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Der Mutter Segen

Unter den Sachen, die mir lieb sind, hänge ich ganz besonders an einem kleinen, billigen Heiligenbildchen. Nach meiner Verurteilung gab es mir meine Mutter, als sie mich beim Abschied segnete, und es ist mir das Liebste, was ich von ihr habe. Man ließ es mir. Es begleitete mich nach Schlüsselburg, und ich besitze es noch jetzt.

Auf der einen Seite des Bildchens liegt eine Gestalt auf den Knien vor der Mutter Gottes, auf der anderen Seite befindet sich die Inschrift: Allerheiligste Mutter »Unverhoffte Freuden«.

Als mich die Mutter zum letzten Male segnete, sprach sie: »Vielleicht wirst du einmal eine ›unverhoffte Freude‹ erleben.« Woran dachte sie, als sie gerade diese Worte zum Abschied sprach ... An eine Veränderung des Schicksals, an die Freuden des Wiedersehens mit mir? Oder vielleicht wollte sie mir Kraft einflößen? Mir einprägen, daß, was auch geschehen möge, es doch kein Leben ganz ohne Freuden geben könne? Ein Jahr nach dem anderen verging, ohne daß es mir diese Freude gebracht hätte. Gab es denn überhaupt Freuden in Schlüsselburg? Ja, es gab welche. Wie hätten wir überhaupt leben und aushalten können, wenn sie nicht gewesen wären! In den ersten Jahren, die für den Neuling die schwersten sind, bestehen die Freuden ausschließlich in den Beziehungen zu den Kameraden. Ein leise geklopfter Gruß, ein Gedicht, eine Geburtstagsgratulation auf demselben Wege. Einige freundliche Zeilen, heimlich in ein Buch gelegt. Wie froh wurde man da! ... Aber es war in diesen Freuden auch etwas Bitteres, das Tränen hervorrief: sie weckten Erinnerungen, die man lieber ruhen ließ ...

Dann gingen Jahre hin und brachten andere Freuden. Die erste derartige Freude war eine Zeitung. Ein hochgewachsener, stattlicher Offizier verwaltete eine Zeitlang die Werkstätten im alten Gefängnis, wo wir arbeiteten und durch Hammerschläge die Erinnerung an die Ahnenreihe Jener verjagen wollten, die hier in dieser Stille zugrunde gegangen waren.

Eines Tages, als wir dort arbeiteten, kam der Offizier mit einer Zeitung in der Hand. Nachdem er sie durchgelesen, legte er sie entweder zufällig hin, oder vielleicht nicht ohne Absicht, so daß man sie im Vorübergehen unbemerkt mitnehmen konnte. Die Zeitung ging von Hand zu Hand und machte die Runde durch das ganze Gefängnis.

Welch unsagbare Freude sie uns, den hoffnungslos Eingekerkerten brachte, ist schwer zu beschreiben. Die Zeitung brachte eine Chronik des inneren Lebens in Rußland – eine zensurierte, sterilisierte Chronik. Es schien, als hätte sich in den Jahren unserer Abwesenheit nichts verändert im weiten Raum unseres Heimatlandes.

In derselben Zeitung fanden wir auch einen Artikel über Deutschland, und der eröffnete uns neue, ferne Horizonte.

Er erzählte uns von der Absicht Kaiser Wilhelms, eine europäische Konferenz zur Besprechung der Arbeitergesetzgebung einzuberufen, von der Abschaffung des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten, er erzählte uns, daß die sozialdemokratische Bewegung sich über das ganze Land ausgebreitet hatte. Mit freudiger Erregung lasen wir Berichte über Versammlungen und Kongresse, über die Entwicklung der Arbeiter- und sozialistischen Presse, über das schnelle Anwachsen der Mitgliederzahl in der sozialdemokratischen Partei.

Es war zwar Deutschland und nicht Rußland; aber die Interessen der Arbeiterklasse aller Länder waren uns gleich teuer und lieb.

Wir frohlockten: die Mauern des Gefängnisses weiteten sich. Für einen Augenblick fiel ein Lichtstrahl in unser Gefängnis und brachte einen Hauch Freiheit zu uns.

Die zweite Freude waren die Bücher. Die Gefängnisbibliothek war sehr dürftig. Nach 3-4 Jahren hartnäckigen Kampfes wurden jene Bücher zum allgemeinen Gebrauch in die Bibliothek eingereiht, die jeder von uns mitgebracht hatte. Aber sie waren bald durchgelesen. Der neue Zufluß von Büchern aus dem Polizeidepartement war sehr, sehr spärlich, bis er zuletzt ganz aufhörte.

Im Jahre 1894 drückte uns ganz besonders der Mangel an Büchern. Ich suchte einen Ausweg aus dieser Lage und wandte mich an den Kommandanten Hangart mit der Bitte, für uns in einigen Petersburger Bibliotheken Bücher und wissenschaftliche Lehrmittel zu abonnieren, die die Gendarmen holen und zurückbringen könnten.

Diese Bitte schien fast hoffnungslos. Ihre Erfüllung hätte ja die Herstellung einer Verbindung zwischen unserem Gefängnis und freien Institutionen bedeutet. Trotzdem versprach der Kommandant, meine Bitte zu unterstützen. Nach einigen Tagen bekamen wir einen Katalog und bald darauf eine ganze Kiste selbstausgewählter Bücher.

Ungeheuer war die Freude!

Das erste Buch, das mir in die Hände geriet, war ein Buch über England. Dieses Buch hätte auf mich unter normalen Bedingungen einen guten Eindruck gemacht. Auf uns von der Außenwelt Abgeschlossene, wirkte es wie eine Quelle. Es war ungefähr dasselbe, was für den Leser aus dem Volke, der noch nicht mit Büchern übersättigt ist, eine »verbotene« Broschüre bedeutet, die ihm eine neue Welt eröffnet.

Nur in der Gefangenschaft, dieser vertrockneten Atmosphäre, kann man eine derartige Wonne empfinden, wie ich sie empfand, als ich von den englischen Trade-Unions, von dem glänzend verlaufenen Streik der Kohlenarbeiter, von dem außerordentlichen Aufschwung der englischen Genossenschaftsbewegung und von jener Intellektuellenbewegung las, die die Organisierung von Volksuniversitäten und Universitätssiedlungen anstrebte. In die Arbeiterviertel von London, Manchester, Liverpool trug die englische Intelligenz, ähnlich der russischen der siebziger Jahre, ihr Wissen und ihre Liebe; wie sehr erwärmte dieses Bewußtsein, wie sehr ermutigte es die erstarrte Seele. Man vergaß das Gefängnis, die eigene Tatenlosigkeit, seine eigene Person – man sprach vom pulsierenden Leben, von seinen neuen Ansätzen zum Wohl der Volksmassen.

Die Zeitung, nur eine einzige Nummer, war blitzgleich gekommen und verschwunden.

Die Bücher kamen, für einen Augenblick weiteten sich und erhellten sich die Mauern des Gefängnisses, dann verschwand auch dieses Licht.

Das Polizeidepartement erließ das strikte Verbot, Bücher aus der öffentlichen Bibliothek an uns auszuleihen. Aber 1896 eröffnete sich uns eine neue Quelle der Freude, aus der wir Kraft und Mut schöpften.

Morosow erfuhr vom Gefängnisarzt, daß in Petersburg ein Museum mit reichen Lehrmittelsammlungen aus den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaft bestand. Der Doktor brachte ihm sogar einige Schachteln mit Versteinerungen aus dem Museum mit.

Lukaschewitsch, Morosow und Noworussky interessierten sich ganz besonders für Naturwissenschaften, und ich bemühte mich schon seit einigen Jahren, das nachzuholen, was ich während des Studiums der Medizin versäumt hatte. Der Gedanke, im Museum Sammlungen entleihen zu können, die beim naturwissenschaftlichen Studium so unentbehrlich sind, war so verlockend, daß wir beschlossen, uns um die Erlaubnis zu bemühen. Morosow wandte sich an Hangart, der für uns immer alles, was nur möglich war, tat. Aber Hangart sagte dieses Mal, es sei unbedingt notwendig, sich vorerst an das Polizeidepartement zu wenden; er allein dürfe das nicht gestatten.

Nun entstand die Frage: wie die Bitte begründen? Wir dachten lange nach, bis schließlich Morosow ein Gesuch schrieb, daß er Mineralien brauche, da er an einem Werk über die Struktur der Materie arbeite. Wir lachten und waren überzeugt, daß eine solche Begründung dem Polizeidepartement nicht einleuchten und es die Bitte ganz sicher ablehnen werde.

Aber das Polizeidepartement erteilte die Erlaubnis. Seitdem brachte uns der Gefängnisarzt alle zwei Wochen ganze Kisten mit allen möglichen Lehrmitteln. Wir konnten nach und nach nun die reichhaltigen Sammlungen aus dem Gebiete der Geologie, Paläontologie und Mineralogie und die physikalischen Instrumente benutzen; Pflanzensammlungen, histologische und zoologische Präparate, kurz alle Schätze, über die das Museum verfügte, wurden uns nun zugänglich.

Allmählich erweiterten sich auch die Vergünstigungen, die wir genossen: der Doktor brachte uns nach und nach auch Bücher aus dem Museum mit, wissenschaftlichen und auch allgemeinen Charakters. Das Museum begann aus eigener Initiative, uns als Arbeitskräfte zu benutzen. Es schickte uns Rohmaterial aus dem Gebiete der Insektenkunde, Botanik und Mineralogie und beauftragte uns mit dessen Verarbeitung zu Kollektionen für Volks- und Mittelschulen.

Wir selbst verfügten über ein reiches Material für Pflanzensammlungen; in unseren Gärten zogen wir mehrere hundert Sorten verschiedenster Pflanzen. Auch lieferte der Boden unserer Insel reichhaltiges und interessantes mineralogisches Material. Wir brauchten uns nur zu bücken, um Muster verschiedner Gesteinsarten aufzulesen.

Die Arbeit im Gefängnis war nun in vollem Gange: von Tischlern, Drechslern, Buchbindern wurde gehobelt, gehämmert, poliert, wurden Kästen aus Holz angefertigt, ja sogar verschiedene Verbesserungen zur Ausstattung der Präparate erfunden. Diejenigen, die sich für Naturwissenschaften interessierten, stellten die Sammlungen fertig. Alles wurde in schönster Ausstattung nach dem Museum geschickt. So erstand vor uns ein Zweck im täglichen Leben, wir hatten eine Aufgabe zu erfüllen; die Arbeit für das Museum stellte die Verbindung her zwischen uns Toten und den Lebenden draußen in der Freiheit.

Aber auch das wurde uns wieder genommen ... Hangart verließ Schlüsselburg, ebenso der Arzt Besrodnow. Unruhen brachen im Gefängnis aus ... Die Ordnung wurde verändert. Die Arbeit, die uns eine so große moralische Befriedigung gegeben hatte, wurde uns wieder entrissen. Wenn die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Mutter sich auch nicht erfüllt hatte, ihre Vorhersage war in Erfüllung gegangen: inmitten der Trauer und des Schmerzes waren uns doch Freuden erstanden, große, unverhoffte Freuden.


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