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In Südrußland

Nach den stürmischen Märztagen, denen Issajews Verhaftung und das Auffliegen unserer konspirativen Wohnung gefolgt waren, beschloß das Komitee, daß ich Petersburg verlassen und nach Odessa gehen müsse, um die dortige Arbeit an Trigonis Stelle zu übernehmen.

Trigoni war ein Universitätskamerad Scheljabows. Während aber Scheljabow wegen Teilnahme an den Studentenunruhen aus der Universität ausgeschlossen worden war und sich vollständig der revolutionären Tätigkeit widmete, führte Trigoni das juristische Studium zu Ende und war bis 1880 als Rechtspraktikant tätig. Erst in diesem Jahre schloß er sich der Organisation »Volks-Wille« an, beteiligte sich an den Vorbereitungen zum Attentat in der Kleinen Sadowaja und wurde am 27. Februar zusammen mit Scheljabow verhaftet.

Trigonis Verhaftung erregte großes Aufsehen. Die Gendarmen fanden, daß er durch seine Bildung, seine Herkunft und sein Vermögen über jene Sphäre weit hinausrage, aus welcher, ihrer Ansicht nach, Revolutionäre sonst hervorzugehen pflegten. Sie hatten nicht ganz Unrecht. Trigoni hatte das Aussehen eines Herrn, war verwöhnter als die anderen, und seinem Benehmen nach erriet man in ihm den Rechtsanwalt, obgleich er erst kurz vorher seine Juristenlaufbahn begonnen hatte. Seine Eltern waren Gutsbesitzer in der Krim; die Mutter war eine Weltdame, was sicherlich nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben war.

Trigoni hatte in Odessa eine Gruppe des »Volks-Willens« gegründet, teils nach eigenem Ermessen, teils aus Personen, auf die ich ihn vor meiner Abreise aus Odessa hingewiesen hatte, darunter waren: der Schriftsteller Iwan Iwanowitsch Swedenzow (der den Schriftstellernamen Iwanowitsch führte) – ein sehr ideal veranlagter, aber nicht besonders aktiver Mensch, ungefähr 35 Jahre alt; dann Olga Puritz, die Tochter reicher Eltern, ein junges, energisches und sehr begabtes Mädchen; ferner der Student Drey, Sohn eines Arztes, der unter den jüdischen Armen sehr populär war. Zu der Gruppe gehörte auch noch Wladimir Schebunew, den ich von meiner Studienzeit in Zürich her kannte. Er hatte schon an der Bewegung teilgenommen, die bestrebt war, die Agitation »ins Volk« zu tragen, war im Prozeß der 193 Mitangeklagter gewesen und arbeitete jetzt illegal. Seine langjährige Erfahrung stellte ihn naturgemäß an die Spitze der Gruppe. Als Agent des Komitees reiste er oft in dessen Auftrag nach Kasan und Saratow. Aber dem »Volks-Willen« fehlte es dort die ganze Zeit über an den erforderlichen Beziehungen, und so hatte Schebunew dort keinen Erfolg. Was Saratow anbelangt, so gab es dort Leute, die sich bereits in den Zeiten des Verbandes »Land und Freiheit« revolutionär betätigt hatten. Schebunew schlug ihnen vor, sich offiziell dem »Volks-Willen« anzuschließen. Dies geschah auch, und die allerdings sehr kleine Gruppe bestand bis Mitte 1882.

Schebunew war ein lebhafter und energischer Mensch, verfügte über ein ziemliches Wissen und sprach gern und gut. Er war ehrgeizig und bemühte sich sehr, Mitglied des Komitees zu werden. Seine Fähigkeiten und Verdienste berechtigten ihn auch dazu, und nachdem ich ihn in Odessa gesehen und gesprochen hatte, stellte ich im Komitee den Antrag, ihn aufzunehmen. Er wurde zu diesem Zweck nach Moskau berufen, wurde dort aber bald aus nicht aufgeklärten Gründen verhaftet. Glücklicherweise ahnte das Polizeidepartement weder seine Tätigkeit in Odessa noch seine Beziehungen zum Komitee; so kam er mit einer Verbannung in das Jakutsker Gebiet davon.

In Odessa übte er dank seiner lebhaften Natur einen belebenden Einfluß auf die Arbeit der Gruppe aus. Seiner Überzeugung nach war er eher Sozialdemokrat als Narodnik. Schebunew betrachtete das städtische Industrie-Proletariat als die einzige Stütze im politischen Kampfe. Außerdem hielt er die Arbeiterklasse für die einzige Trägerin der sozialistischen Ideen und war der Ansicht, daß alle Kräfte der Partei auf Propaganda und Agitation in ihr konzentriert werden müßten. Im Einklang mit dieser Überzeugung richtete er in Odessa sein Hauptaugenmerk auf die Tätigkeit unter den Arbeitern.

Später, nach meiner Ankunft in Odessa, vergrößerte sich die Gruppe noch um Georgiewski, der im Jahre 1877 im Prozeß der Bardina verurteilt worden war. Er flüchtete aus Sibirien, kam illegal nach Odessa zurück und trat unserer Gruppe bei. Außerdem berief ich nach Odessa die Genossin Switytsch. Dieses prächtige Mädchen lebte unweit in einem kleinen Nest und litt sehr unter dem Mangel an Betätigung. Um diese Zeit beabsichtigten wir, die Flucht der F. Moreinis aus dem Nikolajewer Gefängnis zu organisieren. Ihr stand Zuchthaus bevor. Diese Flucht wollten die dortigen wachhabenden Offiziere bewerkstelligen. Einer von ihnen sollte die Moreinis aus dem Gefängnis herausführen, und um sie zu verbergen, mußte eine konspirative Wohnung beschafft werden. Georgiewski und Switytsch begaben sich nach Nikolajew und übernahmen diese Aufgabe. Doch die Flucht gelang nicht, und sie kehrten nach Odessa zurück, um auf Beschluß der Gruppe eine kleine Druckerei einzurichten, in der Flugblätter für die Arbeiter gedruckt werden sollten. Da wir das nötige Material dazu schon besaßen, war die Sache schnell organisiert. Aber die Druckerei existierte nur kurze Zeit, eine einzige Proklamation wurde in ihr gedruckt, und zwar anläßlich des Todes und Begräbnisses des verdienten Revolutionärs Fesjenko, der jahrelang durch schwere Krankheit ans Bett gefesselt gewesen war.

Georgiewski hatte Beziehungen zu den Arbeitern, was ihm verhängnisvoll wurde. Man bespitzelte ihn, er wurde verhaftet und gleichzeitig mit ihm auch Switytsch; die Druckerei wurde beschlagnahmt.

Ein Mitglied der Odessaer Gruppe, ein Vetter der Olga Puritz, der Student Kogan, arbeitete unter den Studenten und bildete dort eine Gruppe von 10 Personen. Sie sympathisierten mit dem Programm des »Volks-Willens« und beschäftigten sich mit sozialpolitischer Selbstbildung.

Durch Swedenzew als ehemaligen Offizier hatten wir Verbindungen mit Militärkreisen, und so lernte ich einige Militärs bei ihm kennen. Es waren dies: der Kommandeur des Lubliner Regiments Kraiski und die Offiziere Tellier (ein Bruder des Verurteilten) und Stratanowitsch. Sie waren mir gegenüber zuvorkommend und liebenswürdig. Anfangs trugen unsere Gespräche den üblichen literarischen Salon-Charakter. Später, als ich erkannt hatte, daß meine Gesellschaft Kraiski angenehm war, sah ich ihn öfters, und nach längerer und näherer Bekanntschaft sprach ich mit ihm von meinen revolutionären Ansichten und Sympathien. Er zeigte Interesse und Verständnis für die Idee der politischen Freiheit und sprach dem Sozialismus Berechtigung zu. Kraiski schien mir eine sehr wertvolle Persönlichkeit mit einem starken Willen zu sein, die, wenn sie einmal ihren Weg gewählt hat, ihn nie mehr verlassen würde; ich wollte ihn unbedingt der Partei gewinnen, seine inneren Zweifel hinderten ihn aber, sich uns anzuschließen. Stratanowitsch war ein sehr ehrlicher Mensch mit einfacherem, aber unbestimmtem Charakter. Sie beide waren mit dem Oberstleutnant des Prager Fußregiments Michail Juljewitsch Aschenbrenner (dem späteren Gefangenen der Schlüsselburg) sehr befreundet, den ich bereits 1880, kurz vor meiner Abreise nach Petersburg, kennengelernt hatte.

Jetzt, bei meinem zweiten Aufenthalt in Odessa, diente Aschenbrenner in Nikolajew, kam aber öfter nach Odessa, und unsere Bekanntschaft erneuerte sich. Um Aschenbrenner gruppierten sich seine Dienstkameraden: Talapindow, Maimeskulow, Mitzkewitsch, Kirjakow und Uspenski, die alle mit Aschenbrenner durch enge Freundschaft verbunden waren und seine sozialistischen Anschauungen und revolutionären Sympathien teilten.

Ich wollte Suchanow, der nach dem Süden kommen sollte, den Weg ebnen und fuhr deshalb öfters nach Nikolajew, wo ich mit all den obengenannten Personen in einer konspirativen Wohnung zusammentraf.

Aschenbrenner war ein sehr gebildeter Mensch. Intellektuell überragte er seine Freunde weit und war natürlicherweise das Haupt dieser Gruppe. Sie alle waren Menschen reiferen Alters und lebten sehr zurückgezogen. Sie hatten sich nie irgendwelcher revolutionären Tätigkeit gewidmet, und als ich immer wieder darauf hinwies, daß man Bekanntschaften anknüpfen müsse, um neue Kreise heranzuziehen, erwiderten sie mir immer dasselbe: es verlohne sich nicht, es seien unter den Offizieren keine entsprechenden Elemente vorhanden. Als sie trotzdem endlich auf mein beständiges Drängen hin mit den Marineoffizieren Beziehungen anknüpften, wurde die Agitation so lebhaft, daß sie die Grenzen der Vorsicht überstieg. Aschenbrenner, der Marx gut kannte, hielt von Zeit zu Zeit ein Referat über das »Kapital« oder über irgendein anderes politisch-ökonomisches Thema. Manchmal, wenn er in Stimmung war, sprach er auch über verschiedene philosophische Systeme, was sein Spezialfach war.

Meine Bekanntschaft mit diesen Militärs war zu oberflächlich, als daß ich das Individuelle eines jeden von ihnen erkannt hätte. Aschenbrenner schätzte seine Kameraden, mit denen er eng befreundet war, sehr hoch. Er sprach von ihnen als von Menschen, die der Sache des Volkes sehr ergeben und bereit seien, für sie einzutreten. Wir schlugen ihnen vor, in die Organisation »Volks-Wille« einzutreten und sich mit dem Militärzentrum zu verbinden. Zu diesem Zweck sollte Suchanow kommen, aber er wurde verhaftet. Für ihn kam Butzewitsch, der dienstlich nach Nikolajew kommandiert war, um dort die Ingenieurarbeiten zu leiten. Ich gab ihm einen Empfehlungsbrief an Aschenbrenner und schlug ihm sofort eine Zusammenkunft mit den Odessaer Offizieren vor. Aber Butzewitschs Zeit war sehr beschränkt; er eilte nach Nikolajew, und versprach, auf dem Rückwege über Odessa zu kommen; erst im Dezember kam er wieder.

Die Aufgabe, die Odessaer und Nikolajewer Offiziere in einer Organisationsgruppe zu vereinigen, die mit dem Zentralorgan zu verbinden wäre, war für Butzewitsch leicht, da sie sich gegenseitig kannten, durch mich und Aschenbrenner schon unterrichtet waren und sich bereit erklärt hatten, auf alles einzugehen, was Butzewitsch vorschlagen sollte. Und tatsächlich, die obengenannten Personen übernahmen die ernsten Verpflichtungen, die die Statuten auferlegten, und versprachen, beim ersten Appell des Militär-Zentrums mit der Waffe in der Hand vorzugehen und die ihnen untergebenen Soldaten mit sich zu führen.

Auf diese Weise hatte Butzewitsch seine Mission erfüllt und die Verbindung zwischen den Offizieren des Nordens und des Südens hergestellt. Die ganze Militärorganisation umfaßte damals etwa 50 Personen.


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