Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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Jetzt waren wir oben und sahen uns um, das alte herrliche Bild in seiner Ruhe und Größe vor uns. Die Araber kannten die Gewohnheiten ihres Vaters noch und setzten sich rücksichtsvoll fünf Stufen tiefer, außer Sicht, nebeneinander wie eine Reihe von Geiern. Dort besprachen sie das Ereignis des Tages und die Aussichten auf ein ungewöhnliches Bakschisch, so daß wir auf der Gipfelplatte ungestört und allein waren. Jeder von uns ließ gerne fünf Minuten vergehen, ohne den Mund zu öffnen. Nicht, jedenfalls nicht allein, weil uns der Atem ausgegangen war.

»Bei Zeus, man bekommt hier oben einen Begriff von dem, was aus diesem Land noch gemacht werden kann«, begann endlich Ben, der lange stille Betrachtungen am wenigsten ertrug. »Sehen Sie, Herr Eyth, dort ist ganz deutlich die Spitze der Tirseinsel zu erkennen. Dort muß unser neues Stauwerk angelegt werden. Und quer über die ganze Talbreite, etwa bei der kleinen Pyramide von Sauiyet beginnend, ziehe ich einen Hauptschutzdamm, so daß wir für das unterhalb gelegene Land, für Kairo und das Delta doppelte Sicherheit hätten, wenn je einmal weiter oben ein Paralleldamm des aufgestauten Stromes brechen sollte. Oberhalb des neuen Stauwerks würde dann der Nil während des ganzen Jahres auf seiner vollen Hochfluthöhe gehalten und von hier aus würden rechts und links vom Fluß die Hauptkanäle abzweigen, die das Land auf beiden Seiten und, über die alten Barragebrücken hinweg, weiter unten auch das Delta jahraus, jahrein mit hochfließendem Wasser versorgen müßten. Bitte, Herr Eyth, denken Sie sich die sandgelben halbverdorrten Flächen, die wir hier unten sehen, weit über den jetzigen Wüstenrand hinaus in einen grünen Teppich verwandelt, auf dem Tausende von Rindern und Kamelen weiden und Millionen glücklicher Menschen die Dörfchen von heute verdoppelt und statt ärmlicher Hundehütten aus Lehm menschenwürdige Wohnungen hingestellt hätten. Wäre dieser Anblick nicht mehr wert, als das Gefühl, auf einem nutzlosen Steinhaufen zu stehen, er mag noch so alt und ehrwürdig und – und – dreieckig aussehen!«

Joe hatte sich mit einem Seufzer abgewandt, als sein Bruder begann. Bei den letzten Worten wandte er sich mit einer scharfen Drehung wieder uns zu und sagte, scheinbar ruhig lächelnd.

»Mein guter Bruder vergißt, trotz seines praktischen Sinns, manchmal eine Kleinigkeit, Herr Eyth. Wir könnten natürlich den Anblick, den ihm seine Phantasie vormalt, nie haben, ohne den Steinhaufen, auf dem wir stehen. Doch es ist vielleicht besser, wir verlassen Symbolik und Zukunftsmalerei. Seine Ideen haben ja einiges Richtige, nur übersieht er, daß sie so alt sind, als die alten Ägypter selbst, die zu unseren Füßen schlafen. An die Mittel, die Ben anwenden will, hat allerdings vor unserer ruch- und respektlosen Zeit noch niemand gedacht.«

»Ebensowenig als an den ernsten Versuch, Herr Eyth, eine solche Anlage in ihrer großartigen Vollständigkeit auszuführen«, unterbrach Ben seinen Gegner; »denn die Barrage von Kaliub ist eine traurige Spielerei verglichen mit dem, was mir vorschwebt. Solche Aufgaben verlangen natürlich auch außerordentliche Mittel. Wenn wir an die Zukunft glauben, müssen wir den Mut haben, in der Gegenwart zuzugreifen. Den haben wir, Gott sei Dank, und was unter diesem Himmelstrich die Hauptsache ist: den hat auch der Herr dieses Landes, mein Freund Ismael Pascha.«

»Ben weiß, was ich von all dem denke, Herr Eyth«, sagte der Doktor nach einer längeren Pause, in der er seinen aufsteigenden Grimm mit Erfolg niederrang. »Er kennt die Aufgabe, die mir gestellt ist, wenn er sie auch nicht begreift. Aber er weiß nicht, was der Vizekönig von ihr denkt, und ich möchte ihn heute nicht mit einer näheren Erklärung betrüben. Heute nicht! Denn wer weiß, Ben, ob du es in einigen Tagen der Mühe wert finden wirst, diesen Gipfel noch einmal zu besteigen. Genieße den Augenblick, wie schnell ist er verflogen. Alles Irdische fließt wie ein Strom dahin; auch unsere irdischen Pläne und Gedanken.«

»Je«, versetzte sein Bruder drohend, »wenn du anfängst, mir die Strohwahrheiten deiner Klassiker aufzutischen, so rechne ich dir den Kubikinhalt des Niltals vor, wenn es einen Fuß tief unter Wasser steht, oder den Wert der Baumwolle, in die wir diese Wassermenge zu verwandeln vermögen. Du wirst dich an derartige Zahlen sowieso gewöhnen müssen, wenn du ein gebildeter Mensch deiner Zeit bleiben oder vielmehr werden willst; wenigstens soweit, daß ein halbbarbarischer Vizekönig nicht über dich lächelt. Aber du hast recht: Lassen wir diese Dinge ruhen. In zwei, drei Tagen wird sich die Entscheidung nicht länger verheimlichen lassen. Ich fürchte, du wirst dann keine Lust mehr haben, deinen Aufenthalt in Ägypten zu verlängern. Genießen wir den dahinfließenden Augenblick oder wie deine Klassiker sagen, die euch Gelehrte mit Gedanken versorgen.«

Beide schwiegen gekränkt. Es war dies das beste, was sie tun konnten, um wieder mit heiler Haut auf sicheren Grund und Boden zu kommen. Ben, der trotz seines roten Gesichts nervös und angegriffen aussah, setzte sich am Südrand der Plattform nieder und betrachtete scheinbar aufmerksam die Chefrenpyramide, obgleich sie, wie er behauptete, für seine Zwecke zu klein war. Joe stand neben mir, gegen Osten blickend und vertiefte sich, das Feldglas vor den Augen, in die Berge von Tura.

»Ich will ihm diesen letzten Tag nicht verderben«, sagte er nach einer Pause halblaut zu mir. »Er tut zwar, als ob er nicht wüßte, wie die Sachen stünden. Das war von jeher seine Art. Er ahnt jedenfalls, daß er diesen herrlichen Anblick heute zum letztenmal genießt und ich kann ihm nachfühlen, wie peinlich dies sein muß. – Armer Bruder! – Bitte, Herr Eyth, vermeiden wir alles, was ihm den Tag noch weiter verbittern müßte. Sie sehen, ich gehe sogar soweit, seinen grausigen Ideen nicht direkt zu widersprechen. Ich weiß, ich bin in diesem Punkte zu schwach, aber ich hoffe, es wird mir um der guten Absicht willen verziehen werden – Ben! –«

Er setzte sich neben seinen Bruder. Sie sahen jetzt beide in die Wüste hinaus.

»Ben, wir stehen an einem Wendepunkt unseres Lebens«, begann er mit fast weicher Stimme wieder »Ich denke hierbei nicht an unsere persönlichen Wünsche und Hoffnungen. Du auch nicht. Ich denke an die furchtbare Bedeutung, welche unsere Bestrebungen für Millionen Menschen haben müssen. Genau wie du. Dabei bekümmert mich ein Gedanke heute mehr als alles andere, wenn ich diese stille friedliche Welt ums uns her betrachte. Einer von uns muß unterliegen. Wirst du die Kraft haben, die Niederlage zu ertragen, ohne mir, deinem älteren einzigen Bruder, für immer den Rücken zu kehren?«

»Unsinn!« brach Ben los; »von einer Niederlage kann gar keine Rede sein. Du bist blind wie ein Maulwurf, wenn du dir dies in den Kopf gesetzt hast. Uns gehört die Zukunft, mag kommen was da will. Morgen, heute, jetzt ist unser Tag angebrochen und der alte Plunder muß Platz machen für die neue Zeit.«

»Gut! Gut!« unterbrach ihn der Doktor, der im Gefühl seines Triumphes merkwürdig weich geworden war. »Nehmen wir an, ich unterliege; ich mit der ganzen großen Vergangenheit, die heute noch regiert und alle Zukunft beherrschen wird. Aber nehmen wir an, ich unterliege. Dann frage ich mich, könnte ich dir die Hand reichen, als dein Bruder? Ich fürchte, ich könnte es nicht. Wir wollen Abschied nehmen; heute; in Fried' und Freundschaft hier auf dem Gipfel der Pyramide, um die wir kämpfen. Abschied, Ben, ehe die Würfel fallen.«

»Unsinn, Joe, Unsinn! Du bist und bleibst ein Phantast. Aber ich werde dich nicht fahren lassen. Ich werde dich lieben und verzärteln und alles erdenkliche Schöne und Gute aus dir heraus und in dich hineinlegen, ähnlich wie du es mit deinen Mumien machst. Du sollst einen Ehrenplatz in meinem neuen Ägypten bekommen und mit dem Zehnten jedes Baumwoll- und Zuckerfeldes, das ich der Wüste abgewinne, soll man dir ein Museum bauen, in dem die alten Ägypter und Chaldäer, Griechen und Römer und alles Volk, das einmal war und heute verschwunden ist, fortleben möge nach deiner Art. Denn ich gebe zu: Sie waren unsere Väter. – Hand drauf! – Nur mußt du mir nicht in den Weg kommen, wenn ich einen neuen Kanal graben muß oder eine Brücke über einen Meeresarm schlage, oder was sonst einmal die Millionen brauchen werden, die leben müssen, weil sie unsere Kinder sind.«

»Warten wir's ab!« sagte der Doktor leise, lächelnd über die Verirrungen seines ›armen‹ Bruders.

Dann standen beide auf und gaben sich die Hand, herzlich und brüderlich. Es war die wunderlichste Versöhnung, die ich je mit angesehen habe. Und dann plauderten wir über andere Ding e: über das Verhältnis Ägyptens zum künftigen Suezkanal, über die Pyramiden von Sakkara, über das Gemütsleben der arabischen Pferde und den Verstand der ägyptischen Esel, bis es Zeit wurde, an den Abstieg zu denken, bei dem uns unsere arabischen Freunde nach Möglichkeit hinderlich waren.

Von den Erlebnissen der zweiten Abteilung der Karawane unter Fräulein Berthas Führung bekam ich nie ein klares Bild. Die drei höchst mangelhaften Berichte von ihr, von Fritschy und dem Dragoman zusammenhaltend, scheinen sie folgenden Verlauf genommen zu haben:

Nach den Angaben Buchwalds konnte man hoffen, wertvolle Spuren der früheren Bewohner der Höhlengräber vorzufinden. Davon war jedoch keine Rede. Die Leute von Kafr hatten sich ohne Zweifel die letzten Stückchen der zerbrochenen Stühle und des Tischchens, Thinkers Tintenfaß, die Lampe und die brauchbareren Reste des Küchengerätes zur Erinnerung an jene denkwürdigen Tage abgeholt. So mußte alles neu geschaffen werden. Doch dies dämpfte den Mut der drei Pioniere der Zivilisation keineswegs. Fritschy machte sich an den Aufbau eines Tischs aus Steinblöcken. Der Dragoman wurde nach Kafr geschickt, um Wasser herbeizuschaffen. Fräulein Schütz wußte mit Schirmen, Plaids und Tischtüchern eine Veranda vor der Jägerhöhle zu errichten, wobei Fritschy allerdings zu häufiger Hilfeleistung herangezogen werden mußte. Über weiteres wurden die Berichte spärlich und lückenhaft. Aber das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit war ein glänzendes. Eine Behausung, halb Höhle halb Zelt, spendete Schatten und Kühlung. Unter dem Zelt stand ein unleugbar sehr niederer Tisch – von antiker Form, erklärte Bertha – mit einem schneeweißen Tischtuch und sieben Gedecken geschmückt, und auf dieser Tafel befand sich fast alles, was an kalten Speisen und Getränken der erste Gasthof Kairos zu liefern vermochte. Im halbdunkeln Innern der Höhlen waren mit Hilfe von Sätteln, Satteltaschen und Decken Ruheplätzchen hergestellt, die, nach dem fröhlichen Mahle, im Jägergrab für die älteren Herrn, im Hochzeitsgrab für die Damen ein Stündchen ungestörter Erholung versprachen. Die jüngeren Männer sollten gebeten werden, sich draußen im Sand zu vergnügen. So konnten Fräulein Schütz und Fritschy mit dem Gefühl, sich selbst übertroffen zu haben, die zurückkehrenden Freunde erwarten. Alles, was sie hierüber zu sagen wußten, war, daß ihnen die Zeit nicht lange geworden sei.

Sehr viel reichhaltiger war der Bericht der dritten Abteilung. Ich halte mich an das, was mir Buchwald mehrere Tage später nicht ohne einiges Zaudern mitteilte. Wir Germanen verstehen solche Dinge nur halb, und was wir nur halb verstehen, wissen wir nicht gut zu erzählen. Das ist zum Beispiel bei den Franzosen ganz anders.

An den Grabhöhlen verließ Sakuntala mit dem Maler die geschäftige Gruppe, welche die Sorge für das leibliche Wohl der Gesamtheit übernommen hatte und ritt der dritten Pyramide entgegen. Auf einer Anhöhe hinter den Tempelresten, die sich an ihrem Fuße befinden, hatte sich Buchwald den Standpunkt gedacht, von dem aus er vor viertausend Jahren sein Bild der im Bau begriffenen Cheopspyramide gemalt haben würde, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte. Schweigend ritten sie über den felsigen Grund, nur gefolgt von den beiden Eselsjungen, die in beträchtlicher Entfernung mißmutig hinter ihnen hertrotteten, bis die Todesstille der Wüste daran mahnte, daß sie zum erstenmal seit der Märchennacht allein waren.

»Warum müssen wir uns so selten sehen, Hermann?« fragte Sakuntala, indem sie ihr stolzes weißes Tier, an das sich Buchwalds graues freundschaftlich herandrängte, zwang, im Schritt zu gehen.

»Wir sehen uns täglich und ich sehe dich immer, Tag und Nacht«, sagte Buchwald lächelnd.

»Du malst fleißiger als je«, versetzte sie mit einem leisen Vorwurf in ihrer Stimme. »Du vergräbst dich in deiner Werkstatt.«

»Du hast recht: ich kann wieder malen, seit ich meiner selbst sicher bin; ich male alte Ägypter, weil ich es nicht aushalte, stundenlang nicht dich malen zu dürfen.«

»Ich denke, dies sollte anders werden.«

»Auch deshalb male ich. Ich möchte mir die alte Zeit von der Seele malen und mit dir eine neue beginnen. Es war alles eine Verirrung, ehe ich die gefunden hatte.«

»Oder ein Suchen. Und dabei fandest du manches andere, das des Findens wert war.«

»Es freut mich, daß du so denkst, und ich möchte es beweisen. Auch deshalb male ich fleißiger. Das Bild muß fertig werden. Vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube wieder an mich, seit ich weiß, daß du an mich glaubst. Wenn mich die Welt einen großen Maler hieße, käme ich wenigstens nicht mit ganz leeren Händen zu dir.«

»Was kümmern mich deine Hände«, versetzte Sakuntala ungeduldig. »Mir ist nur um eins zu tun, um dein Herz – und du weißt es.«

Sie waren auf der Höhe angelangt. Ein frischer Ostwind wehte über das heiße Tafelland und das Wüstenbild mit den gewaltigen Pyramiden im Mittelgrund und dem fernen blauen Horizont, an dem die Minaretts von Kairo auftauchten, gab ihrem Gespräch auf Augenblicke eine andere Wendung. Aber immer wieder glitt es zurück in das alte Spiel, das liebende Herzen seit undenklicher Zeit gespielt haben und spielen werden, solange die Pyramiden stehen.

Dann ritten sie weiter, gen Osten, um die Sphinx zu besuchen. Buchwald hielt plötzlich an.

»Dort hinter dem Felsblock war mein Wüstenatelier, solange wir hier wohnten. Willst du es sehen, mein Schatz?«

»Dort entwarfst du die ersten Skizzen zu deinem großen Bild – gewiß!« versetzte Miss Thinker.

Sie ritten um den Felsblock. Die offene Höhle lag vor ihnen. Die glatten glänzenden Wände, der mit weißem Sand bedeckte Boden sahen so reinlich aus; daß man sie sofort wieder hätte beziehen können. In der einen Ecke lag noch der würfelförmige Stein, auf dem Buchwald manchmal ausgeruht hatte, in der anderen, in welche die Morgensonne nicht dringen konnte, stand die Staffelei, welche er in der Eile des damaligen Aufbruchs und im Gefühl, daß er wohl bald wiederkommen werde, zurückgelassen hatte. Es war einigermaßen auffallend, daß dieses wertvolle Stück Holz von den Leuten aus Kafr noch immer nicht gestohlen worden war, noch merkwürdiger aber erschien, daß an der Staffelei, kreuzweise übereinander geneigt, zwei große halbverdorrte Palmzweige lehnten, wie sie die Araber auf die Gräber ihre Verwandten und Freunde zu legen pflegen.

Sakuntala war abgestiegen. Der Maler band die Zügel der Tiere an einem Stein fest, da die pflichtvergessenen Eselsjungen weit zurückgeblieben waren. Miss Thinker studierte die Spuren von Bildern und Hieroglyphen, die sich in verblaßten Farben an den Wänden zeigten und holte dann ihr Skizzenbuch hervor. Buchwald betrachtete nachdenklich die Palmzweige. Alles schien wie aufgeräumt und abgestaubt und dort hinten stand sogar ein Kullah! Diesen konnte der Zufall nicht herbeigebracht haben. Doch war es nutzlos, darüber nachzudenken. Sakuntala hatte angefangen zu zeichnen. Er zeigte ihr plaudernd, daß die Perspektive Westeuropas auch in ägyptischen Gräbern ihre Gesetze geltend mache.

Als sie das Grab Hand in Hand verließen, denn sie hatten beide das Skizzenbuch zu halten, in dem Buchwald einige Striche änderte, fühlte Sakuntala ein heftiges Zucken, wie wenn ihr Freund erschrocken wäre. Gleichzeitig sah sie, daß sie nicht allein waren. Auf der Felsplatte über dem Grab saß ein Fellahweibchen, in ihr blaues Hemd gewickelt, die Burko dicht über das Gesicht gezogen, regungslos wie eine Mumie.

»Haifa!« rief Buchwald, der das Mädchen in dieser Stellung, ein Bild hoffnungsloser, in sich selbst versunkener Entsagung nicht zum erstenmale gesehen hatte.

Haifa sprang auf. Sie schien zuerst die Flucht ergreifen zu wollen. Dann wandte sie sich wieder um, warf ihren Schleier zurück und stürzte auf Buchwald los, indem sie den schrillen Triller ausstieß, mit dem die Klageweiber auf arabischen Friedhöfen ihren Jammer in die Luft schleudern. So klein das schwarzbraune Mädchen war, es hatte in diesem Augenblick etwas so Wildes, Dämonisches, daß Sakuntala unwillkürlich Buchwalds Arm faßte. Zwei Schritte von ihnen hielt die kleine Fellachin plötzlich still, sah erst den Maler, dann seine Braut mit weit aufgerissenen Augen an, stürzte vor Sakuntala nieder und bedeckte den Saum ihres Kleides mit Küssen, während sie hundert unverständliche Worte in die Falten des Gewandes murmelte. Sakuntala, die von all dem nichts verstehen konnte, zeigte keine Furcht, versuchte aber vergeblich, die Kleine aufzurichten. Endlich stand sie von selbst auf und begann, während die hellen Tränen über ihr Gesichtchen rollten, mit lebhaften Gebärden eine Geschichte zu erzählen, deren Inhalt auch Buchwald nur erraten konnte. Immer hastiger und leidenschaftlicher wurde ihr Geplauder, und als sie zu Ende zu sein schien, wies sie nach dem Horizont, den in nächster Nähe ein kleiner Sandhügel bildete, faßte Buchwalds Hand und drückte sie wohl zehnmal an ihre Stirn.

Dort oben, nicht dreißig Schritte von ihnen, stand starr und stumm eine hohe Gestalt: Der Imam von Kafr; nicht in seiner gewöhnlichen Fellahtracht, sondern gekleidet wie ein Beduine, die lange Flinte über dem Rücken, einen Speer in der Hand. Sakuntala hatte ihn schon längst bemerkt und sich enger an Buchwald gelehnt. Sie fühlte seine brennenden Augen, denen sie schon zweimal begegnet war, bei Sikr auf der Esbekiye und nach der Dose. Sein Blick war regungslos auf sie gerichtet, während Haifa ihre Geschichte erzählte und von Buchwald Abschied nahm. Dann wandte sich der Beduine plötzlich ab, stieß seinen Speer in den Sand, warf seinen Burnus auf den Boden und nahm, gen Osten gewendet, die feierliche Stellung ein, mit der der Araber sein Mittagsgebet beginnt. Das Händeerheben und Verbeugen, das Knien und Aufstehen, die zweimalige Berührung der Erde mit der Stirn dauert in seiner ruhigen Weise mehrere Minuten lang, während deren die helle, hohe Gestalt eine wunderbar schöne Silhouette gegen die tiefblauen Himmel des Südens bildete. Als er zu Ende war, stand Haifa an seiner Seite, faßte seine Hand und zog ihn fort, über den Rand des Hügels hinunter.

Sakuntala und Buchwald standen noch immer auf derselben Stelle, als von beiden nichts mehr zu sehen war. Buchwald verstand die Szene, die sie erlebt hatten, beinahe. Sakuntala sah ihn fragend an. Dann plötzlich, als ob der Bann gewichen wäre, der sie festgehalten, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, küßte ihn, wie sie ihn noch nie geküßt hatte, und flüsterte: »Ich glaube dir! Ich glaube dir!«

Später, nach Tisch, als wir Jüngeren vor den Grabhöhlen unsere Zigaretten rauchten, sagte der Dragoman Ibrahim ben Musa zu dem Maler:

»Wissen Sie, was ich unten im Dorf gehört habe, als ich dort einen Wasserträger suchte? Der Imam von Kafr – Gott verdamme den Bösewicht, der mir einen Zentnerstein auf den Fuß warf! Aber der Allgerechte errettet die Frommen, die nur Gutes tun. Sie erinnern sich des Imams? Dieser falsche Derwisch hat sich auf die Wanderung nach dem Sudan gemacht, wo er hingehört. Sie sagen, es sei dort wieder einmal ein neuer Mahdi erstanden, der die Gläubigen sammle. Es wird ein Schwindler sein, Inschallah! – Und seine Schwester, die Haifa, habe er mitgenommen. Sie ist wohl fort!« –

Als sich gegen Mittag die verschiedenen Trüpplein zusammenfanden, bewährte sich wieder einmal das alte Sprichwort: Arbeit macht das Leben süß. Nur Fräulein Schütz und Fritschy waren so fröhlich, wie es alle hätten sein sollen. Ben Thinker litt sichtlich unter der Hitze und fühlte sich unwohl. Joe empfand die Nähe der großen Pyramide zu sehr, die ihn gleichzeitig hob und drückte, trotz alles Siegesbewußtseins, das er rücksichtsvoll verbarg. Sakuntala und Buchwald sahen sich nachdenklich und ernst in die Augen, sooft sie sich unbemerkt glaubten, denn sie hatten beschlossen, daß der heutige Tag eine Entscheidung bringen müsse. Und ich, als siebtes Rad am Wagen, fühlte, daß ich kaum mitzählte. So verlief das Mahl nicht ganz so heiter, als man hätte erwarten können. Die Mittagsruhe in der kühlen Höhle dagegen behagte namentlich Ben so sehr, daß es nach einem letzten Ritt kreuz und quer über das Pyramidenfeld fast Abend wurde, ehe der Rückweg nach Kairo angetreten werden konnte. Es schien als ob man nicht loskommen könne. Ahnten wir, das es für die Mehrzahl von uns ein Abschied war auf Nimmerwiedersehen?

Dafür lohnte uns jetzt ein unvergeßlicher Ritt in der Abendglut des herrlichen Tages, während die ersten Atemzüge des Nordwinds vom Delta her die heiße Stirn der Wüstenhügel berührte. Vor uns, wenn auch noch in weiter Ferne, lagen wie in rotes Feuer getaucht die schroffen Felsenhöhen des Mokkatam, hinter uns in violettem Dunste die Pyramiden, deren riesige Schatten mit phantastischer Eile vor uns herjagten, jetzt das Dörfchen dort, jetzt die Gruppe von Palmen oder, schon weit vor uns, das funkelnde Emeraldgrün eines Zuckerrohrfeldes verschlingend. Endlich war es auch gelungen, die rastlos plaudernde Schar unserer Begleiter aus Kafr abzuschütteln. Zum letztenmal lief uns ein Fellahjunge, unermüdlicher als die anderen, nochmals nach, um den zehnfachen Abschied ein elftesmal zu wiederholen. Wir trabten über die weite Fläche der Niltalsohle munter dem fernen Strome zu. Die Karawane hatte ihre lose Marschordnung wiedergefunden.

Nach den Gesetzen jenes Zufalls, der die menschlichen Geschicke leitet, hatte sie sich etwas anderes gestaltet, als beim Herritt. Voraus ritt diesmal Ibrahim ben Musa, im Gefühl seiner Würde, das durch den Rest der Weinflaschen, die er dem Esel nicht mehr anvertrauen wollte, ins Ungebührliche gesteigert worden war; neben ihm Ben, der sich bemühte, über die land- und wasserwirtschaftlichen Verhältnisse der Gegend, die wir durchritten, Belehrung zu gewinnen und die unglaublichsten Aufschlüsse erhielt. Ihnen folgten Sakuntala und Bertha, beide ungewöhnlich schweigsam, die Blicke zumeist auf die bleiche Mondsichel gerichtet, die vor uns im östlichen Widerschein des Abendrots immer deutlicher, aber mit wunderbarer Zartheit hervortrat. Nur Bertha drehte zuweilen den Kopf; war es, um zu sehen, ob sich das nächste Paar nicht verlor? Oder ob es weit genug entfernt war, um ungehört ein paar hastige Worte mit der Freundin zu wechseln? Dann kam ich, stillvergnügt über den schönen Tag, der mir meine Pumpen und Dampfpflüge etwas fernergerückt hatte und sie deshalb doppelt anziehend erscheinen ließ; Fritschy neben mir, unruhig mit seinem oder vielmehr Fräulein Berthas Esel hadernd. Dabei hatte er mir die freudige Nachricht mit allen Einzelheiten mitzuteilen, daß in Bulak der Baumwollpflug morgen fertig sein müsse und spätestens übermorgen in Schubra sein könne. Und doch war der Mensch kaum fähig, mir ins Gesicht zu sehen. Was er wohl haben mochte? Nur eines war klar: ich mußte so bald als möglich eine ernsthafte aufreibende Arbeit für ihn finden, wenn er bei Vernunft bleiben sollte. Den Schluß bildete das alte Pyramidenfreundespaar: Joe und Buchwald. Sie schienen sich von dem großen Bilde in unserem Rücken nicht trennen zu können und wandten mehr als einmal ihre Reittiere völlig, um es minutenlang in seiner geisterhaften Größe und Stille einzusaugen.

Natürlich blieben sie hierdurch weiter zurück, als es sonst erklärlich gewesen wäre. Als Buchwald die Entfernung für genügend hielt, sagte er ziemlich leise:

»Herr Thinker, darf ich Ihnen eine Mitteilung machen, die Sie überraschen wird?«

»Weshalb fragen Sie?« antwortete der Doktor mit bewegter Stimme; eine eigentümliche Rührung zitterte in ihm nach, seitdem sie die Pyramiden im Rücken hatten. »Ich zweifelte nie daran, lieber Freund: Sie beginnen Licht zu sehen in dem, was uns das große Mysterium Ägyptens zu sagen hat.«

»Ich sehe Licht, aber in anderer Richtung«, versetzte der Maler. »Lassen Sie mich ohne Umschweife sprechen. Ich liebte Miss Thinker, ohne es zu wissen, seit ich sie kenne. Ich weiß seit wenigen Wochen, daß sie mich liebt. Wen habe ich zu fragen, ob es uns beschieden sein wird, für alle Zeiten glücklich zu sein?«

Joes Esel wäre fast zu Fall gekommen, so rasch zog sein Reiter die Zügel an. Er stand jetzt still, als wäre er aus Holz. Der Doktor verriet kaum mehr Leben.

»Das ist etwas unerwartet!« sagte er endlich, fast tonlos. »Lassen Sie mich denken.«

Buchwald ließ ihn denken.

Nach einer langen Pause begann er wieder:

»Es wäre das Beste, wir fragten Ben. Die Sache berührt, heute wenigstens, ihn mehr als mich. Unsere Sakuntala steht in diesem Jahr unter seiner Vormundschaft; im nächsten, wenn die Reihe wieder an mich käme, wird sie mündig.«

Buchwald gab dem steifen Esel seines väterlichen Freundes einen Schlag, daß das überraschte Tier seinen Herrn fast abgesetzt hätte, und im Galopp wurde die Karawane eingeholt. Er bat Fritschy, Ben zu bitten, etwas zurückzubleiben und bald bildeten die drei unsere Nachhut. Fast stotternd teile Joe seinem Bruder mit, wie es mit ›seinem lieben, armen Buchwald‹ stehe. Die Wirkung der Mitteilung war kaum weniger überraschend, nachdem Ben begriffen hatte, um was es sich handle.

»Heiraten will er unsere Kundel?« rief er mit rätselhafter Freudigkeit. »Gescheiteres könnte uns ja gar nicht passieren, Joe! Ich meine – ich wollte sagen – kann er ja gar nicht tun. Wir haben Ihnen vor allen Dingen von Herzen Glück zu wünschen, Herr Buchwald. Sie werden es brauchen können. Kundel ist ein prächtiges Geschöpf, aber sie hat ihre Eigenheiten. Bei Zeus ja; wie jedes andere Frauenzimmer. Ich habe in den nächsten Jahren so sehr alle Hände voll zu tun, daß ich jedem dankbar bin, der mir die Verantwortung für andere Aufgaben abnimmt. Ich sah mit Schrecken – aufrichtig gesprochen, mit Schrecken – wie sie immer größer und schöner wurde. Du solltest die Sache ähnlich auffassen, Joe: als einen Glücksfall für alle Beteiligten. Nach allem, was ich von Herrn Buchwald weiß, ist er ein wackerer Mann und ein Gentleman, obgleich ein Deutscher. Dafür stammt sie vom Ganges. Ich sehe nicht ein, weshalb du ein so langes Gesicht machst.«

»Das Glück unserer Sakuntala ist kein Kinderspiel.«

»Ein Spiel ist alles Glück, Joe. Wenn unser Herrgott seinen Segen dazu gibt – an dem meinen soll's nicht fehlen! Kundel! Kundel!«

Es gab in den nächsten fünf Minuten keine kleine Verwirrung unter den sieben Eseln. Man mußte sich doch Glück wünschen und die Hände drücken. Und gar ein erster halb öffentlicher, halb heimlicher Kuß ist sehr schwierig, wenn man auf zwei langohrigen Grauschimmeln sitzt, die sich nicht verstehen. Als endlich leidliche Ordnung wieder hergestellt war, hatte sich die Karawane anders gestaltet. Voran ritten ich und Ben, sehr zufrieden miteinander, dann folgte Joe mit dem Dragoman, beide etwas verwirrt durch die jüngsten Erlebnisse. Dann kamen, sehr eng beisammen, Buchwald und Sakuntala und schließlich Fräulein Schütz und Fritschy. Ihnen allein hingen die Köpfe.

So kamen wir am Nil an, und ich vergesse nicht, wie still und klar der Mond auf uns herabsah und eine goldene Brücke über den ganzen Strom schlug, auf der wir sozusagen hinüberzogen, als ginge es in ein Zauberland voll Duft und Silberglanz. Es geht in unserer dampfbewegten Zeit nicht mehr an, auch am spätesten Abend den Tag zu loben. Als wir vor der Veranda bei Shepheard abstiegen, empfing uns Zech, der Gasthofbesitzer, welcher derartige Ausflügler nicht feierlich zu begrüßen pflegte, in ungewohnter Aufregung.

»Endlich! Sind Sie endlich hier!« rief er uns schon von weitem zu, kam sogar, trotz seiner Gicht, die Verandastufen herab und machte einen ungeschickten Versuch, Joe aus dem Sattel zu helfen. »Dreimal hat der Vizekönig nach Ihnen geschickt. Dreimal sind Kawassen und Effendis hier gewesen, um Sie nach dem Ab'dinpalast zu holen.«

»Dich, Joe?« schrie Ben erbleichend. »Nehmen Sie sich in acht, Herr Zeh, was sie sagen!«

»Ah, Herr Ben! Gehorsamster Diener! Ja, daraus wurde ich selbst nicht klug. Herr Dinkär! Herr Dinkär! Schrien sie durch das ganze Haus. Aber welchen Dinkär, das wußte die Esel selbst nicht. Und sogleich, sogleich! Hoaga Dinkär, ekri kedir! schrien sie und jagten wieder davon. Der letzte, der dicke Mustapha Effendi, dampfte förmlich.«

»Ich reite noch heute hinüber!« sagte Ben entschlossen, seinen Esel festhaltend.

»Begehen Sie keine Torheiten!« mahnte ich. »Die Würde des Stauwerks duldet keine Überstürzung. ›Bugra!‹, ›morgen‹ ist das geheiligte Zauberwort jedes weisen Mannes im Lande Mosr. Heute ist im Ab'dinpalast kein Mensch mehr zu sprechen. Wir werden jetzt in aller Ruhe zu Nacht essen und morgen, gegen neun Uhr – früher hat es keinen Sinn – können wir dem Vizekönig unsere Aufwartung machen, wenn wir nicht vorziehen sollten, seine nächste Botschaft in würdiger Ruhe abzuwarten. Alles kommt dem Mann, der wartet!«

Wir genossen ein spätes, unruhiges Abendbrot. Die Wogen beruhigten sich einigermaßen. Ich beschloß, ebenfalls bei Shepheard zu übernachten, um am folgenden Morgen bereit zu sein, mit den Herren nach dem vizeköniglichen Palast zu gehen. Dann trennten wir uns. Buchwald und ich plauderten noch ein Viertelstündchen auf der Veranda; aber das Glück hatte ihn auffallend still gemacht, und auch er ging nach einem stummen Händedruck seiner Muski zu.

Schwer aber würde sich entscheiden lassen, wer von allen, die den schönen Tag mitgenossen hatten, in jener Nacht schlechter geschlafen hat.


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