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Zweiter Teil
20 Jahre in Kasematten

Wera Figner, Nishni-Nowgorod, 1906

Der erste Tag

Am 12. Oktober 1884 früh morgens – in der Zelle der Peter-Paulsfestung war es noch dunkel – wurde die Tür aufgerissen, und in die Zelle stürzte einer der diensthabenden Soldaten. Er war einer der boshaftesten Wächter: eine graue Ratte, dem der Dienst, die Pflicht, die Verantwortung und nicht zuletzt die Gefangenen, die er wie ein Kettenhund seit langen Jahren behütete, zum Überdruß geworden waren. Das Leben hatte ihn allem Anscheine nach nicht verwöhnt, und jetzt, alt, krank und erbittert wie er war, ließ er seine Wut über das Schicksal überall da aus, wo er nur konnte.

Ich erinnerte mich: Gleich nach meiner Ankunft in der Festung hatte er mich, ehe er die Tür abschloß, wütend angeknurrt: »Hier ist das Singen verboten!« Ich war starr. Ich dachte überhaupt nicht an Singen. »Singen?« – sagte ich – »Ja, wem wird denn das hier überhaupt einfallen.«

Und tatsächlich, war denn nicht jeder, der in diese Festungsmauern eintrat, erfüllt von ernsten Gefühlen und wichtigen Gedanken? Singen, hier, in diesen Mauern, die durch das Leiden so vieler Generationen geheiligt waren, hieß das nicht, sie profanieren?

Jetzt stürzte dieser Wächter in meine Zelle, warf wütend einen kurzen Schafspelz auf mein Lager, ein Paar riesengroße Filzstiefel daneben und zischte durch die Zähne: »Stehen Sie auf! Aber schnell! ... Ziehen Sie sich warm an ...«

Was bedeutet das? Was wird mit mir geschehen? Seit dem Augenblick meiner Verhaftung war mir klar geworden, daß ich mir nicht mehr selbst gehörte. Seitdem fragte ich mich nie mehr, was werde ich tun, sondern stets, was wird man mit mir tun? Denn die Freiheit verlieren ist gleichbedeutend mit dem Verlust des Rechtes auf seinen Körper.

Ich machte eilig Toilette. Sie war nicht kompliziert: Fußlappen, Filzpantoffeln, ein alter, schmutziger Rock aus Uniformtuch – von Motten zerfressen – ein von fremdem Schweiß durchtränkter Arrestantenmantel und ein weißes Kopftuch. Seife hatte ich seit zehn Tagen keine mehr bekommen. Auch auf Kamm, Zahnbürste und Zahnpulver haben Verurteilte keinen Anspruch.

Und während ich mich anziehe, arbeiten die Gedanken fieberhaft immer in derselben Richtung: was wird mit mir geschehen? Führt man mich etwa zur Hinrichtung? ... Aber erst vor drei Tagen wurde mir die Begnadigung vom Kommandanten verlesen: lebenslängliche Zwangsarbeit! ...

In den zwei Jahren meiner Einzelhaft war mein Kopf etwas wirr geworden: Mögliches und Unmögliches konnte ich nicht mehr klar auseinanderhalten, das Unmögliche schien möglich ...

Nun, vielleicht werde ich hingerichtet! Oder sie werden die Kameraden hinrichten und mich dazustellen, damit ich das alles sehe und miterlebe. Warum nicht? So erging es doch Dostojewski und anderen ... Weshalb sollten sie es nicht wiederholen? ...

Aber weshalb sagte der Wachthabende: »Ziehen Sie sich warm an!« Also soll ich irgendwo hingeführt werden, und unterwegs wird es kalt sein. Aber wohin, wohin?

Vielleicht auf einen großen Platz, der voller Menschen ist, und wo das Schafott aufgerichtet ist? ... Oder nach Sibirien? Oder ich sitze im Schlitten zwischen zwei Gendarmen, und der Schlitten rast fort aus Petersburg nach den Kara-Bergwerken, wo die Frauen sind, die vor mir verurteilt wurden ...

Draußen ist Herbst, und gestern war noch kein Schnee zu sehen, aber die großen Filzstiefel und der Halbpelz wecken Vorstellungen von Schneeflächen, Schlitten und einem Dreigespann.

In Begleitung der Gendarmen durchschritt ich den Korridor, wir stiegen die Treppe hinab und betraten die Kanzlei. Hier stand am Tisch der Inspektor und am Fenster noch ein Mann in Zivilkleidung, mit dem Rücken mir zugewandt.

»Geben Sie die Hand,« sagte der Inspektor.

Ich streckte die Hand aus ohne zu begreifen.

In demselben Augenblick drehte sich der Unbekannte um und nahm für einen Augenblick vorsichtig meine Hand, so wie sie der Arzt nimmt, wenn er den Puls fühlt.

»Was bedeutet das?« dachte ich. Wahrscheinlich ist das ein Feldscher! Aber wozu? Wozu braucht er meinen Puls zu fühlen? Steht mir etwas bevor, wobei ich ohnmächtig werden kann? ... Ein dunkler, unmöglicher Gedanke durchflog mein Gehirn. Und ich fühlte, wie mein Herz langsamer zu schlagen begann ... Ich sammelte alle meine Kräfte.

Und der vermeintliche Feldscher wandte sich wieder zum Fenster.

Und wieder sagte der Inspektor: »Geben Sie die Hand.«

Gleichzeitig wandte sich das Individuum mir zu und in seinen Händen klirrte eine Kette. Das Entsetzen vor der Ungewißheit wich der Wut vor der Wirklichkeit.

Eine durch nichts zu hemmende Raserei packte mich! Wie? Ich bin doch ein freier Mensch! Und Ketten werden mir angelegt, dieses Sinnbild der Sklaverei! ... Und mit diesen Ketten will man meine Gedanken, meinen Willen fesseln! ...

Am ganzen Körper zitternd, stampfte ich voll Empörung mit dem Fuße auf und rief, während man meine Hand fesselte, voll heißer Erregung, mich an den Inspektor wendend: »Sagen Sie meiner Mutter! ... sagen Sie ihr, daß, was auch immer mit mir geschehen sollte, – ich immer dieselbe bleiben werde! ...«

»Gut, gut«, murmelte der Inspektor fast erschrocken.

»Und sagen Sie ihr noch, sie möge nicht um mich leiden: wenn ich nur Bücher haben werde und von Zeit zu Zeit Nachrichten von ihr – so brauche ich nichts mehr! ...«

»Gut, ich werde alles bestellen ... alles«, wiederholte verlegen der Inspektor.

Wir passierten den Korridor zwischen zwei Reihen Soldaten und betraten einen kleinen Hof. Im Innern des Hofes standen ein geschlossener Wagen und daneben zwei bewaffnete Gendarmen. Während ich einige Schritte zum Wagen machte, erblickte ich einen der diensthabenden Soldaten, – einen frohsinnigen und gutmütigen Menschen. Er war klein, hatte ein rotes Gesicht mit rötlichem Bart und einer großen Schramme von der Wange bis zur Schläfe. Immer, wenn ich ihn traf, schaute er mich freundlich an und lächelte, als ob er sagen wollte: »Ach Frauchen! Sie werden immer blasser und schmaler! Lassen Sie es gut sein! Das Leben hat auch seine Freuden! ...« Und jedesmal wurde mir in meiner Einsamkeit leichter zumute.

Jetzt hatte er sich scheinbar absichtlich mir in den Weg gestellt: sein Gesicht war ernst und traurig. Unsere Augen trafen sich, und die Kehle schnürte sich mir zu: er schaute mich voll Mitgefühl an ... Ach, weine nicht ... sieh zu, Wera, daß du nicht in Tränen ausbrichst! Weinen in diesem Augenblick, das wäre schmachvoll, redete ich mir selber zu ... Aber wie war ich gerührt, wie gerührt. Diesen teilnahmsvollen Blick nahm ich mit in das lebendige Grab, und dort war er mir ein Trost. Dieser einfache russische Mensch, dieser kleine Soldat, der mich gewissenhaft überwachte, war in seiner Seele mit mir! ... Er fühlte mit mir, er litt um mich! Er war der Letzte und Einzige, der mich in Freundschaft in das neue, nachtdunkle Leben begleitete.

»Wohin führt man mich?« fragte ich den Inspektor, als wir im Wagen saßen.

»Ich weiß nicht,« sagte er.

Wir fuhren die Newa entlang. Die Minuten schienen Stunden ...

Doch der Wagen hielt, wir stiegen aus: vor mir war ein kleiner Landungssteg und ein Dampfer; keine Seele darauf sichtbar.

Die Gendarmen packten mich und trugen mich fast auf das Verdeck. Dann stiegen wir in die Kajüte, deren Fenster sorgsam verhängt waren. Der Dampfer setzte sich in Bewegung und fuhr ... fuhr ...

Nach etwa 2-3 Stunden erschien ein Offizier und fragte, ob ich Hunger hätte.

»Nein.«

Nach einigen Minuten erschien er wieder und fragte, ob ich Tee wünschte.

Ich erwiderte abermals »Nein!«

Mögen sie doch nicht kommen, mögen sie doch nicht fragen. Ich will schweigen. Ich muß schweigen. Ich kann meine eigene Stimme nicht mehr hören ... In den 20 Monaten der Einzelhaft, wo ich nur einmal in zwei Wochen mit Mutter und Schwester sprach, hat sich diese unglückliche Stimme so verändert, sie klingt so dünn ... sie klingt verräterisch ...

Der Dampfer fuhr und fuhr und führte mich ins Unbekannte.

Anfangs glaubte ich, wir führen vielleicht nach irgendeinem weiten, entlegenen Hafen. Und von dort mit der Eisenbahn oder einem Wagen weiter.

Oder vielleicht gar nach Keksholm? Ich hörte einmal etwas von dieser Festung in Finnland.

Oder vielleicht nach Schlüsselburg? In der Peter-Pauls-Festung hatte ich gelesen, daß in Schlüsselburg für die Narodowolzy ein Gefängnis für 40 Menschen erbaut worden war, und während der Gerichtsverhandlung hatte ein Kamerad aufgeschrien: »Wir gehen alle – nach Schlüsselburg!«

Nach ungefähr fünf Stunden hielt der Dampfer an.

Die Gendarmen führten mich aufs Verdeck.

Dort packten sie mich wie mit eisernen Klammern an den Händen, hoben mich hinaus und führten mich irgendwohin ...

Vor uns erhoben sich weiße Mauern mit hohen, weißen Türmen. Hoch oben auf der höchsten Spitze glänzte ein vergoldeter Schlüssel.

Ich zweifelte nicht mehr: es war Schlüsselburg. Der zum Himmel erhobene Schlüssel sprach wie ein Sinnbild, daß es für jene, die hier eintreten, kein Herauskommen gibt.

In Begleitung einer Menge Menschen: Offizieren, Gendarmen und Soldaten, schritten wir durchs Tor.

Und hier bot sich mir ein völlig unerwarteter Anblick.

Es schien eine Idylle. Ein Sommeraufenthalt? Eine landwirtschaftliche Kolonie? Etwas in der Art, so ruhig und einfach ...

Links ein großes, weißes, zweistöckiges Gebäude, eine Kaserne ... es hätte ebensogut ein Institut sein können. Rechts ... einzelne kleine Häuschen, weiß gestrichen, vor jedem kleine Gärtchen, und in der Mitte eine große, grüne Wiese mit einzelnen Baumgruppen. Die Bäume sind zwar schon entblättert, doch es ist sehr schön. Und ganz im Hintergrund eine weiße Kirche mit einem großen, goldenen Kreuz. Dieses Kreuz spricht von Frieden und Ruhe und erinnert an das heimatliche Dorf ...

Das Tor öffnet sich weit, und hinter mir drängt sich der ganze Menschenknäuel hinein und die Treppe hinauf.

Wir betreten ein ziemlich geräumiges Zimmer. In einer Ecke des Zimmers steht eine Badewanne.

»Die Hände,« sagt der Inspektor.

Ich strecke sie aus, und er nimmt mir die Ketten ab.

Dann verschwinden alle Anwesenden. Nur ich, ein junger Mensch in der Uniform eines Militärarztes und eine Frau bleiben im Zimmer zurück.

Der Doktor sitzt mit dem Rücken mir zugewandt am Tisch, und die Frau entkleidet mich.

Nach einigen Minuten stand ich nackt da.

Ob ich gelitten habe? ... Nein.

Ob ich mich schämte? ... Nein.

Mir war alles gleichgültig. Meine Seele war weit von meinem Körper entflohen. Es blieb allein der Körper, der weder Scham noch moralischen Schmerz kennt ...

Der Arzt stand auf, trat an mich heran und betrachtete mich von allen Seiten. Dann schrieb er etwas auf und verließ das Zimmer.

Man hatte mich für immer hierher gebracht ... Ich sollte nie mehr dieses Gebäude verlassen, aber trotzdem hatte man es für nötig gehalten, mich auszuziehen und im Buche zu vermerken, ob ich an meinem Körper besondere Merkmale habe! ...

Vor vier Jahren hatten sie genau dasselbe mit meiner Schwester Eugenie nach ihrer Verurteilung getan.

Empört darüber, hatte ich das dem Minister des Inneren, dem Grafen Tolstoj erzählt, als er nach meiner Verhaftung mich zu sehen wünschte.

»Das ist Mißbrauch der Amtsgewalt,« hatte er erwidert. »Das darf nicht sein ...«

Und nun, ungeachtet seiner Worte, oder vielleicht gerade, weil ich mich so empört hatte, – geschah mir dasselbe!

Ich protestierte nicht, biß, kratzte nicht ...

Wenn wir in der Kindheit vom alten Rom lasen, wie die Cäsaren zur Belustigung der Volksmassen junge Frauen, Christinnen, nackt in die Zirkusbühne hinausführen ließen, um dann Löwen auf sie loszulassen, – was lernten wir da? Diese Frauen schrien weder, noch sträubten sie sich gegen die Behandlung, die man ihnen zuteil werden ließ!

Und auch ich hatte meinen Gott, meine Religion. Die Religion der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Und zum Ruhme dieser Idee mußte ich alles ertragen.

Nach dem Bade, das man mich sodann nehmen ließ, wahrscheinlich um festzustellen, ob ich nichts Verborgenes bei mir habe, verschwand die Frau, und man führte mich nach oben. Ich bezog die Zelle Nummer 26. Die Tür fiel ins Schloß, und in tödlicher Erschöpfung fiel ich auf den Strohsack nieder.

 

Ein neues Leben begann. Ein Leben inmitten tödlicher Stille, auf die man fortwährend unwillkürlich lauscht und die man immer hört. Stille, die dich nach und nach erfaßt, dich umgarnt, dir in alle Körperporen, in den Verstand, in die Seele dringt. Wie unheimlich ist sie in ihrer Lautlosigkeit, wie schrecklich in ihrer Stummheit mit ihren plötzlichen Unterbrechungen. Allmählich schleicht sich an dich das Gefühl eines Geheimnisses heran; alles wird ungewöhnlich, rätselhaft, wie in einer Mondnacht, in der Einsamkeit des stummen Waldes. Alles ist geheimnisvoll, unbegreiflich. In dieser Stille wird das Reale trüb und unwahrscheinlich und das Phantastische real. Alles verwirrt sich. Der lange, graue, einförmige Tag, erschöpfend in seiner Tatenlosigkeit, wird dem traumlosen Schlaf ähnlich ... und Nachts träumt man ... so grell, so brennend, daß man Mühe hat, sich zu überzeugen, daß das nur Träume sind ... Und so lebt man dahin in einem Zustand, wo der Traum Leben scheint und das Leben ein Traum. Und die Töne! Diese verfluchten Töne, die plötzlich unerwartet hörbar werden, dich erschrecken und wieder ersterben ...

Irgendwo hörst du ein Zischen, als ob eine große Schlange unter der Erde sich hervorwinde, um dich mit ihrem kalten, schlüpfrigen Leib zu umringeln ... Aber es ist nur das Wasser, das da unten in der Wasserröhre zischt.

Man träumt von Menschen, die in steinernen Särgen eingemauert sind ... Man hört einen leisen, leisen, erstickten Schrei ... und hat das Gefühl: ein Mensch erstickt unter einem Berg von Steinen ...

Oh nein, das ist doch nur der leise, ganz leise Husten eines Tuberkulösen.

Wenn irgendein Geschirr klirrt ... die Phantasie zeichnet sogleich Ketten und gefesselte Menschen.

Und was ist hier real, was Phantasie? Grabesstille und plötzlich ein leichtes Rascheln an der Tür: der Gendarm schaut durch den »Judas« in deine Zelle. Wie ein elektrischer Strom trifft es dich. Entsetzen ergreift dich ...

Und die nächtlichen Träume, diese wahnwitzigen Träume! Du siehst Flüchtlinge, Verfolger, Verfolgte, Gendarmen, Schießerei ... Verhaftung. Du siehst, wie man jemand zur Hinrichtung führt ... eine erregte Menschenmenge, rohe, wutverzerrte Gesichter ... Aber noch öfter siehst du die Folter. Man foltert mit heißem Dampf, der durch feine Röhrchen aus den Wänden dringt, aus dem Fußboden und aus der Decke: er brennt, er peitscht. Es ist furchtbar, es gibt keine Rettung, die Zelle ist verschlossen ...

Nur eine gesunde Stimme blieb noch in meiner Seele wach, die wiederholte ununterbrochen:

»Sei tapfer, Wera, sei fest! Denk an das ganze russische Volk und an das Elend, in dem es lebt! Denk an die Enterbten in der ganzen Welt, an ihre Fron, ihr freudloses Leben; denk an die Erniedrigung, den Hunger, das Elend dieser Menschen ... Sei stark! Weine nicht über die Niederlage im Kampfe, weine nicht über die zugrundegegangenen Kameraden. Weine nicht über die Trümmer deines Lebens! ... Fürchte nichts! Fürchte nichts! In dieser geheimnisvollen Stille, hinter diesen tauben Steinen sind unsichtbar deine Freunde. Nicht dir allein ist das Leben so schwer, auch sie leiden gleich dir ... Denke an sie! Sie sind hier! Sie behüten dich gleich unsichtbaren Geistern, sie bewachen dich ... Nichts wird geschehen ... nichts ... du bist nicht allein ... du bist nicht allein ...!


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