. Spaziergänge mit Offizieren, Ausflüge, Theateraufführungen. Natürlich lenkte sie das vom Unterrichten ab. Bald verlobte sie sich mit dem Förster Golownia, und man ließ für uns eine neue Gouvernante aus Moskau kommen: ein junges Mädchen, das kurz vorher das Institut verlassen hatte. Sie war gut und freundlich, alle gewannen sie schnell lieb. Sie beschäftigte sich sehr gewissenhaft mit uns und bereitete mich gut zum Eintritt in das Kasaner Institut vor.


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