Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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7. Kapitel
Wie klein die Welt ist

Mansur el Habeschie, mein schwarzer Koch, hatte seine Küche mittlerweile in betriebsfähigen Zustand gesetzt. Er war mit Tee, den stattlichen Resten einer Hammelkeule, mit wohl gepfefferten Pickles, Marmelade und Reis bereit, uns zu erquicken, als der Wagen der Engländer im Dunkel der Tamarisken verschwunden war. Das kleine Festmahl zu Ehren meines Gastes und Freundes war bedenklich einfach, aber es tut wohl, wieder an einem vierbeinigen Tisch zu sitzen, wenn man acht Tage lang auf dem Boden herumgelegen hat, um seine Mahlzeiten einzunehmen, und auch Buchwald schien sich mit meiner Junggesellenwirtschaft rasch befreundet zu haben, obgleich er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, ägyptisches Leben im Urzustande zu genießen. Nach dem Tee wurden zwei Schaukelstühle auf das flache Dach des Hauses gestellt. Dort unter dem Sternenhimmel einer orientalischen Frühlingsnacht ließ sich fast so gut plaudern, wie hinter einem Glas deutschen Biers oder an einem englischen Kaminfeuer.

Still war es allerdings nicht ringsumher. Hinter uns im Garten, vor uns unter den Tamarisken, wo in warmer Feuchtigkeit sich üppig bewässerte Kleefelder ausbreiteten, musizierten Millionen von Grillen und begrüßten den Frühling mit ihren schrillen Stimmchen, die sich zu einem gewaltigen Tutti vereinigten. In dem Teich neben dem Hause sangen hundert jugendliche Frösche in nicht leicht verständlichem, aber unzweifelhaftem Rhythmus das gleiche hohe Lied. – Ein alter Froschgesangkünstler aus dem Vorjahre, musikalisch wenig veranlagt, aber vom besten Willen beseelt, stimmte mit seinem Baß von Zeit zu Zeit kräftig in den Diskant der anderen und erregte, wie nicht mißzuverstehen war, die Heiterkeit der unehrerbietigen Jugend. In der Ferne hörte man das Nachtgebell um Schubra und nach Osten hin, wo uns die Wüste am nächsten lag, gelegentlich den Schrei eines Schakals, dem die feinfühlenden Hunde sofort zornig antworteten. Trotz all dem nächtlichen Lärm lag tiefe Ruhe auf dem ganzen Bild. Der Mond war groß und voll hinter Helipolis aufgegangen und säumte die Baumwipfel unter uns mit bläulichem Licht. Fast taghell trat die nächste Umgebung aus schwarzen Schatten hervor, rechts drüben die schweigenden Mauern der Palastgärten und der mächtige, stalaktitenumsäumte Zinnenkranz von Halim Paschas Harem. Vor uns, in dämmriger Ferne, aber fast so deutlich wie bei Tage gegen den grünlichen Nachthimmel sich abhebend, die Kuppel und die zwei Minaretts der Moschee Mohamed Alis auf der Zitadelle von Kairo und weiter nach Süden, dem Wissenden erkennbar, aber wie hingehaucht in den nächtlichen Äther, die zwei großen Pyramiden von Gise. Über all dem ein Himmel voll wimmelnder Sterne, eine unergründliche Tiefe, eine unergründliche Stille.

Ich konnte das alles seit zwei Jahren fast allnächtlich genießen und doch war es mir heute so neu wie am ersten Tag. So, mit wenigen kleinen Änderungen, war es schon vor tausend Jahren gewesen, so, kaum merklich anders, wird es in tausend Jahren noch immer sein. Das ist das Rätsel der uralten, ewig jungen Natur. Buchwald, der das Bild in dieser Form zum erstenmal sah – ähnliches ist ja unter allen Himmelsstrichen zu finden, nirgends aber spricht es so deutlich wie in diesem ältesten aller Länder –, fühlte den Zauber nicht weniger als ich. So kam es, daß wir in unseren Schaukelstühlen zunächst zehn Minuten lang still nebeneinander lagen und die Nachtluft einsogen. Ein kühler sanfter Nordwind kommt, wie immer um diese Stunde, vom Meere her, oder vielleicht von den Bergen jenseits des Meeres oder gar aus der fernen deutschen Heimat. Wer konnte es wissen, woher diese wohlige Kühle stammte.

»Das ist umgekehrt, aber fast so gut und traulich, wie wenn wir uns in einem Londoner Nebel am Kaminfeuer wärmten«, sagte ich endlich, um wieder auf festen Boden zu kommen.

»Oder wie wenn wir im Moos lägen, bei Heidelberg, im Odenwald«, versetzte mein Freund, dessen mächtiger Brustkasten aufatmete, daß sein Stuhl krachte. Dies war seine Art zu seufzen, wie ich später entdeckte, denn in unserer Londoner Zeit hatte er es noch nicht so weit gebracht.

»Ganz ähnlich!« gab ich, etwas verwundert zu. »Und das beste an der Sache bleibt, daß man in jedem Winkel der Welt etwas von unvergleichlicher Vortrefflichkeit findet.«

»Und verlieren kann, ja!« meinte er kurz und fuhr fort zu schweigen.

»Aber was bringt dich eigentlich hierher, lieber Pinsel«, begann ich nach einer längeren Pause aufs neue. »Wie wär's, wenn wir uns etwas erzählten?«

»Fange getrost an!« antwortete er, ohne sich in der Betrachtung des Sirius im geringsten stören zu lassen, der ihn ebenso beharrlich anblinzelte.

»Gern, denn ich werde rasch zu Ende sein!« sagte ich. »Es ist mir etwas wunderlich gegangen, aber doch einfach genug, seitdem wir uns unter dem Ludgatehill-Viadukt in London trennten. Du mußt wissen, wir sind hier im Lande des Fatums und brauchen uns nur treiben zu lassen; dabei kommt man am weitesten.« Dann erzählte ich ihm die bekannte Geschichte: wie ich meiner Dampfpflüge wegen auf der Fahrt nach Indien begriffen war, wie ich auf dem Wege durch Ägypten den ersten Pflug auf Halim Paschas Gütern, der dem Verderben nahe war, wieder in brauchbaren Stand setzte, und wie dann Halim mich zurückgehalten hatte, um mir ein halbes Jahr später die technische Leitung des ganzen Maschinenwesens auf seinem gewaltigen Grundbesitz anzuvertrauen: eine Aufgabe, die mir seit zwei Jahren manchen Schweißtropfen gekostet, aber auch manche hoffnungsfrohe Stunde gebracht und, was mehr sagen wollte, einen greifbaren Lebenszweck gegeben hatte. Denn Halim Pascha war, soweit ich ihn nun kannte, ein Pionier der vernünftig geleiteten, stetig fortschreitenden Zivilisation in diesem versunkenen, aber unerschöpflichen Lande der ältesten Kultur. Er schien mir weit mehr, als sein ungeduldiger Neffe, der Vizekönig, auf dem richtigen Wege, das hohe Ziel zu erreichen, dem das Land mit aller Macht zusteuerte. An einem solchen Werke mitarbeiten zu können, war mehr als ich vom Leben erhofft hatte. »Und, nebenbei gesagt«, schloß ich unnötigerweise etwas selbstgefällig: »Es lohnt sich, in mehr als einem Sinn!«

»Und befriedigt dich somit doppelt!« sagte Buchwald herzlich. »Man muß dir gratulieren, so oft man dir begegnet. In London, weil du auf dem Wege nach Indien warst, hier, weil du ihn verfehltest. Du warst von jeher ein Glückspilz.«

»Es kam mir nicht immer so vor«, antwortete ich lachend. »In London, zum Beispiel, warst du mir mit deiner kleinen Kindermalerei immer um Pferdelängen voraus. Ich pumpte dich zweimal nicht ohne Berechtigung an, wenn du dich gnädigst erinnern willst.«

»Aber du zahltest schon unter dem Ludgatehill-Viadukt alles mit Zinseszinsen zurück, eine Berechnungsweise, die völlig über meinen Horizont geht!« versetzte Buchwald. »Und die Kindermalerei hat ein klägliches Ende genommen.«

»Brauchst du Geld?« fragte ich.

»Nein!« antwortete er, sehr kurz.

»So schütte dein Herz aus! Unter einem solchen Himmel in einer solchen Nacht sollte dies nicht allzu schwer sein. Denke, du erzähltest die Geschichte dem alten Schech meiner Frösche, der gerade jetzt wieder so jammervoll quakt. Liebesgram! Die Jungen sind ihm wahrscheinlich zu flink. Hörst du?! Das arme Vieh macht keine Mördergrube aus seinem Herzen!«

»Du hast recht. Sein Jammer flößt mir Vertrauen ein; er soll alles erfahren!« sagte Buchwald ernst und drehte seinen Stuhl so, daß er bequem nach dem Teich sehen konnte, in den das Mondlicht zwei leuchtende Streifen zog. Den einen unterbrach ein schwarzer Fleck, vermutlich das schwimmende Blatt einer Seerose. Es konnte auch der Frosch sein. Er lauschte jetzt. Von Zeit zu Zeit aber äußerte er seine Ansicht über die Mitteilungen meines Freundes mit lauter Stimme, was Buchholz höflich anhörte. Dieser hatte halblaut begonnen, ohne sich weiter um mich zu kümmern:

»So wisse denn, o Schech der Frösche!«

Mir aber wurde fast, als gingen wir wieder nebeneinander um das alte Highburykirchlein spazieren, wo er mir ähnliche Kindereien aus dem Stegreif vorspielte, wenn uns beide die trockenen Sorgen des Alltaglebens allzusehr verstimmt hatten.

»Wisse, o klagender Sohn des Schilfs, es ging mir mehr als gut, so lange dein Deichhauptmann, der Baschmahandi, wie du ihn zu nennen scheinst, noch mit mir in London hauste. Die Kindermalerei gedieh über alles Erwarten, was wohl daher kommen mochte, daß in jenem fruchtbaren Lande immer neue Kinder aufkeimten, so daß auch der fleißigste Künstler nicht mit ihnen Schritt halten konnte. Eine Mutter sagte es der andern, und meine Kleinen hätten sich gemehrt wie der Sand am Meer, wenn ich ein gewissenloser Handwerker und Geldfabrikant gewesen wäre. Aber ich verlor zum Glück den Kopf nicht und hütete meine Künstlerehre, so gut ich konnte. Dabei wuchs die Qualität meiner Kinder: sie wurden immer plutokratischer, immer blaublütiger. Unter ein Herzogskind ging ich nur noch, wenn mich die Mutter bezauberte und ein Citymagnat oder ein ostindischer Indigokönig mußte mir sein sechsmonatliches Baby mit Gold aufwiegen. In Middletonsquare war für mein Atelier kein Raum mehr. Ich brauchte einen größeren Trockenplatz für meine Leinwand und nahm eine Wohnung in St. Johns-Wood, wo man mir bald auch größere Kinder aufzudrängen suchte. Du glaubst nicht, alter Sohn des Papyros, wie leicht das alles geht, wenn man einmal im richtigen Fahrwasser ist. Man schämt sich fast vor sich selber, kann sich aber nicht helfen. Wer in Mode kommt, darf darauf rechnen, darin unterzugehen, wie in jedem andern Sumpfe, wenn er nicht ein Frosch ist, wie du, oder eine höhere Fügung ihn rettet.

Die Rettung kam, aber in einer Form, die vielleicht schlimmer war als das Übel, dem ich entgegen trieb. Eine millionenschwere Chininfürstin empfahl mich einer Villa in Stoke-Newington. Es war das merkwürdigste Haus, das sich mir je geöffnet hat, obgleich ich längst gewöhnt war, die wunderbarsten Kinderstuben ruhig und gefühllos zu betreten. Die Wohnung war halb indisch eingerichtet. Elefanten aus Elfenbein und kostbare Drachen aus Bronze saßen in jeder Ecke. Palmen, Mimosen und Gummibäume rankten und reckten sich unter dem stattlichen Glashaus des Gartens, in dem Tropenvögel hin und her schwirrten. Zwei zutrauliche Affen machten jedem nervösen Besucher das Leben zur Qual. Dabei war alles so eingerichtet, daß man nur einen Knopf zu drücken brauchte, um die verwunderlichsten Wandlungen hervorzurufen. Doch mußte man mit Vorsicht drücken und wissen, was man tat. Denn beim Berühren eines blauen Knopfs kam ein Spieltisch aus dem Boden, ein grüner brachte Pantoffeln aus der Wand. Drückte man einen gelben, so wurde man in den zweiten Stock hinausgeschoben, drückte man zweimal, so gings in den Keller. Alles per Dampf, und einiges sogar schon mittels Elektrizität. Das Haus gehörte nämlich einem großen Erfinder, der zugleich, wenn ich meine Ansicht ehrlich aussprechen soll, ein halber Narr war. Zur Zeit, als ich ihn kennenlernte, beschäftigte er sich mit einer Flugmaschine, die mir viel Spaß, ihm aber schwere Sorgen machte und seinem Kutscher ein gebrochenes Bein eintrug. Schade, o Sohn der trüben Gewässer, daß du dich fürs Fliegen weniger interessierst, sonst könnte ich dir hier ein hübsches Geschichtchen erzählen.

Das Schönste im Hause aber war ein Kind, das jedoch kaum mehr zur Gattung der Kinder gerechnet werden konnte. Sie mochte zwölf, dreizehn Jahre zählen und konnte, dem Aussehen nach, fünfzehn oder sechzehn sein und selbst darüber. Wie soll ich sie dir aber beschreiben, Bruder des Papyrus, wenn ich bedenke, daß dein Maßstab für das Liebreizende immerhin ein anderer sein muß als der unsere. Zwar weiß ich, daß auch du, trotz deines kühleren Blutes und reifen Alters die Liebe kennst; dein jammervolles Quaken bezeugt es laut. Auch ist ein entfernter deutscher Vetter von dir seinerzeit einer wunderschönen Prinzessin beharrlich nachgehüpft, bis er sein Ziel erreichte. Doch ist dies nur eine Sage, und man weiß nicht, was Wahres daran ist. Glaubhafter wird dagegen erzählt, daß deine Ahnen hierzulande der Schrecken eines Pharaos und seines ganzen Volkes gewesen sind, und dies hat dich uns und unserem Geschlecht schwerlich näher gebracht. So glaube meinen Worten, auch ohne sie zu verstehen. Geht es mir mit deinem Gequak nicht ähnlich?

Sie erschien mir wie ein rätselhaftes Wesen aus dem Morgenland, halb Mensch, halb Fee. Schlank und zierlich, wie eine Gazelle. Ein Gesicht von griechischem Profil, stolz und sanft, ernst und lächelnd, bald wie glühender Sonnenschein, bald wie ein warmer, vom Mond bestrahlter Regenschauer. Kohlschwarze Haare, dunkelblaue Augen und eine wunderbare Haut. Du weißt, Papyros, ich bin Maler, und du hast mir in diesem Punkte mit Andacht zuzuhören. Ich hatte vielleicht zu viele milch- und erdbeerfarbene Häutchen malen müssen, so daß ich sie fast haßte. Ihre Haut war weiß und durchsichtig wie Glas, und durch das Glas schimmerte ein Goldbraun, das nicht von dieser Welt war. Du verstehst mich nicht? Ich habe nichts anderes von dir erwartet.

Dabei ein munterer, treuherziger, kindlicher Sinn, der in jedermann und in jedem Ding einen Freund und Spielgenossen sah und in einer halben Stunde mit mir so vertraut war, als sei ich ihr älterer Bruder. Dem Namen nach war sie eine Engländerin, in Wirklichkeit stammte sie aus Indien. Auch hatte sie noch eine echte Ajah aus Rajputana um sich, die ihr den Kopf mit den Märchen ihrer Heimat verdrehte, so daß die deutsche Erzieherin, eine gute, hausbackene, praktische, kleine Dame, die sofort den Landsmann in mir erkannte und ins Herz schloß, die liebe Not mit ihr haben mochte. Trotz allem Fremdartigen aber war sie ein natürliches Kind, wenn auch die Gouvernante behauptete, Sakuntala –«

»Was?!« rief ich, fast entsetzt.

Buchwald drehte sich um und sah mich fragend an.

»Sakuntala!« sagte er dann langsam und schwermütig. »So hieß sie: Sitta, Sakuntala. Ein langer Name, den ihr Onkel, der Erfinder, jammervoll verhunzte. Er glaubte, auch sprachlich praktisch tätig sein zu müssen. Aber laß mich weiter erzählen. Die Geschichte fängt endlich an, interessant zu werden, so daß selbst mein kühler Freund dort unten im Teich Ungeduld verrät.

Ich kam jede Woche zweimal nach Stoke-Newington. Das Atelier hatten wir im Gewächshaus aufgeschlagen. Dort saß die Kleine unter einem Palmbaum, zwischen wunderlichen Orchideen und trotzigen Kaktusstauden. Eine lebende zahme Schlange hauste in der Nähe, die harmlos, bald über die stachligen Kaktusblätter, bald über ihre zierlichen Arme glitt und sich manchmal neugierig mit meinen Ölfarben beschäftigte. Ich habe die Anmut der Schlangen von jeher bewundert und nie die törichte Abneigung gegen die stillen, prächtigen Tiere empfunden, mit der man bei uns kokettiert. In der ersten Sitzung zeigte mir Sakuntala das schöne Geschöpf und fragte schmeichelnd: ›Könnten Sie meinen Indra liebhaben?‹ Und als sich das glänzende Wesen ohne Umstände um meine linke Hand wand und ich es mit dem Pinsel streichelte, da waren wir drei gute Freunde und es war beschlossene Sache, daß auch Indra auf der Leinwand erscheinen müsse.

Sie war das geschickteste und willigste Kindermodell, das mir je gesessen, ich wohl auch der in seine Aufgabe versunkenste Künstler, der je ein Elfenkind gemalt hat. – Noch mehr; fast muß ich sagen, leider noch mehr! In den Stunden, die ich in Stoke-Newington zubrachte, wurde mir zum erstenmal klar, was die Kunst von uns armen Sterblichen verlangt. Nicht Arbeit, unermüdliche Arbeit von Kopf und Hand; nicht Hingabe der ganzen Seele. Auflösung! – Schrei nicht so laut, o Sohn des Papyros, auch wenn du wieder einmal nichts davon begreifst! Zum erstenmal erfaßte mich das heilige Feuer, in dessen Glut große Künstler reifen, aber auch das ganze Elend, Tag für Tag vor einer Leinwand zu stehen und nicht zu erreichen, was uns vorschwebt, was wir vor Augen sehen. – Sie war geduldig wie ein Lämmchen und saß mir für drei Aufnahmen. Nach den Sitzungen sprachen wir in Märchen. Sie erzählte glaubhafte Schlangen- und Affengeschichten ihrer Heimat voll wunderlicher Poesie und fremder, altkluger Weisheit. Ich holte unseren ganzen deutschen Grimm hervor, durch dessen volkstümliche Sagen etwas wie eine Ahnung uralter indischer Phantasien läuft. Es war Sakuntalas Hauptvergnügen, nach freiem Belieben die grotesken, germanischen Gestalten in die Helden- und Tiergeschichten ihrer indischen Heimat zu verflechten, während ich für das wundervolle Oval des Gesichtchens, für die ruhelosen Züge, für die tiefen Augen umsonst nach Form und Farbe suchte. Ich weiß nicht, ob ich mich damals verliebte. Sie war wirklich noch ein Kind und ich wurde es mit ihr. Aber in einen Zustand kam ich, der sich nicht in Worte fassen läßt. Meist war mir, als habe ich mich selbst wieder gefunden, in der Kindheit eines früheren Lebens, fern, fern von allem, was heute um uns vorgeht. Verstehst du ein Wort von all' dem, alter Sohn der lauen Nilflut?

Meine Bilder machten schlechte Fortschritte. Nichts wollte gelingen, so fleißig ich vom frühen Morgen bis in die späte Dämmerung an der Arbeit war. Sie wären heute noch nicht fertig, wenn mir nicht eines Tags die Erzieherin mitgeteilt hätte, daß sie in kurzer Zeit mit dem Kind nach Schottland gehen werde und beide mindestens auf ein Jahr London verlassen müßten. Es waren etwas eigentümliche Verhältnisse, in denen sich die ganze Familie zu bewegen schien. Der Vater der Kleinen, ein Bruder des Erfinders, muß in Indien als steinreicher Mann gestorben sein. Er hinterließ sein einziges Kind und die Verwaltung seines Vermögens zwei Brüdern, mit der Bestimmung, daß Sakuntala abwechselnd je ein Jahr bei jedem ihrer Onkel leben möge, bis sie mit ihrer Volljährigkeit in den Besitz der Hälfte ihres väterlichen Vermögens treten sollte. So ungefähr erklärte mir die Erzieherin den Stand der Dinge und die Ursache, welche sie zwang, die schöne Villa in Stoke-Newington mit einem gottverlassenen Dorf im schottischen Hochland zu vertauschen. Daran war nichts zu ändern. Mit blutendem Herzen lieferte ich eins der Bilder ab und erhielt einen fürstlichen Scheck für das Werk, das mich zur Verzweiflung brachte, wenn ich es ansah. Das letzte Märchen wurde unter dem Palmbaum ausgesponnen, während Indra sich unruhig um unsere Hände schlang, als ahnte sie die Trennung. Es war ein hübsches Märchen; aber etwas zu lang für Fremde, und traurig. Ich werde es dir ein andermal erzählen, Papyros.«

»Du erzähltest deine Geschichten ruhiger, als wir noch in Middletonsquare zusammen wohnten, Buchwald!« sagte ich endlich, selbst etwas bewegt; denn der Humor, mit dem er den Frosch ins Gespräch zog, schien mir erzwungen, und seine Stimme zitterte.

»Das will ich meinen!« antwortete er, mit erkünstelter Gleichgültigkeit. »Man muß fieberfest sein, wenn man täglich mit Indra in Berührung kommt und ich erfuhr zu spät, daß ich dies nicht war. Doch was war zu machen? Alles nahm seinen vorgeschriebenen Verlauf, wie die Dinge auf einem Eisenbahnfahrplan. Bei meinem letzten Besuch in Stoke-Newington waren Kind und Gouvernante schon über Berg und Tal. Mister Ben Thinker, der Onkel, hatte ein neues Flügelpaar erfunden und wollte es mir mit Gewalt anschnallen. Aber ich widerstand und habe seitdem die Villa nie mehr besucht. Das heißt – um genauer zu sein –, ich stand wohl zehnmal vor dem phantastischen Eingangstor, und drückte an allen Knöpfen, mit denen es noch heute ausgestattet ist. Aber keiner wirkte. Das Haus steht leer, seit Jahren. Thinker reist viel. Vielleicht fliegt er schon. Jedenfalls ist er verschwunden.

Wochenlang war ich außerstande, etwas zu malen. Dann nahm ich die zwei Bilder vor, die mir aus der Märchenzeit geblieben waren und malte aus der Erinnerung. Wie oft ich sie wegwarf, wie oft ich sie wieder vornahm, kann ich nicht sagen. Das eine blieb ein Kinderbild mit dem Gewächshauspalmbaum, und dem Kaktusfeigenbusch in einem grünen Kübel. Es brachte mir eine kleine goldene Medaille und alle erdenklichen Lobsprüche. Auf dem andern wurde das Kind immer größer und ernster, eine wahre Sakuntala in dem Märchenwald, in dem der indogermanische Mensch vor vielen tausend Jahren aus seinem Halbschlummer erwacht ist. Das war die Zeit, als die eine Hälfte von uns noch nicht nach dem kalten Norden, die andere noch nicht nach dem brennenden Süden gewandert war. Niemand wollte dieses Bild verstehen; aber oft war es, als habe es mein Herzblut gekostet. Milch half nichts. Turnen half nichts. All die Dutzend kleiner, niedlicher englischer Püppchen, die ich seitdem zu malen hatte, und die mir emsig die Geldtasche füllten, halfen nichts. Ich wurde regelrecht melancholisch. Und schließlich sagte mir ein deutscher Arzt, dessen Zwillinge ich aus Freundschaft um meinen niedersten Einheitspreis kopierte: Das einzig Richtige für mich sei, einen andern Himmel aufzusuchen. Ich glaube, er hatte recht. Schon in Triest, als ich an den kahlen Bergwänden die ersten Mandelbäume blühen sah, wurde mir's leichter, und entlang der griechischen Küste merkte ich, daß die Welt doch noch nicht so leer war, wie ich gefürchtet hatte.«

Schon seit einigen Minuten war ich Buchwald kaum mehr gefolgt, so sehr beschäftigte mich ein innerer Kampf mit mir selber. Sollte ich sprechen, sollte ich schweigen? Meine Überzeugung stand fest, daß ich vor noch nicht sechs Stunden an der Seite seiner indischen Prinzessin gesessen, daß er vor einer kleinen Stunde in seiner Verblendung die Reste derselben Hammelkeule gleichgültig zurückgewiesen, die ihre Lippen berührt hatten. War ich verpflichtet, ihm dieses Geheimnis mitzuteilen, oder sollte ich ihn milde hintergehen und dem dunklen Geschick seinen Lauf lassen; wofür sich in der Tat hundert Gründe anführen ließen? – Hundert Gründe? – Nein; wenn ich ehrlich sein wollte, wozu ich wenig Lust verspürte, so war es nur einer. Heiß und hell stand es plötzlich vor mir, welchen Eindruck dieses Wesen auch auf mich gemacht hatte. Es war nicht meine Aufgabe, Buchwald und Sakuntala zusammenzuführen. Ich hatte keine Zeit zum Überlegen, aber ich beschloß, zunächst mit der äußersten Vorsicht vorzugehen und fragte:

»Du hast in diesen zwei langen Jahren keinen Versuch gemacht, sie wiederzusehen?«

»Kaum«, sagte er düster. »Ich hatte nicht den Mut dazu und sah keinen Zweck dabei. Für mein erstes Bild brauchte ich keine Sitzung mehr, und für das zweite war sie nicht das richtige Modell – noch nicht. Das mußte ich aus dem eigenen Kopf malen. Es wurde ihr dabei allerdings ähnlicher als das erste. So kam alles durcheinander! – Und dann – ich war ja nicht verliebt.«

»Nicht verliebt!« rief ich entsetzt. »Mensch, du bist von Sinnen. Du brauchst einen Irrenarzt. Du warst verliebt bis über die Ohren, du bist es noch und ich fürchte, du wirst es bleiben, wenn das ägyptische Klima kein Wunder wirkt. Weißt du denn nicht, was das heißt? Bist du nie zuvor verliebt gewesen? Hand aufs Herz?«

»Wenn verliebt sein das ist, was ich seit zwei Jahren bin, so bin ich's nie zuvor gewesen«, sagte Buchwald feierlich. »Aber ich bin nicht verliebt. Eine unerklärliche Sehnsucht zieht mir die Seele aus dem Leib. Das ist alles. Ich weiß, es würde nicht anders, wenn ich das Kind wiedersähe. Es ist wahr, die Sehnsucht knüpft sich an alle möglichen Erinnerungen: kleine äußerliche Dinge, ein Wort, eine Bewegung, einen Blick, einen wunderlichen Gedanken, wie sie manchmal Kinder haben und große Träumer.«

»Wie du einer bist!«

»Daß ich nicht wüßte! Ich bin der kühlste Mensch der Welt. Auf unseren Londoner Spaziergängen hast du selbst mir dies hundertmal vorgeworfen, wenn du hinter jedem Fenster hübsche Mädchen sahst, und ich nur Kinderköpfe verschiedenen Alters. Nein; ich habe nicht nach ihr gesucht. Das heißt – statt um unser Kirchlein in Highbury strich ich wohl manchmal um die leerstehende Villa in Stoke-Newington, notierte mir auch ihre Adresse in Schottland, die die Gärtnersfrau kannte, welche das vereinsamte Haus bewachte. Einmal schrieb ich sogar einen Brief an die Erzieherin, voll sogenannten Humors, mit dem Gefühl eines Jungen, der beim Äpfelstehlen ertappt wird. Er blieb unbeantwortet. Entweder war der Humor nicht von der richtigen Sorte oder die Wandervögel waren weitergezogen. Ein andermal glaubte ich, im Kristallpalast zu Sydenham eine Gestalt zu sehen, bei deren Anblick mir ein elektrischer Schlag durch den ganzen Leib fuhr. Es war in der Dämmerung des maurischen Hofs, hinter dem Alhambrabrunnen, und ich konnte mich getäuscht haben. Sie war unter den Säulen der kleinen Halle verschwunden, ehe ich mich zusammenschütteln konnte. Ja, damals! – damals lief ich eine Stunde lang wie besessen durch alle Höfe und Winkel des Riesenbaus, bis es gespenstisch still und einsam wurde und mich ein Aufseher gewaltsam hinauskomplimentierte. Gefunden hatte ich sie nicht. Dagegen war ein schwerer Rückfall in meinem Zustand eingetreten, so daß ich mir mit aller Gewalt vornehmen mußte, die Gegend um Sydenham nicht weiter abzusuchen. Wohin sollte das führen? – Es gelang auch. Der Mensch kann viel, wenn er will, Eyth. Selbst sterben.«

Buchwald sagte dies so ernsthaft, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihm mit einem wohlverdienten schlechten Witz zu antworten. War er am Ende einer vom Stamme der Asra, dieser Germane? – Das schien doch ganz unmöglich. Aber es war mir jetzt klar geworden, daß ich ihm mitteilen mußte, was ich wußte.

»Es ist ein kurioser Fall!« sagte ich einleitend und konnte dabei eine gewisse Besorgnis nicht ganz verbergen. »Möglich, daß du ein wenig krank bist.« – Ich deutete an meine Stirne, was er nicht bemerkte, da er sich wieder nach seinem Vertrauten, dem Frosch, umsah, der gerade ein entsetzliches Gequak anstimmte. »Daß du ernstlich krank bist, möchte ich nicht schlechtweg behaupten. Solche Zustände sind vorübergehend, hoffe ich. Du hast dich zu wenig mit der bessern Hälfte des Menschengeschlechts beschäftigt, alter Freund. Du weißt, ich warnte dich schon vor Jahren. Und nun kommt es über dich, in einer akuten Form, die mit Vorsicht behandelt sein will. Ohne kleine Erschütterungen wird es nicht abgehen. Aber du bist groß und kräftig, und kannst noch immer etwas aushalten, so kläglich du dich auch gebärdest.«

»Unmensch! Du bist schlimmer als dein Frosch!« brummte der Maler. »Hast du eine Silbe von dem verstanden, was ich dir erzählt habe?«

»Nein«, antwortete ich ruhig; »ich bin allerdings kein Frosch, bei dem du Verständnis und Teilnahme erwarten kannst. Aber würdest du dich wundern, wenn ich dir dazu verhülfe, deine indische Prinzessin am Nil wiederzufinden?«

Er drehte sich rasch um, so daß sein Schaukelstuhl fast umkippte und faßte meine Hand. Etwas in meiner Stimme mußte ihm verraten haben, daß ich ihm eine gewichtige Mitteilung zu machen hatte.

»Im Zusammenhang mit dem Kind ist nichts unmöglich«, sagte er, mit erkünstelter Fassung. »Laß einmal hören!«

»Den Eindruck eines Kindes hat sie nicht auf mich gemacht«, erklärte ich. »Übrigens müssen es jetzt volle drei Jahre sein, seitdem ihr deutsche und indische Märchen austauschtet. Das macht immerhin einen Unterschied.«

»Ich wollte, es machte keinen!« meinte der Maler nachdenklich.

»Ein echter Malergedanke!« rief ich. »Du bist für haltbare Farben und solide Leinwand. Lieber Freund, das Leben malt nicht in Öl, daran mußt du dich gewöhnen. Was du gestern sahst und morgen sehen wirst, sind zwei sehr verschiedene Bilder; oft kaum mehr zum Wiedererkennen. Darin sehe ich einige Hoffnung für dich. Sonst hätte ich nicht gesprochen.«

»Aber was wolltest du sagen?« drängte Buchwald, vorwurfsvoll. »Kannst du nicht einen Augenblick ernsthaft sein?«

»Der Schein trügt; ich bin es immer«, antwortete ich, mit der Entschiedenheit innerster Überzeugung. »Und du sollst sogleich erfahren, wie sehr.«

Dann erzählte ich ihm, was ich in den letzten zwölf Stunden erlebt hatte. Er machte während meines Berichts mehrere Versuche, mir die Finger zu zerquetschen, hörte ihn aber im übrigen mit löblichem Stillschweigen an. Stimmte doch alles wunderbar. Es war nicht wahrscheinlich, daß auf diesem Erdball gleichzeitig zwei rothaarige Ben Thinker herumliefen, von denen der eine in Stoke-Newington Flugmaschinen, der andere im Nildelta Steuersegelapparate in die Welt setzte. Auch Fräulein Schütz, die deutsche Erzieherin, war uns beiden bekannt. Nur meine Schilderung Sakuntalas entsprach den Ansprüchen meines armen Freundes kaum. Ich hatte, nach seinem Urteil, nicht annähernd die richtigen Farben aufgetragen, die ihr Bild erforderte. Einiges wollte überhaupt nicht stimmen, z. B. daß sie einen niedlichen, gesunden Hunger an den Tag gelegt hatte, als mein Fellahschaf auf der Tafel erschien. Das war völlig unglaublich. Lotosblätter in Rosenöl, zur Not, Blutorangen – ja; aber Hammelkeule! – Von Zeit zu Zeit zeigten sich bei ihm doch beruhigende Spuren eines ganz gewöhnlichen Anfalls.

»Und was gedenkst du nun zu tun«, fragte ich zum Schluß, »wenn du mir für meine unschätzbaren Mitteilungen die Hände genügend blau gedrückt hast?«

Buchwald lag drei Minuten lang still in seinem Stuhl und rührte sich nicht. Ich konnte warten.

Dann sagte er gepreßt: »Was würdest du mir raten?«

»Zu was bist du eigentlich nach Ägypten gekommen?« fragte ich.

»Um mich zu erholen; um andere Gedanken zu bekommen«, war die Antwort. »Gerade nach Ägypten? Das war eigentlich Zufall. In Korfu war ich auf dem Sprung, nach Sizilien und dann nach Algier zu gehen.«

»Wie wär's, wenn du so fortfahren wolltest?« meinte ich, ermunternd. »Erhole dich; bekomme andere Gedanken; laß den Zufall ein wenig weiter regieren. Du kannst dich nicht beklagen, daß er dich bisher schlecht bedient habe, vielgeprüfter Pinsel. Und um mit all dem anzufangen, schlage ich dir vor, jetzt zu Bett zu gehen.«

Ich sprang auf. Er folgte langsam, nicht allzu willig. Man stieg in einer Frühlingsmondnacht ungern von meinem Dach herunter. Aber der Tag war lang genug gewesen, und fast schien es, als ob es im Osten schon dämmern wollte. Das ging gegen alle Grundsätze eines soliden Arbeiterlebens, das seit Jahren mein beneidenswertes Los war.

Unten, über einem der Diwans des Besuchszimmers war ein Moskitozelt aufgebaut und ein vortreffliches Lager für Buchwald aufgeschlagen. Meine Leute hatten diese Aufgabe nicht zum erstenmal zu lösen und verstanden sich darauf. Während ich ihm gute Nacht und die schönsten indischen Träume wünschte, fiel mein Auge auf den Tisch in der Mitte des Zimmers, auf dem zwei Visitenkarten lagen, die ich bis jetzt nicht bemerkt hatte. Gleichgültig griff ich danach. Die eine war die wohlbekannte O'Donalds, die er wohl hier niedergelegt hatte, während er und der Doktor auf mich warteten. Die zweite mußte die seines Begleiters sein. Ich las sie, mit halbgeschlossenen Augen, denn die Rechte eines allzu vollen Tages machten sich gebieterisch geltend. Aber ich riß sie wieder auf – Mund und Augen – und bot die Karte Buchwald hin. Dies war eine Überraschung! Ich mußte jemand haben, der mir lesen half, denn auf der Karte stand; »The Rev. d Dr. Josef Thinker. Pyramid Villa Sydenham!« – – –

»Also nicht Finke, Thinker hieß mein Gast, Joseph Thinker!« rief ich und schüttelte Buchwald an beiden Schultern. »Joseph Thinker, der Bruder unseres Erfinders!«

»Ihr zweiter Onkel!« keuchte der Maler, und starrte mich dabei bleich und sprachlos an.

»Aber jetzt zu Bett! Schnell!« drängte ich. »Wer weiß, was sonst heute noch passiert.«

Und wahrhaftig: meine Angst schien voll berechtigt zu sein. Draußen im Garten wurde es lebendig. Man hörte Stimmen: das schläfrig kreischende ›Wachet!‹ (Bekennet!) das Boab, heftiges, halblautes Reden und Gegenreden, die schlürfenden Tritte meines Kochs, der aus dem Nebenhaus herbeigeeilt kam; dann das Aufreißen der Türe im Eßzimmer. All das war unerhört um diese Stunde. Ich eilte hinaus, um zum mindesten zu hören, daß Schubra in Flammen stehe, oder eine Beduinenhorde in den Garten eingebrochen sei.

Beides war nicht der Fall. Ein alter, fremder, eher geängstigt als bedrohlich aussehender Fellah und ein erschöpftes Eselchen standen klagend vor dem Gartentor. Der Mann bestand darauf, den Baschmahandi ohne Verzug zu sehen. Das zu erreichen habe er gegen die Zusage eines hohen Bakschischs unternommen, und sei vier Stunden geritten, ohne anzuhalten, trotz der Angst vor Waldteufeln und Nachtgespenstern, die ihn fast umgebracht habe. Mein gesamtes Dienstpersonal war jetzt um ihn versammelt, bewunderte seinen Mut, weigerte sich aber laut und entrüstet, mich in meinem Schlummer stören zu lassen.

Der Mann nahm, als er mich sah, seinen ärmlichen Turban ab, und aus demselben ein abgerissenes Blättchen Papier, das er mir nach feierlicher Begrüßung trotz der tiefen Dunkelheit mit dem Wunsch überreichte, daß mein Schatten nie kürzer werden möge. Man hatte Lebensart in Kaliub. Der Zettel stammte aus einem Taschenbuch und war mit Fritschys wohlbekannten Krähenfüßen bedeckt. Beim Schein einer Laterne, die der Koch hochhielt, entzifferte ich folgende Botschaft:

›Monsieur!‹ – wenn es galt, höflich zu sein, zog der wackere Monteur leider seine adoptierte Muttersprache der angeborenen vor, soweit es irgend möglich war – ›Wollen Sie die complaisance haben, uns par le porteur den Theodolit zu schicken, si vite que possible, s'il vous plaît. Mr. Thinker will prendre des mesures, (niveau d'eau etc.) pour ses études an dem Barrage. Auch sagt er: wenn Sie ihm in Kairo oder Alexandrien einen Zeichner oder sonstigen Künstler auftreiben könnten, il le payera très cher, volontièrement. Am Nötigsten fehlt es dem Monsieur nicht. Quant à moi – les dames sont charmantes. C'est dangereux, mais je me porte très bien. Agréez, Monsieur, etc. Fritschy.‹

Buchwald hatte mir über die Schulter gesehen und half lesen.

»Da haben wir's: eine Kollision in bester Form!« sagte ich, als dies geglückt war, und sah ihn kopfschüttelnd an. »Und du stehst als Herkules am Scheideweg. Dem einen Onkel hast du vor zwei Stunden versprochen, das verhängnisvolle Instrument morgen in Kairo zu übergeben, dem andern kannst du es gleichzeitig nach Kaliub bringen und dich als Zeichner und Künstler für alles vorstellen; ganz nach Belieben. Schleunigste Abreise nach Sizilien wäre vielleicht der dritte und rätlichste Ausweg. Der Scheideweg läßt nichts zu wünschen übrig. Ob du dich als Herkules bewähren wirst, muß sich bald zeigen.«

Er besann sich.

»Was würdest du tun, Eyth? Der Theodolit ist dein Eigentum!« sagte er endlich, mit einer Unsicherheit, die bewies, daß er nicht mehr der gesunde Turn- und Kraftmensch war, den ich früher gekannt habe. O Liebe, wie viele hast du schon auf dem Gewissen!

»Was ich täte –? Zu Bett gehen!« sagte ich entschlossen. »Beschlafen wir den Fall. Es ist genug für heute.«

Er drehte sich um, ohne ein Wort zu sagen, und ging seiner improvisierten Lagerstätte zu wie ein großes Kind, das er war. Ich sorgte rasch dafür, daß dem Roß und Reiter aus Kaliub die Gastfreundschaft des Orients zuteil wurde und sperrte beide in den geräumigen Eselstall, der mir zur Verfügung stand. Dann aber, anstatt mich niederzulegen, kehrte ich auf das Hausdach zurück, wo ich gewohnheitsmäßig verwickelte Fragen zu überlegen pflegte.

Hier oben bleibt immer alles beim alten, das gibt dem Menschen die nötige Ruhe. Der Mond stand jetzt fast in Scheitelhöhe und goß seinen Silberglanz ungestört über die weite Welt. Die Grillen zirpten ohrbetäubend, die Frösche, voran der Sohn des Papyros, den ich jetzt persönlich aus Hunderten herauskannte, quakten mit aller Macht und die fernen Hunde bellten. Und doch versank das alles unter dem flimmernden Firmament wie in einer unermeßlichen Stille.

Auch in mir wurde es stiller, nach einem kleinen Kampf. Selbstverständlich! Es war ja der reine Unsinn, der mich vor einer halben Stunde bewegte. Buchwald hatte ältere Rechte, dort drunten an der Barrage, die ihm kein guter Freund gefährden würde, selbst wenn er es könnte. Dieser Punkt ist abgemacht!

Wie groß, wie unendlich groß die Welt ist. Sollte dies nicht jedem genug sein? – Und auf diesem Fleckchen muß ein halbes Dutzend Menschen zusammenstoßen, die in allen Himmelsrichtungen zerstreut waren und nicht daran dachten, sich hier zu begegnen; müssen sich zusammenfinden, zu Freud oder Leid; wer kann's wissen?

Wie klein die Welt ist!


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