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In Lipezk und Woronesch

Die Mitglieder des Vollzugskomitees beschlossen, den Ausgang des einzuberufenden »Land- und Freiheit«-Kongresses im voraus zu bestimmen, indem sie die Gleichgesinnten zu einer geheimen Separatkonferenz einluden. Der Kongreß sollte am 24. Juni in Woronesch zusammentreten, die Separatkonferenz fand einige Tage früher in dem benachbarten Kurort Lipezk statt. Außer alten Mitgliedern von »Land und Freiheit« wurden aus dem Süden hervorragende Revolutionäre hinzugezogen, die »Land und Freiheit« nicht angehörten: Kolodkewitsch aus Kiew, Scheljabow aus Odessa und der im Süden allbekannte Frolenko. Frolenko hatte Stefanowitsch, Deutsch und Bochanowski in Kiew und Kostjurin in Odessa aus dem Gefängnis befreit; hatte sich beteiligt an dem Versuch, Wojnaralski bei Charkow zu befreien, sowie an der Unterminierung der Regierungskasse in Cherson, die gelang, und wo eineinhalb Millionen Rubel konfisziert wurden.

Die versammelten 11-12 Menschen schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, nahmen das von Morosow verfaßte Statut an, worin als Ziel der Organisation die Niederwerfung des Selbstherrschertums und die Eroberung politischer Freiheiten, als Mittel aber bewaffneter Kampf gegen die Regierung ausgesprochen wurde.

Nach rascher Erledigung der programmatischen Punkte begaben sich die Mitglieder, die »Land und Freiheit« angehörten, nach Woronesch und ließen die Genossen aus dem Süden sowie Schirajew in Lipezk zurück, um sie zunächst in Woronesch als Mitglieder der Gesellschaft vorzuschlagen und sie dann zur gemeinsamen Tagung zu laden. Die oben genannten altbewährten Kandidaten Frolenko, Scheljabow, Kolodkewitsch wurden ohne Einwand sofort aufgenommen; ebenso Stepan Schirajew, der von denen, die ihn von Petersburg her kannten, wärmstens empfohlen wurde. Sie erschienen auf der Haupttagung und stärkten dadurch den linken Flügel der Versammlung. Andererseits fanden damals die sich noch im Ausland aufhaltenden Stefanowitsch, Sassulitsch, Deutsch und Bochanowski Aufnahme. Nach der Ankunft der drei ersteren erwies es sich, daß sie auf Seiten Plechanows standen.

Theoretische Differenzen, persönliche Gereiztheit und gegenseitiges Mißtrauen, Befürchtungen auf beiden Seiten, daß die Gegner die Oberhand gewinnen könnten, die Anwesenheit von Mitgliedern eines doppelt geheimen, kleinen Zirkels innerhalb der größeren Geheim-Gesellschaft, all dies steigerte angesichts des drohenden Konflikts die allgemeine Spannung. Nach der Eröffnung des Kongresses aber erwies es sich, daß die Beziehungen zwischen den Delegierten der Hauptstadt und der Provinzen lange nicht so gespannt waren, wie man das nach den stürmischen Zusammenstößen in Petersburg annehmen durfte. Alle wollten die Einigkeit der Organisation retten, alle fürchteten den Verlust von Kräften infolge einer Spaltung.

Das Programm der »Semlja i Wolja«, abgefaßt in sehr allgemeinen Ausdrücken, ließ beiden Seiten die Möglichkeit, es zu ihren Gunsten auszulegen. Nach einer Debatte ließ man das Programm sowie das Statut »Land und Freiheit« unverändert. Man beschloß, die Propagandatätigkeit unter dem Volke fortzuführen, aber den Agrarterror hinzuzufügen. Daneben sollte in der Stadt der terroristische Kampf – auch gegen den Zaren – fortgeführt werden. Das Organ »Land und Freiheit«, mit seinem Beiblatt, wurde weitergeführt.

Anfangs allerdings hatte sich ein scharfer Zwischenfall zugetragen: Unbeherrscht und gereizt verteidigte Plechanow aus aller Kraft seinen Standpunkt, und als er sehen mußte, daß die Anwesenden zu einem entgegengesetzten Kompromiß neigten, erhob er sich zornig von seinem Platz und verließ die Versammlung, die auf einer Wiese im botanischen Garten am Rande der Stadt stattfand. Im Weggehen schleuderte er die Worte hin: »Ich habe hier nichts mehr zu tun!« Ich stürzte fort, ihn zurückzuhalten, aber Alexander Michailow hielt mich an: »Lassen Sie ihn«, – sagte er.

Daraufhin wurde, soviel ich mich erinnere, die Frage aufgeworfen, ob der Weggang Plechanows als Austritt aus der Gesellschaft gelten solle. Dies wurde bejaht. Wahrscheinlich betrachtete auch er selbst sich als ausgeschieden, denn seitdem bis zu seiner Abreise ins Ausland habe ich Plechanow nicht wieder getroffen.

Die Lipezker Sondergruppe nutzte den Kongreß dazu aus, die Stellungnahme der einzelnen Mitglieder näher kennen zu lernen, um sie im Falle einer künftigen Parteispaltung wenn irgend möglich zu sich herüberzuziehen. So versuchte mein alter Freund Morosow mich in Woronesch für seine Geheimgruppe zu gewinnen; ich bestritt entschieden die Notwendigkeit und die Zulässigkeit der Formierung einer geheimen Gesellschaft innerhalb einer Geheimorganisation.

Eine Frage, die Scheljabow auf dem Woronescher Kongreß gelegentlich der Besprechung des Agrarterrors aufgerollt hat, scheint mir erwähnenswert. »Auf wen gedenkt sich die revolutionäre Partei zu stützen?« fragte er. »Auf das Volk oder auf die liberale Bourgeoisie, die mit der Niederwerfung des Selbstherrschertums und der Einführung der politischen Freiheit sympathisiert?« Im ersten Falle sei auch der Agrar- und Fabrikterror am Platze. Wollten wir uns dagegen auf die Industriellen, auf die Vertreter der ländlichen und städtischen Selbstverwaltung stützen, so würde jene terroristische Politik diese natürlichen Bundesgenossen von uns abstoßen. Und er wies darauf hin, daß es in Südrußland manche Männer im Bürgertum gebe, die angesichts der gemeinsamen politischen Ziele Beziehungen zur revolutionären Partei suchten.

So hatte Ossinski, der damals schon hingerichtet war, in Kiew ziemlich umfassende Verbindung mit liberalen Kreisen gehabt, und es war bemerkbar, daß auch Scheljabow selbst vom Sozialismus fort sich einem rein »politischen« Programm zuneigte, und in Odessa bestand damals in der Stadtverordneten Versammlung eine große Gruppe von Intellektuellen, die Versammlungen veranstaltete und nichts mehr und nichts weniger als – Verfassungs-Entwürfe erörterte! »Die Pariser Kommune« wurde diese Stadtverordneten-Versammlung von Panjutin genannt, der rechten Hand des Odessaer Generalgouverneurs Totleben; und im Sommer 1879 beeilte er sich, diese vorzeitigen »Konstitutionalisten« zu zersprengen, die Führer in entlegene Gegenden Sibiriens zu verbannen.

Aber einmütig beantwortete der Kongreß die Frage Scheljabows: Wir stützen uns auf die Volksmassen und bauen dementsprechend unser theoretisches und praktisches Programm aus. (Das Wort »Taktik« fehlte damals in unserem revolutionären Wortschatz, ebenso die Worte »Plattform«, »Minimal- und Maximalprogramm« u. a.) In Nordrußland wurden übrigens die Liberalen niemals als Machtfaktor betrachtet und in den 70er Jahren im großen ganzen mit Ablehnung und Spott behandelt. Ihre Untätigkeit, ihr Sichducken vor der politischen Unterdrückung mit allen ihren Greueln, ihr Sich-erniedrigen vor den Zentral- und Provinzbehörden diskreditierte die bürgerlich-liberalen Elemente, von denen Scheljabow sprach, in den Augen der jungen Generation; z. B. wollten die Liberalen ein eigenes Blatt herausgeben. Aber wie? Sie schlugen uns Landfreiheitlern vor, wir sollten eine Geheimdruckerei mit allem Nötigen einrichten, das Personal stellen und das von ihnen, den Liberalen, Geschriebene drucken – sie wollten auch Geld dazu geben. So sollten wir Risiko und Verantwortung tragen, in die Katorga und in die Verbannung gehen für eine Sache, die uns ganz fremd war! Das Angebot erweckte ironisches Gelächter.


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