Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Unser Benjamin

Während einer Überschwemmung, erzählt Bret Harte in einer seiner Skizzen, schwemmte eine Welle eine Frau mit einem Kinde in das Lager der Goldgräber von Klondyke. Die Mutter stirbt bald, das hilflose Kind aber wird für die Männer, die auf der Suche nach Gold und Abenteuern sind, zu einer unerschöpflichen Quelle des Glücks und der Freude.

Ähnliches geschah uns, als Karpowitsch in die Festung kam. Im Übermaß der Zärtlichkeit tauften wir ihn sogleich unseren Benjamin. Im Februar 1901 kam Karpowitsch aus Berlin nach Petersburg, zwei Tage später begab er sich zur Audienz des Ministers für Volksaufklärung Bogolepow, schoß auf ihn und verwundete ihn am Halse. Unter Bogolepow wurde das nach den Studentenunruhen im Jahre 1899 erlassene Gesetz zum erstenmal angewandt, demzufolge Studenten wegen Teilnahme an den Unruhen unter die Soldaten gesteckt wurden. 183 Studenten der Kiewer und 27 der Petersburger Universität wurden davon betroffen.

Diese Maßnahmen, die eine Anzahl Selbstmorde unter den in die Kasernen gesteckten Studenten herbeiführten, rief unter der Intelligenz und der studierenden Jugend die größte Empörung hervor. Sie machte auch einen ungeheuren Eindruck auf Karpowitsch, der bis zu seiner Abreise nach Berlin sich an den Studentenunruhen beteiligt hatte und deshalb zweimal aus der Universität ausgeschlossen worden war. Karpowitsch beschloß, den für die barbarischen Maßnahmen verantwortlichen Minister mit der Waffe zu strafen. Er gehörte keiner revolutionären Organisation an, faßte seinen Beschluß ganz allein und machte sich ohne irgendwelche Mithilfe an die Ausführung seines Vorhabens. Bogolepow starb an der erhaltenen Wunde; Karpowitsch aber wurde im März 1901 zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Schlüsselburg gebracht.

Karpowitschs Tat war ein im Interesse der gesamten studierenden Jugend ausgeführter Verteidigungsakt. In der Tat, nach seinem Schuß hörte man auf, Studenten unter die Soldaten zu stecken. Durch seine Tat erfuhr die Jugend eine große Belebung, und sie nannte ihn ihren »mutigen Falken«. Schon ein Jahr später trat, wieder aus den Reihen der Jugend, Balmaschow hervor und beging, diesmal schon im Namen der Partei der Sozial-Revolutionäre, ein ähnliches Attentat auf den Innenminister Sipjagin.

Seit den Prozessen der Jahre 1887/88 brachte man 13 Jahre lang niemanden zu uns in die Festung. Wir waren nur noch ein kleines Häuflein geblieben, im ganzen 13 Menschen, darunter neun zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In diesem engen Kreise sollten wir unser Leben ohne Zufluß neuer Menschen verbringen, ewig in demselben Ideenkreise, ohne irgendwelchen frischen, freien Atemzug. Im grauen Gefängnisleben schwanden die Hoffnungen, erloschen die Erwartungen, verblaßten und verwischten sich sogar die Erinnerungen. Wir erwarteten irgendwelche Veränderungen, neue junge Kameraden. Alles vergeblich ...

Das war unsere allgemeine Stimmung, als Ende März 1901 Antonow uns mitteilte, daß ein »Neuer« gebracht und in die Kanzlei geführt worden sei. Als wir spazierengingen, entstand plötzlich unter den Gendarmen eine Bewegung: sie traten an jeden von uns heran und erklärten, daß diejenigen, die in ihre Zelle oder in die Werkstätten gehen wollten, das sogleich tun müßten. Später würde man niemand den Spaziergang unterbrechen lassen. Wir errieten, daß man den neuen Gefangenen durch den Festungshof ins Gefängnis führen werde, und viele Kameraden eilten in ihre Zellen in der Hoffnung, durch das Fenster den neuen Gefangenen zu sehen. Ich blieb zurück; mir war wie beim Begräbnis eines nahen teuren Menschen zumute. Man begrub lebendig ein junges Leben, voll unverbrauchter Energie und noch unversiegter Kraft. So betraten auch wir vor 17 Jahren diese Festung, um auf diesem langen Weg das Bewußtsein eines nutzlosen Lebens mit uns herumzuschleppen. Dieses Bewußtsein wird auch er, unser neuer Kamerad, mit sich tragen müssen ...

Nach Antonows Bericht betrat er die Festung hochaufgerichtet und energischen Schrittes. Er war nicht gefesselt, wie wir es gewesen; er trug auch nicht wie wir den Zuchthäuslerkittel mit dem gelben Flecken auf dem Rücken; lächelnd schwenkte er den Hut zum Gruße in der Richtung der Gefängnisfenster.

Karpowitschs Erscheinen rief unter uns große Erregung hervor; wir von der alten Generation sollten nun einem Vertreter der Jugend von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, der herangewachsen und gereift war in einer Zeit, als wir schon aus dem Leben geschieden waren. Wie wird unser Zusammentreffen sein? Was werden wir aneinander finden? Werden wir uns verstehen? Was wird er in die Öde des Gefängnisses bringen? Welche Nachrichten, welche Stimmungen? Wer wird uns gegenübertreten? Ein Sohn oder ein Fremder?

Im Jahre 1901 war die Gefängnisordnung nicht mehr dieselbe wie im Jahre 1884. Karpowitsch, den man neben uns untergebracht hatte, von uns zu isolieren, war undenkbar. Durch Klopfen und kurze Gespräche im Vorübergehen an der Tür erfuhren wir, was draußen in der Welt vor sich gehe. Da uns das nicht genügte, so baten wir ihn, alles ausführlich aufzuschreiben und in der Erde, wo er spazierengehe, zu vergraben. Später gruben wir es aus und lasen es alle nacheinander. Wir brannten darauf, über alles eingehend zu hören, sowohl über alle Einzelheiten des inneren Lebens in Rußland wie über die Ereignisse und Verhältnisse in Westeuropa. Karpowitsch war dieser Aufgabe vollkommen gewachsen, da er als Student ein reges geistiges Leben geführt und später einige Zeit im Ausland gelebt hatte.

Seine frohen Berichte belebten unsere Seelen. Seinen Worten nach war in Rußland alles in Bewegung: die Arbeiterklasse, von deren Existenz man in den achtziger Jahren noch kaum etwas gespürt hatte, bestand ähnlich dem westeuropäischen Proletariat schon als selbständige Klasse. Sie trat als öffentlicher Faktor auf, sie forderte Verbesserung ihrer ökonomischen Lage, organisierte Streiks, die Zehntausende von Arbeitern mitrissen, und demonstrierte ihre Kraft auf der Straße. Die Hochschuljugend, die in den siebziger Jahren nur lose miteinander verbunden war, war jetzt in ganz Rußland organisiert und beseelt von einem neuen Geist der Revolte, lehnte sich gegen das Polizeiregiment des Staates auf, der die Universitäten in seinen Fesseln hielt. Die Welle der Studentenbewegungen ergoß sich ununterbrochen über das russische Land und endigte mit vielen hundert Verhaftungen und Tausenden von Verbannungen. In jeder Stadt bestanden jetzt illegale Druckereien, die revolutionäre Blätter, Aufrufe und Flugblätter herausgaben. Nach jedem Hereinfall setzte die Arbeit mit erneuter Energie und Tatkraft ein. »Nach fünf Jahren haben wir die Revolution,« erklärte uns Karpowitsch. Er irrte sich – sie kam schon nach vier Jahren. Aber wir, die wir unter dem lautlosen Verhalten der Volksmassen und dem Schweigen aller sozialen Elemente ins Gefängnis gekommen waren, wußten nicht, ob wir einer solchen Voraussage glauben durften. Wir trauten uns nicht, es zu glauben. Zu unserer Zeit war alles außer uns regungslos geblieben. Alles hatte geschlafen. Waren sie tatsächlich erwacht? Aber warum blieben wir dann allein in unserem lebendigen Grabe? Wenn tatsächlich draußen der Kampf vor sich geht und das Volk sich auf dem Schlachtfeld schlägt, warum sehen wir dann keine neuen Genossen? Warum werden hier nach Schlüsselburg keine neuen Gefangenen geschickt? Platz war ja genug da. Unsere hier verstorbenen Kameraden haben ja Platz gemacht. Und doch kommt niemand an ihre Stelle. Ob Karpowitsch nicht übertreibt? Ob er sich nicht von seiner Begeisterung hinreißen läßt? Das wäre schließlich begreiflich gewesen bei einem Menschen, der soeben vom Kampf losgerissen worden war. Unsere Seelen waren bis aufs tiefste erschüttert. Unser Gefängnisleben war durch seine Ankunft bis auf den Grund aufgewühlt. Wie leicht auch die Gefängnisbedingungen, die Karpowitsch zu ertragen hatte, im Vergleich zu denen waren, unter denen wir ein Jahrzehnt lang zu leben gehabt hatten, so wollte er sich doch mit den Einschränkungen, die ihm auferlegt wurden, nicht abfinden. Er durfte weder in den Werkstätten arbeiten, noch in Begleitung eines Kameraden spazierengehen. Karpowitsch begann einen systematischen Kampf gegen diese Einschränkungen. Wir wußten, daß daran nichts zu ändern war, weil das Regime aus Petersburg vorgeschrieben wurde, und es in dieser Hinsicht unmöglich war, irgendwelche Änderungen durch einen Druck auf den Inspektor zu erzwingen. Aber Karpowitsch versuchte trotzdem durch einen Hungerstreik Änderungen des gegen ihn angewandten Regimes zu erkämpfen. Das erstemal vermochte ihn der aus Petersburg gerufene Militärarzt durch betrügerische Versprechungen dazu zu bewegen, den Hungerstreik aufzugeben. Zum zweitenmal, als er hungerte, weil man uns verboten hatte, während des Spazierganges an der Tür seines »Käfigs« stehen zu bleiben und mit ihm zu sprechen, schlossen wir uns seinem Protest in der Form an, daß wir uns weigerten, spazieren zu gehen. Nach 5 bis 6 Tagen begann uns das Schicksal Karpowitschs sehr zu beunruhigen. Gemäß der Bitte der Kameraden trat ich mit dem Kommandanten in Verhandlungen ein. Der Kommandant lehnte es aber ganz entschieden ab, Unterhaltungen mit Karpowitsch zu gestatten. Da fragte ich ihn: »Und wenn wir trotz des Verbotes mit ihm sprechen werden, wird man dann etwa physische Gewalt gegen uns anwenden?« »Nein,« erwiderte der Kommandant. Da nahmen wir unsere Spaziergänge wieder auf. Ich blieb neben Karpowitschs Käfig stehen und unterhielt mich mit ihm stundenlang. Es blieb dabei.

Nach zwei Jahren wurden die Beschränkungen, die ihn betrafen, überhaupt aufgehoben; er wurde nun gleichberechtigtes Mitglied unserer Gefängnisgemeinde. Karpowitsch war nicht einer jener Menschen, die sich in rein intellektueller Arbeit verschließen und ihr ausschließlich leben können. Er widmete sich mit Begeisterung physischer Arbeit, anfangs in der Tischlerei, dann in der Schmiede. Er wurde der unzertrennlichste Kamerad Antonows; unter dessen Leitung wurde er zu einem geschickten Schlosser, und sie stellten zusammen allerlei schöne Sachen her.

Wir alten Schlüsselburger, die um zehn bis zwanzig Jahre älter als Karpowitsch waren, verhielten uns zu ihm wie zu einem Sohne. Wir hungerten nach neuen Menschen und liebten ihn zärtlich. Jener jugendliche Übermut, mit dem unser Benjamin, ohne mit der Wimper zu zucken, wie eine Katze auf den Zaun kletterte und in den anliegenden Käfig herübersprang oder auf ähnliche Weise die Gefängnisdisziplin durchbrach, hatte für uns etwas Bestrickendes. Andererseits freuten wir uns, daß zwischen uns alten Revolutionären und ihm, einem Vertreter des jungen Geschlechts, jener Abgrund gegenseitigen Nichtverstehens nicht bestand, dem zu begegnen wir bei der ersten Nachricht von der Ankunft eines neuen Kameraden befürchtet hatten.


 << zurück weiter >>