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Ich finde einen Freund

Ich wußte, daß in der Festung sich noch eine Frau befand, und zwar Ludmila Wolkenstein, die gemeinsam mit mir im Prozeß der 14 verurteilt worden war. Ich wandte mich daher im Januar 1886 an den Inspektor, mir den Spaziergang zu zweit zu bewilligen.

Der Inspektor dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Gut, man kann es gestatten, aber nicht klopfen.«

Ich erwiderte, daß ich ohnehin sehr wenig klopfte.

Das Gespräch war damit zu Ende, und ich blieb nach wie vor einsam.

Am 14. Januar, als man mich zum Spaziergang führte und die Tür zum Vorhof sich öffnete, erblickte ich unerwartet vor mir eine Gestalt im Halbpelz mit einem groben Leintuch um den Kopf. Sie schloß mich stürmisch in ihre Arme. Mit Mühe erkannte ich in dieser Gestalt Ludmila Wolkenstein. Höchstwahrscheinlich war sie über die Metamorphose, die mit mir dank der Sträflingskleidung vorgegangen war, ebenso betroffen.

Und so standen wir eng umschlungen und wußten nicht, ob wir uns freuen oder ob wir weinen sollten.

Ich hatte Ludmila nur während der Gerichtsverhandlung gesehen, vorher kannten wir uns nur von Hörensagen.

Ihre überquellende Herzlichkeit, ihre Einfachheit und Aufrichtigkeit bezauberten mich vollkommen. Man brauchte nicht viel Zeit, um sich mit ihr derartig zu befreunden, wie es nur in unseren Verhältnissen, möglich war. Wir waren wie Menschen, die Schiffbruch gelitten und vom Sturm auf eine unbewohnte Insel geworfen worden waren. Wir hatten niemand und nichts außer unserer Freundschaft. Nicht nur Menschen, sondern auch die Natur, die Farben, Töne, alles war für uns verschwunden. An Stelle dessen blieb ein düsteres Grabgewölbe mit geheimnisvoll vermauerten Zellen, in denen unsichtbare Gefangene schmachteten, wo eine unheilverkündende Stille und eine Atmosphäre von Gewalt, Wahnsinn und Tod herrschte.

Leicht begreiflich, welche Erquickung ein Freundschaftsverhältnis unter solchen Bedingungen bereitete und daß es für immer die rührendsten Erinnerungen hinterlassen mußte.

Wie in der Gefangenschaft die zarte, weiche Zuneigung eines Kameraden wirkt, weiß jeder, der im Gefängnis gewesen ist. Tatsächlich wirkt sie oft Wunder, und wäre nicht das leise Klopfen an der Wand, welches das steinerne Hindernis, das die Menschen dort voneinander trennt, hinwegräumt, so wäre der Verurteilte sicher nicht imstande, das Leben und den Verstand zu bewahren. Nicht umsonst ist der Kampf um das Klopfen der erste Kampf, den der Gefangene mit den Gefängniswächtern führt; er ist einfach der Kampf um die Existenz, und jeder, der in der Zelle eingemauert ist, hascht danach fast unbewußt, wie der Ertrinkende nach einem Strohhalm.

Zu diesem Zweck wird das Alphabet in nebenstehender Weise eingeteilt und jeder Buchstabe wird durch eine bestimmte Anzahl Stöße gekennzeichnet, die seiner Stellung innerhalb des Feldes entsprechen (z B. r = · · · ·   · ·)

a b c d e
f g h i k
l m n o p
q r s t u
v w x y z

Und wenn dann endlich der Augenblick eintritt, wo die zur Einzelhaft Verurteilten einander sehen und sprechen können, und die lebendige Sprache das symbolische Klopfen ablöst, dann schafft ein freundlicher Blick, ein freundschaftlicher Händedruck ein derartiges Labsal, wie es nur jene nachempfinden können, die selbst der Freiheit beraubt gewesen sind.

Ich weiß nicht, was ich Ludmila Wolkenstein gewesen bin, aber daß sie mein Trost, meine Freude, mein Glück gewesen ist, das weiß ich. Meine Nerven, wie mein ganzer Organismus überhaupt, waren aufs tiefste erschüttert. Ich war körperlich und seelisch zu Tode erschöpft; plötzlich hatte ich einen Freund, auf den die Gefängniseindrücke nicht so verheerend gewirkt hatten wie auf mich, und dieser Freund war die Verkörperung der Güte, Zärtlichkeit und Menschenfreundlichkeit. Den ganzen Schatz ihrer Seele schüttete sie freigiebig über mich. Wie verdüstert ich auch war, sie verstand es immer, mich durch irgend etwas zu zerstreuen und zu trösten. Schon ihr Lächeln und der Anblick ihres lieben Gesichtes verscheuchten die Schwermut und schufen Freude. Nach jedem Zusammentreffen mit ihr war ich beruhigt, wie neugeboren, die Zelle schien mir nicht mehr so düster und das Leben nicht mehr so schwer. Gleich nach meiner Rückkehr vom Spaziergang begann ich vom neuen Wiedersehen mit ihr zu träumen ...

Wir sahen uns jeden zweiten Tag: die Gefängnisadministration hielt es für notwendig, unsere Freude durch einen Tag völliger Einsamkeit etwas zu schmälern. Aber das verschärfte nur unsere Sehnsucht und hielt unsere feierliche Stimmung aufrecht.

Wenn im Gefängnis irgendein Unglück geschah, wenn unsere Kameraden dahinstarben, deren Todesstöhnen wir durch die Gefängnismauern deutlich hörten, da die Akustik hier außerordentlich gut war, trafen wir uns bleich, niedergeschlagen und stumm. Unsere Blicke mieden sich, wir küßten und umarmten uns und gingen schweigend den schmalen Pfad auf und nieder oder setzten uns auf die Erde, an den Zaun gelehnt, so weit wie möglich vom Gendarm entfernt, der jede unserer Bewegungen bewachte. In solchen Tagen war allein schon die körperliche Nähe, die Möglichkeit, sich an die Schulter des anderen zu lehnen, eine Erquickung und erleichterte die Schwere des Lebens. In einem Monat des Jahres 1886 starben nacheinander: Nemolowski, Issajew und Ignati Iwanow. Sie starben an Tuberkulose. Iwanow war überdies wahnsinnig geworden.

Issajews dumpfer, heiserer Husten war herzzerreißend. Manchmal gingen wir gleich nach ihm spazieren, und da sahen wir immer rechts und links auf dem weißen Schnee das Blut, das er soeben gespuckt hatte. Dieses Blut des Kameraden, wie beklemmte es die Seele! ... Das Blut, das mit Schnee zu bedecken, man nicht einmal für nötig gehalten hatte, machte uns das Herz so unendlich schwer. Es war wie ein Symbol erlöschenden Lebens, des Lebens eines Kameraden, dem weder die Wissenschaft noch eine menschliche Kraft helfen wird ... Und es war kein Plätzchen da, wohin man die Augen von diesem Blute hätte wegwenden können. Dieser kleine, abgezäunte Raum des »Käfigs« war voll Schnee; es blieb nur ein kleiner Pfad, den man zum Gehen benutzen konnte. Diese Folter war gemein, denn mit einigen Schaufeln Schnee hätte man leicht die Blutspuren verwischen können, aber statt dessen wurden sie zynisch, zur Qual und zur Belehrung der Gefangenen, sichtbar gelassen.

Issajews Todesqualen waren furchtbar. Es war die schwerste Agonie, die wir durchlebten. Etwas Opium oder Morphium hätte ihm wahrscheinlich den Todeskampf erleichtert und uns diese Erschütterung erspart. Aber nichts geschah. Grabesstille herrschte im Gefängnis ... Mit angehaltenem Atem lauschten wir auf diese tödliche Stille ... kein Laut war hörbar ... bis plötzlich in diesem gespannten Zustand ein anhaltendes Stöhnen laut wurde, das eher einem Schrei glich. Es ist immer schwer, den Tod eines Menschen mitzuerleben, aber noch unendlich schwerer und furchtbarer ist es, eingemauert im steinernen Loch ohnmächtig Zeuge eines solchen Sterbens zu sein. Nur im Gefängnis oder Irrenhaus, das überhaupt dem Gefängnis in vielen Beziehungen ähnlich ist, können solche erschütternden Szenen vorkommen ...

Im Frühjahr bekamen ich und Ludmila Wolkenstein je zwei Beete im Gemüsegarten zur Bearbeitung. Schon lange vorher war unser Interesse durch besonders geheimnisvolle Vorbereitungen, die heimlich hinter dem Zaun vorgenommen wurden, geweckt worden; später merkten wir, daß dort Umzäunungen für 6 Gemüsegärten errichtet wurden.

Unser Gärtchen war ein kleines, längliches, sehr unscheinbares Plätzchen, wo fast nie ein Sonnenstrahl hinkam. Auf der einen Seite grenzte es an die hohe, steinerne Festungsmauer, an den anderen drei Seiten an einen hohen Zaun; es lag ganz im Schatten, und trotzdem erschien uns dieser kalte Schacht wie ein Paradies. Bisher hatten wir in unserem »Käfig« nur einen hartgeschlagenen, steinernen Erdboden, wo kein einziges Gräschen gedeihen konnte. Das sollte unsere Bewachung erleichtern, falls wir es uns etwa einfallen ließen, einen Briefwechsel untereinander anzuknüpfen und unsere Briefe im Grase zu verstecken.

Das erste Grün auf unseren Beeten bereitete uns ein unsagbares Vergnügen, und als im Sommer die ersten Blumen blühten, gerieten wir in ein echt kindliches Entzücken. Wir sehnten uns so furchtbar nach Wiesen und Feldern. Der Anblick eines Grasbüschels rief einen Sturm von Gefühlen in unserer dürstenden Seele hervor, jedes Grashälmchen war uns ans Herz gewachsen.

Ludmila Wolkenstein liebte mit ganz besonderer Zärtlichkeit die Insekten und Tiere. Sie hatte die Sperlinge so an sich gewöhnt, daß ganze Schwärme ihr auf den Knien saßen und Brotkrumen aus ihren Händen pickten. Oft, wenn wir auf- und niedergingen, bemerkte ich plötzlich, daß sie einen Umweg machte und mich auf die Seite zog. Auf meine erstaunte Frage, warum dies geschehe, erwiderte sie, sie habe einen Käfer oder eine Raupe bemerkt und befürchtet, sie zu zertreten. Später, als wir Himbeeren gepflanzt hatten, und die kleinen Raupen sie abzufressen begannen, konnte ich sie keineswegs dazu bewegen, diese Raupen zu vernichten. Lieber opferte sie die Himbeeren, ja den ganzen Strauch, aber ein lebendes Wesen töten, das konnte sie nicht!

Mich interessierte es, ob ihr Verhältnis zu den Tieren von jeher so gewesen sei? Sie erwiderte mir, sie habe stets für alles Lebende die größte Achtung gehabt. Und tatsächlich war das bei ihr nicht zeitweilige Sentimentalität, hervorgerufen durch das Gefängnisleben, sondern ein aufrichtiges Gefühl, das in völligem Einklang mit ihrer ganzen liebevollen Natur stand. Einen humaneren Menschen kann man sich schwer vorstellen, und in den ersten Jahren, als der Kleinkampf mit der Gefängnisverwaltung sie noch nicht verdüstert hatte, leuchtete ihre Seele in strahlendem Glanze. Ludmila Wolkenstein kannte die Menschen und das Leben und idealisierte sie nicht. Sie nahm sie so, wie sie sind, als ein Gemisch von Licht und Schatten. Des Lichtes wegen liebte sie sie, und den Schatten verzieh sie. Sie hatte die glückliche Gabe, an jedem Menschen gute Seiten herauszufinden und glaubte unerschütterlich an den guten Kern, der in jedem Menschen sei. Sie war überzeugt, daß Liebe und Güte jedes Böse bezwingen könne; nicht Strenge noch Repressalien, sondern ein gutes, teilnehmendes Wort, ein freundschaftlicher Tadel waren ihrer Ansicht nach die besten Mittel zur Besserung. Grenzenlose Nachsicht war der Grundzug in ihren Beziehungen zu den Menschen. Ihr Lieblingswort war: »Wir alle bedürfen der Nachsicht.«

Meine Weltanschauung war lange nicht so weit, aber in den ersten Jahren meiner Gefangenschaft, fern von jedem sozialen Kampf und jener Atmosphäre, in welcher ich in der Freiheit gelebt hatte, wurde ich weicher, und die Freundschaft mit einem solch schönen Wesen, in dem die Liebe verkörpert war, nicht nur zur Menschheit, sondern auch zum einzelnen Menschen, machte auf mich einen bezaubernden Eindruck. Ich empfand ein moralisches und ästhetisches Vergnügen; hier war Liebe, Schönheit, Güte in anderer Gestalt als in jener rauhen Energie und jenem eisernen Willen, der alles zerbricht, was sich ihm in den Weg stellt und deren Verkörperung ich rings um mich sah ...

Wenn ich Ludmila zuhörte und sie beobachtete, dann mußte ich mich fragen, wie ihre Humanität und Herzensgute mit der Gewalt und dem Blut revolutionärer Tätigkeit vereinbar waren. Wärme und Licht um sich verbreiten, die Menschen ringsum beglücken, das schien mir die Aufgabe für eine solch liebende Natur. Aber das Häßliche und Ungerechte in der politischen Ordnung stießen sie auf einen anderen Weg. Die schreiende Ausbeutung der arbeitenden Massen hatte sie zur Sozialistin gemacht. Die Unmöglichkeit, in Rußland ungehindert sozial zu wirken, die barbarische Unterdrückung der Persönlichkeit hatten sie zu einer Terroristin gemacht. Diese selbstlose Seele sah im revolutionärem Protest die einzige Form, in der sich ihre Gefühle auslösen konnten, um den Preis des eigenen Lebens ebnete sie der künftigen Generation den Weg ...

Wie glücklich mich der Verkehr mit Ludmila auch machte, so waren wir doch gezwungen, im Herbst 1886 auf unsere gemeinsamen Spaziergänge zu verzichten, obgleich sie die einzige Freude in unserem Leben waren. Das kam folgendermaßen: nach den Gefängnisinstruktionen war der Spaziergang zu zweit eine Vergünstigung, die nur für »gutes Benehmen« erteilt wurde. Es war natürlich für niemand angenehm, als Beispiel für »gutes Benehmen« ausgenutzt zu werden, und da die Einschätzung eines jeden vom Inspektor abhing und er Vergünstigungen nach seinem Gutdünken erteilte, so entstand gewöhnlich die schreiendste Ungerechtigkeit. Es gab Kameraden, die sich in nichts von der allgemeinen Haltung unterschieden und die doch keine Vergünstigung bekamen. Sie klopften ein wenig untereinander, aber das taten alle.

Im Gefängnis ist es unmöglich, auf das Klopfen zu verzichten; nur die Geisteskranken klopfen nicht. Wenn also die einen den Spaziergang zu zweit und die Bearbeitung der Gärtchen bekamen, so erschien es doch natürlich, daß alle anderen diese Erleichterung auch bekämen. Dem war aber nicht so, und manche Kameraden, so Kobyljanski und Slatopolski starben, ohne je ein Freundesantlitz erblickt zu haben. Wieder andere, Pankratow, Martynow, Lagowski, mußten auf diese Vergünstigung noch Jahre hindurch warten.

Mit welchen Mitteln man manchmal ein Wiedersehen mit Kameraden erzwingen konnte, zeigt das Beispiel Popows. Einst wurde das ganze Gefängnis durch den Ruf: »Zu Hilfe« aufgeschreckt. Popows Tür wurde geöffnet, und der Inspektor erschien. »Was ist los?« fragte er grob.

»Ich kann so nicht länger leben,« erwiderte Popow. »Geben Sie mir ein Wiedersehen mit einem der Kameraden.«

Der Inspektor schaute ihn durchdringend an und sagte: »Gut, ich werde es dem Kommandanten melden.«

Der erschien nach einigen Minuten.

»Was will der Gefangene?« fragte er.

»Ich kann so nicht weiterleben«, wiederholte Popow. »Lassen Sie mich zu zweit Spazierengehen ...«

Der Kommandant: »Der Gefangene hat ›Zu Hilfe‹ geschrien und fordert Vergünstigung. Der Gefangene möge bedenken, wenn wir jetzt gleich seinen Wunsch erfüllten, welch ein Beispiel wäre das für die anderen? Wenn aber der Gefangene ruhig abwarten wird, so werden wir seine Bitte erfüllen. Sollte er aber noch einmal schreien, so führen wir ihn ins andere Gebäude über.« (D. h. in das alte Gefängnis oder in den Karzer.)

Popow zog es vor, etwas zu warten, und nach einigen Tagen ging er mit Schebalin spazieren.

Aber nicht alle waren so erfinderisch wie Popow, und die Mehrzahl schwieg. Überhaupt war die Verteilung der Vergünstigungen einfach eine Waffe in den Händen des Inspektors. Wer auf sein »Du« ebenfalls mit »Du« antwortete, verlor jede Aussicht, einen von den Kameraden zu sehen, selbst, wenn seine Lebenstage schon gezählt waren. Slatopolski hatte keine Zusammenstöße mit ihm, nur daß er etwas klopfte. Er bekam einen Blutsturz – seine Kräfte schwanden von Tag zu Tag, aber der Inspektor ließ ihn mit kalter Grausamkeit in seiner Einsamkeit. Dasselbe geschah mit Kobyljanski, der dem Inspektor auf sein »Du« mit einem »Du« antwortete. Auch gegen Pankratow übte er Rache.

Wie schwer war da nach der Rückkehr vom Spaziergang der Gedanke an den Nachbar, der der letzten Freude, den Kameraden zu sehen, beraubt war. Unendlich schwer wurde der Spaziergang zu zweit beim Gedanken an den Kameraden, der ganz in der Nähe niedergeschlagen herumirrt, sich ebenso nach einem Zusammentreffen sehnt und ebenso der Teilnahme und der Gesellschaft eines Freundes bedarf.

Aber nie kam mir der Gedanke an einen Ausweg aus dieser Lage. Mir erschienen die Gefängnisregeln eine ebenso unbeugsame Festung wie die steinernen Wände, die eisernen Türen und die Gitter. Es erschien mir ebenso unmöglich, dieses uns so drückende Regime zu brechen, wie die Wände und die Schlösser zu zerstören.

Aber Ludmila Wolkenstein war darin anderer Meinung; sie glaubte, man müsse gegen die Gefängnisordnung in dieser oder jener Form protestieren. Die Verteilung der Vergünstigungen durch den Inspektor geschah willkürlich und ungerecht und konnte deswegen nicht geduldet werden. Ludmila schlug den passiven Protest vor, und zwar den freiwilligen Verzicht auf die Vergünstigung. Natürlich mußte der Verzicht motiviert werden: man sollte auf das mehr oder weniger gleiche Verhalten aller Gefangenen hinweisen und auf das Gefühl der Kameradschaftlichkeit, das uns verbot, etwas ruhig zu genießen, das die anderen entbehren mußten.

Ich konnte mich lange zu diesem Opfer nicht entschließen. Gewiß, ich litt bei dem Gedanken, etwas zu genießen, das die anderen neben mir furchtbar entbehrten, aber ich fühlte mich wie verschüttet, und der Umgang mit Ludmila war meine einzige Freude! Wenn ich noch wenigstens hätte glauben können, daß wir durch unser Opfer tatsächlich etwas erreichen würden, durch unseren freiwilligen Verzicht dem Inspektor die Waffe entwinden würden, die zur Unterdrückung unserer Kameraden diente! Aber ich hielt es für ausgeschlossen und war daher gegen unnütze Selbstgeißelung, um so mehr, als ich vollkommen im klaren darüber war, daß der Verzicht für immer gegolten hätte. Außerdem waren manche Kameraden unter den Begünstigten schon so schwer krank, daß eine freundschaftliche Unterstützung ihnen absolut nottat.

Als Ludmila Wolkenstein sah, wie furchtbar der Gedanke einer Trennung auf mich wirkte, ließ sie für eine Zeitlang das Thema fallen. Aber trotzdem bewegte uns diese Frage innerlich ununterbrochen, und allmählich tauchte sie in unseren Gesprächen wieder auf. Ludmila wies immer auf neue Seiten der Frage hin, man müsse nicht nur die unmittelbaren Resultate des Protestes im Auge behalten; es handle sich darum, daß die Vergünstigung aufhöre, Vergünstigung zu sein, und zur Norm werde. Außerdem habe der Protest als solcher Bedeutung. Die Administration müsse sehen, daß wir nicht passive Zuschauer der Ungerechtigkeit und Willkür sein wollen, daß wir, im Gegensatz zur beständigen Forderung der Obrigkeit, nur an uns zu denken, mit unseren Kameraden leiden und zu ihrem Schutz die Stimme erheben. »Jeder spreche nur von sich,« war die übliche Bemerkung, die wir zu hören bekamen, sobald wir das Wort »wir« gebrauchten. Wir aber würden freiwillig im Namen der Kameradschaftlichkeit auf etwas verzichten, das in den Augen der Obrigkeit eine Belohnung sein soll. Nichts schätzt sie höher als eine passive, widerspruchslose Unterwerfung unter ihre Verfügungen. Plötzlich lehnen sich Menschen dagegen auf, die nicht nur aller juridischen, sondern auch aller elementaren Menschenrechte beraubt sind. Menschen, gegen welche alle Maßregeln ergriffen worden sind, um die Persönlichkeit in ihnen zu ersticken, diese Menschen erheben sich, wenn auch nur für einen Moment, über ihre Schergen und Henker, sie wagen es, die Gefängnisvorschriften und -verfügungen zu kritisieren und weisen auf die Notwendigkeit hin, das Regime zu ändern, das geschaffen wurde, um eben diese Kritiker unter eisernem Druck zu halten.

Allmählich gelang es Ludmila Wolkenstein, mich von der Gerechtigkeit dieser Argumente zu überzeugen, und gemeinsam mit einigen anderen Kameraden verzichteten wir vorläufig auf die Vergünstigungen, bis alle Gefangenen sie genießen würden. Anfangs schlossen sich fast alle dem Protest an, aber nach und nach fielen einige ab, und nur Ludmila und ich, J. Bogdanowitsch, Popow und Schebalin führten ihn zu Ende. Im Laufe der nächsten 1½ Jahre machten wir weder von den Gärtchen, noch vom Recht gemeinsamen Spazierganges Gebrauch.


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