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Der Kommandant

Ludmila Wolkenstein und ich waren die einzigen Frauen in der Festung. Wir zwei konnten uns nur einander sehen, während die Männer, die zu zweit spazieren gingen, sich bald das Recht eroberten, ihre Gefährten zu wechseln. Auf diese Weise konnten sie sich nacheinander alle kennenlernen. Das wollten sie auch uns ermöglichen und beschlossen, das Hindernis, das uns trennte, zu beseitigen. Sie holten sich aus den Werkstätten Werkzeug und machten anfangs kleinere, dann immer größere Öffnungen in die Bretter und Zäune, die die verschiedenen Teile des Hofes, wo wir spazierengingen und der Gärten, wo wir arbeiteten, trennten. So konnten wir frei miteinander sprechen und uns auch sehen.

Der Inspektor und die Gendarmen waren über diese Durchbrechung unserer Isolierung sehr aufgeregt, aber der Kommandant tat, als sehe und höre er nichts, obgleich er ausgezeichnet unsere Unterhaltungen durch das Fenster beobachten konnte. So verblieb uns diese wichtige Eroberung.

Ich kann nicht sagen, daß ich diese Eroberung sofort sehr geschätzt hätte. Die Einzelhaft hatte derartig auf mich gewirkt, daß ich nach und nach das Bedürfnis nach Umgang mit Menschen verloren hatte. Ein – zwei Freunde genügten mir vollständig; im Gegensatz zu mir war Ludmila Wolkenstein ein sehr geselliger Mensch, und das Gefängnisleben hatte sie gar nicht verändert. Sie liebte Geselligkeit sehr. Sie konnte sich stundenlang mit den Kameraden unterhalten; ich dagegen empfand jedesmal ein unbezwingliches Bedürfnis, vor ihnen zu flüchten.

Im Dezember 1891 brachte man Sofja Ginsburg nach Schlüsselburg und auf Befehl des Polizeidepartements wurde sie völlig isoliert von uns in einer Zelle des alten Gefängnisses untergebracht. Die Werkstätten wurden unter dem Vorwand notwendiger Reparaturen zeitweilig geschlossen. Sofja Ginsburg ertrug nur 38 Tage lang die furchtbaren Qualen einer solchen Einzelhaft. Besonders die Nachbarschaft des wahnsinnigen Stschedrin machte ihre Lage noch qualvoller. Am 7. Januar 1892 öffnete sie sich die Pulsadern mit der Schere, die sie zum Wäschenähen bekommen hatte.

Von ihrem Aufenthalt im alten Gefängnis hatten wir nicht die leiseste Ahnung, und von ihrem Tod erfuhren wir erst viele Jahre später.

Unter den Personen, die im Laufe der zwanzig Jahre einander als Kommandanten von Schlüsselburg ablösten, nimmt zweifelsohne der Kommandant Hangart eine ganz besondere Stelle ein. Außer jenen Errungenschaften, die zum Teil durch Minakow, Myschkin und Gratschewski mit Aufopferung ihres Lebens und später durch unsere eigenen, gemeinsamen Anstrengungen erobert worden waren, verdanken wir jene bedeutenden Verbesserungen unseres Lebens dem Kommandanten Hangart. Er war es, der immer die rächende Hand des Polizeidepartements und des Ministers des Innern von uns fernhielt. Er begriff, daß der Verlust der Freiheit, der Arbeit, der Verwandten und Freunde schon an sich eine genügend harte Strafe war, und daß es daher übertrieben grausam war, dem noch etwas hinzuzufügen. Es bestand kein Zweifel darüber, daß die reaktionären Elemente, die die innere Politik leiteten, sich den Narodowolzy gegenüber von Rachegefühlen leiten ließen. Oh, wie sie rachsüchtig waren, diese Durnowo und Plehwe, unter deren Augen der Kampf des »Volkswillens« gegen die Selbstherrschaft vor sich gegangen war, und sie vergaßen nie die Rolle jedes Einzelnen von uns in diesem Kampfe.

Gleich nach seinem Amtsantritt mußte Hangart unsere selbstgemachten Fenster bemerken; aber anstatt sie zu vernichten und die Isolierung wiederherzustellen, erwies er uns einen großen Dienst. Er wollte uns nicht durch Repressalien und Gewaltmittel unsere Eroberungen nehmen und verstand es im Gegenteil, dem Polizeidepartement die Erlaubnis zu entreißen, den oberen Teil des Zaunes durch ein Holzgitter zu ersetzen. Er begründete es diplomatisch mit dem Mangel an Licht für die Gärten, die durch die hohen Festungsmauern und die Zäune völlig im Schatten lagen. Wir stellten die in der Tischlerei selbstverfertigten Bänke an den Zaun und konnten auf diese Weise durch das obere Holzgitter nicht nur einander sehen und miteinander sprechen, sondern sogar uns gemeinsam geistig beschäftigen. Es bedeutete eine regelrechte Revolution in unserem Leben. So lange Hangart Kommandant war, wagte kein Gendarm, uns auch nur mit den Fingern zu berühren, gemäß dem Befehl Hangarts, den er in unserer Gegenwart den Gendarmen erteilte.

Unter Hangart war die Zahl der Werkstätten vergrößert worden, so daß jeder, der Lust hatte, täglich arbeiten konnte. Um diese Zeit stand auch Ludmila und mir eine Tischlerwerkstatt zur Verfügung. Unter Hangart wurden auch zwei vorzügliche Drehbänke angeschafft, und dann erwirkte er uns die Erlaubnis, bezahlte Aufträge anzunehmen. Auf diese Weise begannen unsere selbstgelernten Tischler, Drechsler und später auch Schlosser, etwas zu verdienen. Das Geld verwandten sie zum Teil zur Verbesserung unserer Nahrung und später, wieder dank Hangart, zum Ankauf von Büchern für unsere Bibliothek. Das war ein großes Glück für uns.

Unter Hangart wurden auch zwei Buchbindereien organisiert, und wieder war er es, der uns unter dem Vorwand, sie binden zu lassen, mit vorzüglichen Büchern und Zeitschriften versah.

Etwa zwei Jahre nach seinem Amtsantritt führte er bei uns die Selbstverwaltung durch »Älteste« ein: das ersparte uns die tägliche Berührung mit dem Inspektor oder den Gendarmen, die fast immer Reibereien mit sich brachte. Dank ihm benützten wir, wenn auch nur kurze Zeit, die städtischen Bibliotheken in Petersburg.

Auf welche Weise gelang es ihm, so viel für uns zu tun? Ob das wohl vom neuen Kurs der Politik im zweiten Jahrzehnt unserer Gefangenschaft abhing? Oder hatte er so viele wichtige Verbindungen im Polizeidepartement, daß er selbständig handeln konnte, ohne sich an die höheren Behörden zu wenden?

Es hieß, daß er den Posten nur unter der Bedingung angenommen habe, völlige Handlungsfreiheit uns gegenüber zu haben. Wie dem auch sei, er hat zur Erleichterung unseres Loses ungeheuer viel getan. Wir gedenken seiner voll Dankbarkeit als eines Menschen, der uns geholfen hat, diese Zeit zu überstehen und so viel Kraft zu bewahren, als unter den Bedingungen, die nicht von ihm abhingen, möglich war.


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