Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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12. Kapitel
Ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht unserer Zeit

Für Buchwald sollte die Cheopspyramide von der Königskammer bis zur Spitze an diesem Tag eine unvergeßliche Bedeutung erhalten. Sieben Worte, die er in ihrem Innern gehört hatte, waren ihm tief ins Herz gedrungen und hatten ihn mit hoffnungsseliger Freude erfüllt. »Sakuntala, vor drei Jahren« – hatte er gesagt. »Ja«, hatte sie geantwortet, »es war eine lange, lange Zeit.« Das waren genau sieben Worte, würde, mit vielsagenden Blicken, sein Freund Joe Thinker bemerkt haben, wenn es sich um die Pyramide gehandelt hätte, obgleich ihm fünf lieber gewesen wären. Und es handelte sich um weit mehr!

Die Pyramide aber fuhr fort, in ihrer Weise mitzuspielen. Die Königskammer, mit ihren Rätseln, lag hinter ihnen. Auf ihrer Spitze sollte der Maler eine Geschichte aus unsern Tagen hören, voll wilder Poesie und blutiger Farbenpracht, die ihm noch tiefer ins Herz schnitt als die sieben Worte.

Scheherazade, die Königin der Märchenerzähler, weiß von Helden zu berichten, die im Handumdrehen von Ägypten nach Indien, von Kairo nach Delhi fliegen und in Bagdad, auf dem Weg durch die Lüfte, ein kleines Abenteuer mitnehmen, um keine Zeit zu verlieren. Was ihnen hierzu verhalf, war die Macht der Genien und die List und Gewalt der Afritis; doch sie, samt der Poesie jener Zeiten, sind dahin. Die Schwere der Materie, der die Menschheit heute dient, hat sie vernichtet. Welt und Leben sind kühl und träge geworden, so daß wir in Büchern, bei Römern und Griechen, bei Arabern und Indern suchen müssen, wenn wir etwas vom frischen Hauch lebendiger Phantasie verspüren wollen. So lehrte Joe Thinker in mancher Viertelstunde, die ihm seine Pyramidenstudien übrig ließen, und Buchwald war nahe daran gewesen, ihm zu glauben. Er glaubt ihm nicht mehr, seit jenem fünfzehnten Tag auf dem Pyramidenfeld zu Gise. Tausendundeine Nacht lebt noch, im harten, grellen Sonnenlicht unserer Tage. Wie kommt es doch, daß es Millionen gibt, die dies nicht sehen wollen?

Wie Buchwald eines Besseren belehrt wurde? – Das kam so:

Die Gesellschaft war der Einladung Joe Thinkers willig gefolgt, um den Höhlenwohnungen der Einsiedler einen Besuch abzustatten. Während die Grabkammern und ihre Einrichtung unter fröhlichem Geplauder besichtigt wurde, wobei Fräulein Schütz auch die geringsten Einzelheiten mit sachkundigem Interesse prüfte und nichts einer wohlwollenden Kritik entgehen ließ, hatte sich Jakub ben Musa, der Koch, in aller Geschwindigkeit selbst übertroffen. Ein mit Berücksichtigung der Verhältnisse würdiges Gastmahl konnte nach einer halben Stunde seinen Anfang nehmen, und Fräulein Schütz mußte zugestehen, daß unter ganz außerordentlichen Umständen selbst die Küche ohne weibliche Oberaufsicht ein menschenwürdiges Dasein zu bekunden vermöge. Im kühlen Halbdunkel des Jägergrabes ließ sich auf dem Feldtischchen und den zusammengerückten Koffern das etwas mannigfaltige Tischgerät, das Jakub und Ben Thinkers Dragoman herbeizuschaffen wußten, in eleganter Vollständigkeit entfalten, und bald trat eine wirkliche, wenn auch gedämpfte Heiterkeit an die Stelle der Spannung, welche die Gesellschaft noch auf dem Weg von der Pyramide hier her beherrscht hatte. Die Brüder schienen zu einem stummen Übereinkommen gelangt zu sein, die Ursache ihrer Verstimmung vorläufig nicht zu berühren. Sie erzählten sich Knabenstreiche und lachten über die Kämpfe, die der früh hervortretende Unterschied ihrer Neigungen herbeigeführt hatte. Erinnerst du dich, Ben – weißt du noch, Joe – flog es hin und her, und dann folgte die Schilderung einer Schlacht, sei es mit Büchern, sei es selbst mit gröberen Waffen, in der sich gewöhnlich der ältere Bruder mit dem moralischen Siege begnügen mußte. Es waren ja vergangene Zeiten. Auch das Unangenehme kann in der Erinnerung zum Genuß werden, wenn es in der Morgensonne der Jugend wieder aufleuchtet. Und die alte schottische Heimat, Glenisloch und die Ufer des Mulardoch mit ihren Nebeln, ihrem Regen und Schnee, nahmen sich nicht übel aus, in dieser Umgebung, über der draußen die ägyptische Nachmittagssonne brütete, während die Reflexlichter der gelben Wüste durch das bläuliche Dunkel der Grabkammer zitterten.

Nach Tisch schlug Joe seinem Bruder vor, ein wenig zu ruhen, ein Vorschlag, der dankbar angenommen wurde. Denn Ben hatte einige Mühe gehabt, die Augen offen zu behalten, als der Doktor, auf Abwege geratend, die Verbindung der altägyptischen Kultur mit der chaldäischen und andererseits mit der griechischen darzulegen anfing. Die beiden älteren Herren beschlossen demgemäß, sich in das Hochzeitsgrab zurückzuziehen, und Ben freute sich darauf, daß er das Gefühl haben werde, als achtjähriger Junge zu erwachen. Seitdem Joe nach Edinburgh auf die Schule geschickt worden war, hatten sie ein Schlafzimmer nicht mehr geteilt. Jetzt friedlich nebeneinander in einem Grab zu liegen – famos! Damit verschwanden die Alten.

Die Jugend hatte andere Pläne. Der Tag war verhältnismäßig kühl und die Zeit der eigentlichen Mittagshitze bereits vorüber. Die Pyramide mußte noch bestiegen werden, wenn der Plan des Tages in seiner Vollständigkeit ausgeführt werden sollte, und die Mädchen fühlten sich frisch genug, allen Anstrengungen zu trotzen. Ein Trüpplein Beduinen hatte schon seit einer Stunde auf diesen Entschluß gelauert; die Reitesel standen vor der Türe. Warum sollte man sich nicht auf den Weg machen, unter so vortrefflicher Führung, wie sie Buchwald mit seiner vierzehntägigen Erfahrung versprach.

All seine Befürchtungen, die er nicht zu äußern gewagt hatte, schwanden, nachdem seine Schutzbefohlenen ein Dutzend Stufen der Pyramide erklettert hatten. Sakuntala stieg wie eine junge Gazelle, Fräulein Schütz war einem etwas bejahrteren Zicklein ihrer deutschen Heimat zu vergleichen. Fritschy hatte bereits das Lied der Araber: ›Gentlemen satisfied – up! Bakshish very good – up!‹ gelernt und bestand darauf, an der Seite von Fräulein Schütz einen Beduinen zu ersetzen, was diese nicht nur für sehr schicklich, sondern sogar für fast notwendig erklärte.

Man war, vom allseitigen Wetteifer getrieben, doch etwas zu rasch gestiegen und empfand, auf dem Gipfel angelangt, die Anstrengung der ungewohnten Bewegung. Dafür konnte man jetzt in triumphierender Ruhe das herrliche Bild bewundern, das der Horizont umschloß und so verschieden geartet die vier Teilnehmer der Besteigung sein mochten: sie fühlten alle den mächtigen Eindruck des Riesengemäldes, das sich zu ihren Füßen ausbreitete. Ein sanfter, köstlich erfrischender Nordwind erhöhte den Genuß, den sie sich mit der Ersteigung der Spitze erkauft hatten.

Fräulein Schütz richtete ihr Opernglas längere Zeit aufmerksam auf die Höhlenwohnung und die zwei Zelte, die hinter der Chefrenpyramide gerade noch zu sehen waren.

»Dort unten«, sagte sie endlich, »ist alles mäuschenstill. So lange deine liebenswürdigen Onkel schlafen, können wir hier oben Weltgeschichte treiben und ausruhen. Dort, mit Kairo und dem Delta vor den Augen, scheint mir die interessanteste Ecke zu liegen. Hier habe ich im Sinn, zu beginnen. Wer studiert mit?«

Sie ging nach der nordöstlichen Kante der Plattform und setzte sich. Fritschy zögerte nicht, neben ihr Platz zu nehmen. Sein Sinn für Weltgeschichte regte sich mächtig an einer Stelle, wo sie ihm in so gewaltigen Zügen entgegentrat. Himmel! Hätte er seine alten Freunde, Lehmann und Täßle, hier gehabt! Das war der Platz, sie über das Schicksal der Menschheit aufzuklären! Und doch – vielleicht war es besser, daß diese zwei Leuchten selbständiger Forschung ihr Wissen an einem Schraubstock im fernen Vaterland zerpflückten. Er fühlte, daß ihn das Schicksal in eine höhere Luftschicht emporgetragen hatte.

Zufällig – war es Zufall? – stand Sakuntala in diesem Augenblick in der südöstlichen Ecke und sah nach Osten. Sehnsüchtig und schwermütig, dachte Buchwald; oder war sie nur müde? Jedenfalls ließ sie sich ebenfalls nieder, und Buchwald setzte sich auf die nächste Stufe unter ihr. Der Schlaukopf! Er konnte so, wenn er aufsah, ihr Halbprofil von unten betrachten, in einer Stellung, in der sie ihm mehr wie ein Engel oder eine Göttin erschien, als wenn er ihr Auge in Auge geblickt hätte. Maler haben solche Phantasien. Und er konnte es ganz ungestört tun, denn Sakuntala schien ihn kaum zu bemerken.

»Sie sind nicht hier, Fräulein Thinker«, sagte er nach einer langen Pause.

»O doch«, antwortete sie lächelnd. Das war noch das alte Lächeln. »Aber«, fuhr sie fort, »ich fühle mich hier oben zum erstenmal seit vielen Jahren wieder in einer andern Welt.«

»War Ihnen Stoke-Newington so unangenehm?«

»Nein; aber es war nicht meine Welt.«

»Mit den Palmen im Gewächshaus«, rief Buchwald, »und den Lotosblumen und mit Indra! Was macht Indra?«

»Meine Königsschlange; mein Schlangenkönig? Ausgewandert«, antwortete Sakuntala schwermütig.

»Ausgewandert?«

»Gewandert; vielleicht nach der alten Heimat; totgebissen von einer Bulldogge, die Onkel Ben nach Hause gebracht hatte. Sie wurde dafür erschossen. Aber das half uns wenig. Indra war bereits auf der Wanderschaft.«

»Ah!« rief Buchwald, der sie plötzlich verstand, denn er erinnerte sich jetzt an ihre alten Kindermärchen; »Sie glauben noch an das Wandern der Seelen, trotz Ihrer sieben Jahre im kühlen, vernünftigen England.«

»Weshalb nicht?« fragte Sakuntala ruhig. »Meine Mutter glaubte daran und ihre Mutter und alle vor ihr, seit zweitausendfünfhundert Jahren. Es ist kein allzu törichter Glaube, keiner, der uns schlechter macht. Er lehrt uns, alles um uns her zu lieben. Hier, um diese Totenstätte hat er auch gelebt, Hunderte und Hunderte von Jahren. Dort drüben, über den Bergen im Osten lebt er noch heute.«

Ihre tiefblauen, träumerischen Augen blieben an der Gebirgskette von Tura hängen, während sie sprach. Ein Wort gab das andere in fast flüsterndem Gespräch. Es war einsam und still hier oben, wie es nur irgendwo in der Welt sein konnte, und doch so frei und licht. Kairo in weiter Ferne, das Niltal unter ihren Füßen, die stolzen Felswände des Mokkatam – sie sah von all dem nur die Höhen von Tura und über sie hinweg einen ferneren Osten, den ihr leibliches Auge nicht erreichen konnte. Ein erfrischender Nordwind spielte mit ihrem Haar. Sie sprach leise, ohne Erregung, fast wie im Traum eines leichten Mittagsschlummers und es bedurfte kaum eines gelegentlichen Worts, sie zu bewegen, fortzufahren, wenn der Traum stille stand. Mehr, zwei, drei Worte hätten wahrscheinlich ihr sinnendes Erzählen abgebrochen. Das fühlte Buchwald, der sich kaum rührte. Auf diese Weise hörte er zum erstenmal die Geschichte Sakuntalas, die er bisher kaum zu erraten gewagt hatte. Sie war märchenhaft genug, für die Lippen, die sie flüsterten, für den Ort, wo sie saßen. Und sie führte auch ihn in jene andere Welt, von der sie gesprochen hatte, wie es die Genien des Morgenlandes in alten Zeiten kaum besser hätten tun können. – Das aber ist, was er hörte:

Im Süden von Allahabad und Mirzapur, im bergigen Innern des nördlichen Dekan, dreihundert Meilen vom Ganges liegt, weitab vom ruhelosen Strom des angloindischen Weltverkehrs, eine abgeschlossene Landschaft, die der obere Lauf des Mahanadi durchschneidet. Sie ist rings von den östlichen Ausläufern der Vindhyaberge umschlossen, die im äußersten Süden das Quellgebiet des Flusses, ein Gewirr von waldigen Gebirgsschluchten bilden. Wo das letzte dieser Seitentäler in das Haupttal einmündet, liegt ein altes Bergschloß und am Fuß seines Felsenhügels die Stadt Nirwapura, die dem kleinen Radsch seinen Namen gab. Von hier an weitet sich das Tal. Der Fluß durchzieht eine fruchtbare, mit zahlreichen kleinen Dörfchen besäte Ebene, bis die hohen Berge, die in einer Entfernung von fünf bis sechs Meilen den Flußlauf begleiteten, sich diesem wieder nähern, und ihn in einen Paß einengen, durch den er sich, über drei Abstürze brausend, hindurchzwängt, um in das Gebiet des Son und mit diesem in das Flachland des Ganges einzutreten.

In dem Talkessel wohnen seit alten Zeiten Landbau treibende Hindus, die trotz ihrer friedlichen Beschäftigung, gestählt durch die Luft der Berge, ein kräftigerer und unabhängigerer Stamm von Leuten geblieben sind, als man sie in Bengalen und selbst am mittleren Ganges anzutreffen gewohnt ist. Sie hatten seinerzeit den Ureinwohnern jener Gegend, den Nagas, das Tal abgerungen und diese in die waldigen Berge zurückgedrängt, wo sie fortfuhren, ein armes Jägerleben zu führen, sich von den Waldfrüchten zu nähren, die unter der tropischen Sonne jener heißen Täler reiften, und ihre Schlangen anzubeten.

Vor mehr als dreihundert Jahren, als es noch kein Nirwapura gab und sich das undurchdringliche Dickicht der Wälder tief in die Ebene herabsenkte, ließ sich ein heiliger Mann am Fuß jener Hügel nieder. Das war Okrura, ein frommer Brahmine, der am Hof der Fürsten von Oude die Eitelkeit alles Irdischen erkannt hatte, und gekommen war, um in der Waldeseinsamkeit der Weisheit des Schöpfers und der Torheit seiner Geschöpfe nachzusinnen. Aber es gelang ihm nicht ganz, die Ruhe zu finden, die er ersehnte. Er begann damit, der Gottheit, die er suchte, einen kleinen Tempel zu bauen, und bald war er der fast angebetete Ratgeber und Friedensstifter der Leute des Tals, die ihm Speise und Trank brachten, und vor seinem Tempel zu dem Gott beteten, den ihr Heiliger verehrte. Selbst die Waldleute, die Nagas, kamen herab und brachten ihre Schlangen, daß er sie segne, wodurch sie wirksamer wurden, ihnen Gutes zu tun. Um die kleine Pagode bauten die Talleute mit der Zeit Hütten und später Häuser und als der Heilige starb, stellten sie seine Asche in einen Schrein und errichteten einen Tempel darüber. Sein Sohn aber, der nach wenigen Jahren den Beruf des Heiligen aufgab, zu dem ihm der innere Trieb fehlte, begann die Burg auf den Felsen hinter der Pagode zu bauen, die bis auf unsere Tage, natürlich stattlicher und reicher, als sie damals gewesen sein mochte, das Tal beherrscht. So entstand die Stadt Nirwapura und das Fürstentum, das den Ranas von Nirwapura seit drei Jahrhunderten untertan war.

Die Geschichte weiß nicht viel von ihnen zu erzählen. Es waren Leute des Friedens, wie der Stifter ihres Hauses und das ganze Volk, das weit ab von den Stürmen, die von Zeit zu Zeit über Indien hereinbrachen, in frommem Fleiß dahinlebte. Vier- oder fünfmal, im Lauf der Jahre, war ein junger Rana genötigt, die Söhne und Töchter seiner Anverwandten erschlagen oder vergiften zu lassen, um den väterlichen Thron in Ruhe besteigen zu können; zwei- oder dreimal mußte auch der Rana sich einem blutigen Schicksal beugen. Das war das Los der Fürsten von einem Ende Indiens zum andern und erregte niemand, der die Sitten des Landes hochhielt. Sonst aber herrschte Friede im Tal, dessen Lage, weitab von der Heerstraße der Mahratten, der Afghanen und der großen Sultane des Nordens, gegen die Raubzüge der kleineren unschwer zu verteidigen war. Des Volkes Nöte und Gefahren kamen von oben, wenn die Regen ausblieben, und der Mahanadi vertrocknete. Dann fehlte Reis und Getreide, und niemand wußte Hilfe von außen zu bringen. Doch auch das ertrugen die Leute in Ergebung, wie sie Okrura gelehrt hatte. Sie legten sich auf die Erde, an die vertrocknete Brust ihrer aller Mutter und starben. Der Gott zürnte, denn sie hatten gesündigt. Jemand mußte doch die Strafe tragen. Immer blieben einige übrig und diesen, das wußten sie alle, war er wieder gnädig, zu seiner Zeit.

Zu Anfang des Jahrhunderts wurde der Vater Ramanutschas Fürst des Landes. Zu jener Zeit blieben die Regen in zwei aufeinanderfolgenden Jahren aus und schon im ersten Jahre war die Hungersnot groß. Die Armen starben und die Reichen wurden krank vor Elend. Ramamutschas Vater war aber ein frommer Mann und dachte darüber nach, auf welche Weise er und sein Volk sich dermaßen versündigt haben konnten. Vielleicht war Nirwapura zu groß und reich und lärmend geworden, so daß die Asche ihres Heiligen, des Okrura, mitten in der Stadt keine Ruhe fand. Er ließ deshalb die Nagas aus der dritten Waldschlucht am Mahanadi aufwärts, welche man die Schlangenschlucht nannte, vertreiben, und baute dem Heiligen einen Schrein, mitten im Walde. Auch ließ er Palmen- und Brotfruchtbäume um den Tempel pflanzen, die der heilige Mann besonders geliebt hatte, wie in einer alten Schrift zu lesen war.

Aber es half nichts. Die Regen blieben noch einmal aus und die Not wurde erschreckend. Die Leute mußten das Tal verlassen, wenn sie leben wollten. Hunderte taten dies; Tausende starben lieber. Der Fürst aber prüfte sich aufs neue, mit was er und sein Volk sich dermaßen versündigt haben könnten. Da wurde ihm hinterbracht, daß sein Bruder, der die frevelhafte Gewohnheit hatte, mit den unreinen Nagas heimlich auf die Jagd zu ziehen, dies auch mit einem Engländer getan hatte, welcher, von einem bösen Geist getrieben, in das Tal gekommen war. Diese beiden hatten, vielleicht aus Versehen, eine weiße Kuh getötet, die beim Tempel Okruras zu grasen pflegte. Der Fürst hielt seinem Bruder das schwere Verbrechen vor, strafte ihn hart mit Worten und ließ ihn den Hungertod sterben. Aber es half wieder nichts.

Nun bedachte er, daß er selbst vielleicht gesündigt haben könnte, und das war richtig. Er hatte seinem Sohne Ramanutscha eine Frau gegeben, die Tochter eines benachbarten Radschas. Ihr Vater war von guter Kaste. Allein ihre Mutter war es nicht, denn dort unten am Ganges waren die Muhamedaner Herr des Landes geworden, und nicht wenige der alten Hindufürsten von Ratschputana hatten sich durch unreine Heiraten versündigt. Kann aber Reines von Unreinem kommen? Er sprach mit seinem Sohne und bat ihn, seine Frau in ihre Heimat zurückzuschicken. Dieser weigerte sich jedoch zu gehorchen, denn er liebte sie mehr als sein Auge. Da nun die Not des Volkes noch immer wuchs und der Fürst tief bereute, was er getan hatte, ließ er die Frau töten. Und wie er nun sah, daß auch dies nichts geholfen hatte und sein eigener Sohn in wahnsinnigem Schmerz ihm nach dem Leben trachtete, legte er sich nieder und starb selbst; aus Hunger sagten die einen, aus Gram über sein Volk, das vor seinen Augen dahinschwand, sagten andere; durch die Hand seines Sohnes logen die dritten.

Dann kamen die Regen wieder und Ramanutscha wurde Rana von Nirwapura. Das war im Jahre 1828, als Lord Benthink englischer Vizekönig in Indien war, und nach den blutigen Mahrattenkriegen im Westen Friede im Lande herrschte. Was übrig geblieben war vom Volke Ramanutschas, konnte sich erholen; zu Tausenden kamen die Ausgewanderten zurück. Der Fürst aber teilte Sorgen und Liebe zwischen seinem Volke, seiner einzigen Tochter Draugadi, dem Pfande, das ihm seine ermordete Frau hinterlassen hatte, und seinen Büchern. Denn er war ein Gelehrter, verstand die Sprachen der Völker von Ceylon bis Nepal und suchte jahrelang in vergilbten Schriften und Palmblättern, die er sich aus ganz Indien zu verschaffen wußte, nach den geheimen Mitteln und Zaubersprüchen, mit denen in alter Zeit weise und heilige Männer für ihre Mitmenschen Regen vom Himmel oder Wasser aus der Erde sogen. Für immer blieb ihm jene Schreckenszeit in Erinnerung, in der er drei Viertel seines Volkes, seinen Vater und die Geliebte seiner Jugend verloren hatte. Nach einer zweiten Frau trug er kein Verlangen. Sein Herz war tot und sie sagten im Lande, er sei auf dem Wege, wie sein Ahne Okrura, ein Heiliger zu werden. Er war jedenfalls auf dem Wege, seine irdischen Güter vor der Zeit zu verlieren.

In dem benachbarten Radsch, der Heimat seiner verstorbenen Frau, das eine Mahrattenfamilie beherrschte, war einer jener Kämpfe zwischen Brüdern ausgebrochen, in denen, wenn es gut geht, die Hälfte der Familie Leben und Hab und Gut zu verlieren pflegt. Nur Salabut, ein Neffe des erschlagenen Bruders, entrann dem Blutbad und floh nach Nirwapura, wo er freundliche Aufnahme fand. Ramanutscha behandelte ihn als Verwandten. Er gab ihm ein Haus und ein genügendes Einkommen, um standesgemäß leben zu können. Der junge Mahratte, schlau wie sie alle sind, hatte sich rasch in die neuen Verhältnisse eingelebt und bezeugte seine Dankbarkeit, indem er alle Dienste, die ihm der Fürst auftrug, willig und geschickt verrichtete. In dieser Weise stieg er nicht nur in der Gunst Ramanutschas, sondern wußte diesem auch die täglichen Regierungsgeschäfte mehr und mehr abzunehmen, was dem alternden, in seine Bücher vertieften Fürsten außerordentlich angenehm war. Schließlich wurde Salabut der erklärte Minister des Ranas, und war tatsächlich der Regent des kleinen Fürstentums, so oft der gesetzliche Herrscher keine Zeit fand, sich seines Berufes zu erinnern. Dies war die Sünde seines Lebens.

Der allzugütige Fürst beachtete nicht, daß er sich seinen heiligsten Pflichten entzog. Er glaubte im Gegenteil, denselben mit Fleiß und Aufopferung obzuliegen. Waren doch seine Forschungen und Versuche bei Tag und Nacht der Aufgabe gewidmet, im Fall einer drohenden Hungersnot durch irgendwelche natürliche oder übernatürliche Mittel dem Elend vorzubeugen, das seinerzeit die Kraft seines Volkes und das Glück seiner Jugend gefressen hatte. Allerdings waren all seine Mühen bisher erfolglos geblieben. Opfer und Gebete zu den verschiedensten Göttern des alten Glaubens schienen wirkungslos zu sein. Auch war genug von der Lehre Buddhas in das Tal des Mahanadi gedrungen, um den Glauben der Denkenden an die Wirkung des Gebets zu erschüttern. Mit der Zauberei ging es auch schlecht genug. Er hörte deshalb mit doppelter Aufmerksamkeit, daß die englischen Statthalter an vielen Orten einen andern Weg eingeschlagen und schon zweimal eine drohende Hungersnot in Orissa im Osten und am Godavery im Süden abgewendet hätten. Nicht durch Gebete und Zauberei. Nicht durch das Aufspeichern von Korn. Wer könnte genug Korn aufspeichern, und woher sollte es kommen, um eine fehlende Ernte zu ersetzen? Nein; durch das Aufspeichern von Wasser. – Dies mußte er sehen.

Im Jahre 1836 übergab er alle Regierungsgeschäfte an Salabut, seinen Vertrauten und machte sich auf die Reise. Nur schwer trennte er sich von seinem zwölfjährigen Töchterlein, das er in den Gärten seiner prachtvollen Zenana zurückließ, wohl behütet von einer Schar von Eunuchen, Dienern und Kriegern, auf deren Treue er bauen durfte. Er besuchte Benares, Pura, Kalkutta. Er sah, wie sie im Gangestal mächtige Kanäle gruben, die das Wasser des Stroms nach weit entfernten Landstrichen leiteten. Er fürchtete das Meer nicht und schiffte sich ein, um die Wasserwerke von Madras und die alten und neuen Anikuts (Stauwerke) des Godavery zu sehen. Das war mehr als Zauberei, und das Beste daran war: Der Mensch konnte es verstehen. Voll widerstrebender Bewunderung für die Fremden kam er nach Hause. Man hatte ihm nicht nur alles gezeigt, sondern ihn überdies wie einen großen Fürsten behandelt. Dies machte ihn stolz und glücklich. Der Statthalter von Bengalen hatte ihn seinen Freund genannt und ihm jede Hilfe zugesagt. So kam er zurück mit einer neuen Hoffnung.

Peinlich berührte ihn allerdings, was er zu Hause antraf. Salabut hatte sich in einem Seitenflügel des Schlosses fast fürstlich eingerichtet und hielt es kaum für nötig, ihn nachträglich um die Erlaubnis zu fragen. Auch die Dienerschaft der Zenana beklagte sich, der Statthalter habe mehr als einmal versucht, in dem Palastgarten mit der kleinen aber klugen Draugadi zu scherzen und ihr Geschenke gesandt, die ein weniger scheues und stolzes Mädchen hätten erfreuen können. Dies mochte bei den Mahratten erlaubt sein. In Nirwapura verstieß es gegen die gute Sitte. Es gab einen heftigen Auftritt zwischen dem Fürsten und dem Minister; doch der listige Salabut fügte sich und war in kurzer Zeit wieder der unentbehrliche Ratgeber und Stellvertreter für alles, was die täglichen Pflichten des Regenten betraf.

Mit großem Eifer wurde nun aber ein Briefwechsel mit dem englischen Statthalter von Bengalen geführt. Das Ergebnis desselben war, daß nach Jahresfrist der Gouverneur von Benares einen seiner Landsleute, einen jungen Ingenieur nach Nirwapura sandte, der einen Plan für die Bewässerung des Tals und für die Aufstauung des Wassers in trockenen Sommern ausarbeiten sollte. Wochenlang war jetzt der Fürst mit dem halben Hofstaat in seinem südlichen Gebirgsland und in den Wäldern der Nagas, in Begleitung des Engländers, der die besten Wege suchte, um die Wünsche des Fürsten zu verwirklichen. Er hieß Thinker Sahib, war blutjung, aber voll Eifer für seine Aufgabe. Auch sprach er schon genügend Hindostani, um sich mit dem Rana verständigen zu können. Nach einem vollen Monat des Suchens wählte er das tiefe, aber enge Schlangental. Dies sollte an seiner unteren Mündung durch einen gewaltigen Damm gesperrt werden, wodurch in der Regenzeit ein großer Teich entstehen würde, der in trockenen Jahren genug Wasser abgeben könnte, sagte der Fremde, um die Ernte zu retten. Nachdem dies alles wohl erwogen und besprochen war, kehrte Thinker Sahib nach Benares zurück.

Die Hindus im Tal aber wollten nichts von dem Werk wissen. Zu den Unzufriedenen gehörte auch Salabut; der Mahratte. Um ihn sammelten sie sich und schürten wechselweise ihre Mißbilligung. »Wollte der Rana die Werke Brahmas, des Schöpfers verbessern? Oder Wischnu dem Erhalter vorschreiben, wann seine Menschen essen und trinken sollten? Glaubte er Schiwa, der über Leben und Tod gebietet, in die Arme fallen zu können? Wozu arbeiten, um solch eitles Tun zu fördern und den Zorn der heiligen Drei auf das Land herabzubeschwören, von Indra, dem alten Gott ihres Tales nicht zu reden?«

Ramanutscha ließ sich jedoch nicht irre machen. Er sprach: »Was ich gesehen habe, das habe ich gesehen. Keiner unserer Götter zürnt den Engländern wegen dieser Werke, nicht einmal Waruna, der Gott des Wassers, das sie bezwingen. Auch haben unsere Väter vor uns ähnliches getan.« Dann begann er aufs neue an seinen Freund, den Statthalter von Benares, Briefe zu schreiben, bis eines Tages Thinker Sahib zurückkehrte. Er sollte im Tale bleiben und das Werk vollenden.

Der Rana ließ im Schlangental dem Sahib ein Haus bauen und gab ihm Diener und was er sonst bedurfte. Dann befahl er, ihm Leute zu schicken: Erdarbeiter, Maurer, Schmiede. Die vom Tale wollten nicht gehen: Sollten sie die Ruhe des Heiligen im Schlangental zum zweitenmal stören? War es nicht genug, daß der Hunger das Volk damals schier aufgefressen hatte, wahrscheinlich dieser Sünde wegen. Aber die Nagas kamen; denn sie sahen mit Erstaunen, daß sie von dem Sahib für ihre Arbeit bezahlt wurden und daß sie mit dem Geld Dinge kaufen konnten, die sie nie zuvor besessen hatten: Glasperlen, Spiegel und Messer. Er war wundervoll geschickt, der Sahib, ihr Vertrauen zu gewinnen. Mit seiner Flinte hatte er zwei Tiger, Menschenfresser der schlimmsten Art, in einer Woche getötet. Sein Fernrohr und seinen Medizinkasten beteten sie an, wenn sie es heimlich tun konnten. Ihn hielten sie für den Heiligen eines unbekannten Gottes und für den Bruder der Schlangen im Schlangental. Nach einem Jahr hatte er tausend Mann um sich, die seinem Wink gehorchten, als seien sie seine Kinder. Ein gewaltiger Damm wuchs unter ihren Händen und ein tiefer, vorläufig noch trockener Kanal zog sich an den waldigen Berghängen hin gegen Nirapura. Es war ein wunderbares Werk.

Allwöchentlich zog der König hinauf in die Berge, um zu sehen, wie die Arbeit gedieh und am Schrein seines Urahns zu beten. Häufig begleitete ihn Draugadi, denn das Tal um des Heiligen Grab war überaus lieblich und wenn sie gebetet hatten, vergnügte sich das Mädchen im Waldesdickicht mit ihren Gespielen, sammelte Blumen und flocht Kränze. War sie müde, so saß sie stille und folgte mit den Augen ihrem Vater und dem Sahib, der unten im Tal auf dem Damme stand, und die Nagas gehen und kommen hieß. Sie brachten hier Steine, zu zehn und zehn, dort Erde in Körbchen, zu Hunderten; wie Ameisen. Der Sahib aber, mit seinem weißen Schleier über dem Helm, erschien ihr fast größer als der eigene Vater; wie ein König, in seiner Art.

Mittlerweile ging es in Nirwapura nicht gut. Salabut wurde mit jedem Tage stolzer und anmaßender. Er hatte den Leuten gesagt, daß die Götter sicherlich ihren Fluch auf das Tal legen müßten, wenn es Ramanutscha erlaubt würde, in seinem sündigen Tun fortzufahren. Auch sei es eine Schmach, daß sie, die Talleute, Hindus von reiner Kaste, den unreinen Nagas, den Schlangenanbetern und Fleischfressern, allwöchentlich Berge von Reis liefern sollten. So sammelten sich die Unzufriedenen mehr und mehr um ihn. Nichts, sprach er weiter, könne dem Greuel Einhalt tun, als wenn er zum anerkannten Nachfolger des Rana gemacht wurde. Dann könnte er den Verirrungen des alten Mannes mit der Berechtigung eines weiseren Sohnes entgegentreten. Selbst die Priester am Schrein Okruras neigten sich auf seine Seite, denn sie fürchteten, der See, den der Fremdling zu schaffen Anstalt machte, werde das Heiligtum unter Wasser setzen: ein nicht auszudenkender Greuel. Sie glaubten den Versicherungen Thinker Sahibs nicht, der vorher sagte, daß das Wasser nicht mehr als die erste Stufe der Pagode berühren würde; was in der Sommerzeit dem Heiligen nur angenehm sein könne. Merkwürdig war, daß Draugadi, welche fromm und gottesfürchtig und auch der Priester Liebling war, fest an diese Worte glaubte.

Ein schwerer Schlag traf Ramanutscha und sein Werk im zweiten Jahr des Baus. Während der Regenzeit, die reichlicher war, als je zuvor, kam ein Wogenschwall aus der Tiefe des Schlangentals, der alles fortriß, was bis jetzt geschaffen worden war. Seht, rief alles Volk, kann noch immer jemand an der Güte des Gottes für uns, und an seinem Zorn gegen das Werk des Fremdlings zweifeln? und verlangte, daß der Engländer zu seinen Leuten zurückgesandt werde. Salabut war ihr Sprecher. Mehr als das; er machte Anstalt, den Sahib mit Gewalt zu vertreiben. Doch wagte niemand, in das Schlangental einzudringen. Denn als der Sahib von den Dingen hörte, die in Nirwapura vorgingen, bewaffnete er die Nagas, seine Arbeiter. Ramanutscha aber gebot Frieden. Murrend gehorchte Salabut und seine Freunde und Thinker Sahib begann an einer andern Stelle seinen Damm aufs neue zu bauen.

Ein gutes Jahr ging vorüber und dann ein zweites, in dem die Regen ausblieben und der drohende Hunger durchs Tal schritt. »Seht, was vorgeht«, sagte Salabut heimlich zu jedem, der ihn hören wollte. »Wollt ihr den Zorn des Gottes noch immer nicht begreifen? Wollt ihr alle umkommen, eines betörten alten Mannes wegen? Er gebe mir seine Tochter zur Frau, wie er mir schon die Macht des Radschs in die Hände gegeben hat. Dann werde ich nach alter Sitte euer Fürst sein und euch alle erretten.« Ramanutscha war tief betrübt, denn er fühlte die Schwäche des Alters und wußte doch, daß er es war, der sein Volk retten konnte. »Willst du Salabut zum Manne nehmen?« fragte er seine Tochter. »Lieber sterben!« antwortete Draugadi. Dann bestieg sie eine schneeweiße Kuh und ritt mit ihrem Gefolge in das Schlangental, um am Schrein des Heiligen zu beten. Es war Frühling und die Zeit des Vollmonds. Um den Schrein sangen die Nachtigallen und blühte alles, was im Walde zu blühen vermochte. Die Blumen aber neigten ihre Kelche und beteten mit ihr. Da kam der Sahib aus seinem Hause herauf, denn auch er hörte die Nachtigallen klagen wie nie zuvor, und sprach zu ihr: »Sei nicht bange, Lieblichste der Blumen. Du wirst nicht sterben, wo alles blüht.«


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