Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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17. Kapitel
Kairo bei Nacht

Joe Thinker stützte sich schwer auf Buchwald, während sie langsam den alten Koptenhäusern entlang schlenderten, welche damals die Ostseite der Esbekiye begrenzten. Es war eine stattliche Reihe düsterer Bauten, deren Verschwinden jeder ältere Besucher Kairos noch heute bedauert. Der Vollmond goß sein ruhiges, fast taghelles Licht über die zerfressenen Kalkwände und die schwarzbraunen, zierlich geschnitzten Erker der Haremsfenster, die in geheimnisvoller Stille auf die Straße herabsehen, in welcher nur wenige halbvermummte Gestalten und da und dort ein herrenloser Hund scheu und lautlos dahinschlichen. Auf der andern Seite des breiten Weges, im Schatten von Baum und Busch war es nicht ganz so still. Aus dem Dunkel blitzten unruhig flackernde Lämpchen; stellenweise fiel ein trübroter Streifen Licht aus einer geöffneten Türe, einem halbverhängten Fenster über leere Stühle und Tische, die in sorgloser Unordnung umherstanden. Ein wirres Summen und Musizieren drang gedämpft über den Weg. Dort drüben reihten sich halborientalische, halbeuropäisierte Kaffeehäuser und Vergnügungsbuden aneinander, in denen sich die Nachtfalter Ägyptens, die Jugend der äußersten Levante und der Orientreisende, der arabisches Leben zu sehen glaubte, allabendlich begegneten.

Die erste dieser Wirtschaften, zugleich die dunkelste und geheimnisvollste, war in der Tat ein unverfälschtes ägyptisches Kahwa, dessen Inneres zwei mächtige verstaubte Laternen spärlich erleuchteten. Entlang der Vorderseite der Bude, auf einer diwanartigen Erhöhung aus Backsteinen, die mit Binsenmatten bedeckt waren, saßen fast unerkennbar in der Finsternis vier eingeborene Künstler, die vermittelst eines Hackbretts, einer Geige, einer Laute und einer Derwischflöte – um deutsche Namen für phantastisch gestaltete Instrumente zu gebrauchen, die man in Europa vergebens suchen würde – einen zitternden Lärm erzielten. Eine nur von arabischem Musiksinn erkennbare Melodie wiegte sich in unberechenbaren Molltönen auf und ab, sank manchmal in ein unbehagliches Grunzen oder ein klagendes Gurgeln hinab, schwang sich dann aber auch in plötzlicher Aufwallung zu kreischendem Jauchzen empor, das von den andächtig rauchenden Zuhörern entlang der Wände des Cafés mit kurzen Ausrufen des Entzückens begrüßt wurde. Ein europäisches Ohr hätte in dem Tongeräusch allerdings von Musik kaum eine Spur zu erkennen vermocht; doch ahnte man mit heimlichem Grauen, daß in diesen Klängen eine uns für immer verschlossene Volksseele nach Ausdruck rang. Der durchdringende Geruch von glimmendem Stroh und Kamelsdünger, welcher, dem dunkeln Hintergrund des Schuppens entsteigend, sich mit dem Aroma des schweren Kaffees mischte, war ein Nebengenuß, den der Fremde gern entbehrt hätte, der ihn aber bald beißender, bald milder verfolgt, so lange er auf ägyptischem Boden weilt.

Die zweite Bude war stumm. Sie stand unter dem Geist und Zeichen Griechenlands, des wirklichen Griechenlands, nicht des heiligen Hellas, und glich einer innerlich und äußerlich unsoliden Räuberhöhle. Wilde, schwerbewaffnete Gestalten bedienten die Gäste, die in schmutzigweißen, hundertfach gefältelten Weiberröcken umhersaßen, flüsternd ihre Schnurrbärte drehten, und mit Dolchen spielten. Der Ort hatte wenig Einladendes für den müden Wanderer, der ein ruhiges Abendstündchen zu verrauchen wünschte. Wenn jemand in der Esbekiye gestochen wurde, suchte man den Täter zuerst in dieser Gegend, fand ihn aber – zur Ehre des griechischen Kaffees muß dies beigefügt werden – nie.

Dann kam Lärm und Licht in das nächtliche Bild; kein allzu unangenehmer Lärm, wenn man bescheidene Ansprüche stellte. Im Innern der nächsten geräumigen, wenn auch niedern Holzhalle spielte, in schuldloses Weiß gekleidet, eine böhmische Damenkapelle die Ouverture aus Zampa oder den blauen Donauwalzer. An den hölzernen, schmutzigweiß angestrichenen Tischchen des Saals saßen vorläufig nur spärliche Besucher: junge europäische Kaufleute und Handwerker sowie ägyptische Beamte, meist in harmlosem, wenn auch schwierigem Gespräch mit Kellnerinnen, deren mährisches, kroatisches oder ungarisches Deutsch sich anstandslos mit dem Arabischen der nach europäischer Kultur dürstenden Effendis mischte. Waren die letzten Klänge aus Zampa verhallt, so flatterte die weiße Taubenschar auseinander und die ständigen Musikfreunde, welche die höheren Genüsse des Abends geduldig getragen hatten, fanden ihren Lohn. Der eine durfte der blonden ersten Violine einen Mokka aufwarten, dem andern trank die kräftige Bratsche zutraulich das Bierglas aus. Freundschaften, wenn auch nicht fürs Leben, knüpften sich, und mancher junge Ägypter von kosmopolitischer Bildung träumte sich nach Wien zurück, das er von dieser Seite ziemlich genau kannte.

Licht und Lärm wuchsen mit der letzten Bude, dem Café français. Hier erreichte die Zivilisation Ägyptens ihren derzeitigen Höhepunkt. Unter den Sykomoren auf dem Vorplatz des Cafés standen zwanzig Marmortischchen um einen verstaubten Springbrunnen, der allerdings nie gesprungen hatte. Im Innern tobte eine Musikkapelle, ebenfalls böhmischer Herkunft, aber männlichen Geschlechts, und von dem Ehrgeiz beseelt, der neuesten Operettenmusik Offenbachs Bahn zu brechen. Das Orchester saß auf der rechten Seite des grell erleuchteten Saals, halb unter den Gästen zerstreut, die sich ungebührlich um dasselbe drängten. Den Abschluß der buntgeschmückten Halle bildete in dieser Richtung ein derb bemalter Vorhang, auf dem Apollo und Venus oder Adam und Eva gemeinsam eine Leier stimmten, während links und rechts von üppigen Palmen herab zwei symmetrisch sich wiegende Schlangen mit je einem Apfel auf Gelegenheit lauerten, das nichtsahnende Paar zu verführen. Es waren die unverkennbaren Reste des Bühnenvorhangs eines Café chantant, der in Marseille oder Lyon bessere Tage gesehen haben mochte. An der hintern Längswand des Saals, den offenen Vorderfenstern gegenüber, schloß eine grellrote Portière ein Hinterzimmer ab, die sich unablässig hob und senkte, um Besuchern aller Farben und Trachten den Ein- und Ausgang zu gestatten. Ein vierschrötiger Herkules saß schläfrig auf einem Stühlchen vor dieser Pforte. Hinter derselben befand sich – was in keiner außer der arabischen Wirtschaft der Esbekiye fehlen durfte – ein Roulettetisch.

Buchwald war mit seinem tiefverstimmten Freund bis in die Nähe des letzten Kaffeehauses gekommen und stand einen Augenblick still, um, an anderes denkend, über den fast leeren Vorplatz in den hellen Saal zu schauen, der, wie das Licht die Mücken, den Blick auch des gleichgültigst Vorübergehenden anzog. Der Maler hatte ohne merklichen Erfolg versucht, Thinker auf andere Gedanken zu bringen. Als sie den Gasthof verließen, wobei Buchwald fast Gewalt gebrauchen mußte, schien ihn jedes Wort, auch das freundlichste, wie ein körperlicher Stich zu verletzen; selbst die bereitwilligste Zustimmung bot ihm eine Handhabe zu Ausfällen gegen alle Welt. Der gute, sanfte Mann schwelgte in der Stimmung eines kranken Panthers. Doch wirkte die kühle Nachtluft nach und nach etwas beruhigend. Ein dumpfer, schwermütiger Groll trat an die Stelle der Ausbrüche, die vor einer halben Stunde keine Rücksicht mehr gekannt hatten.

In diesem Augenblick holte sie O'Donald ein und klopfte Thinker nach seiner Art zutraulich und nicht allzu sanft auf die Schulter. Der Gelehrte zuckte zusammen, lächelte aber, als er den Prokuristen erkannte, dem seine Bekannten eine weitgehende Narrenfreiheit gestatten mußten, sie mochten wollen oder nicht.

»Wissen Sie was, lieber Doktor«, rief er munter, »Sie sind verärgert. Man sieht es Ihnen von hinten an. Das ist nicht gut in diesem Klima; es drückt auf die Nieren. Setzen wir uns ein wenig zu den Franzosen!«

»Lassen sie mich in Ruhe! Ich bin nicht in der Stimmung«, versetzte Joe ablehnend.

»Gerade deshalb!« lachte der Prokurist. »Wenn mich meine Landsleute toll machen, laufe ich immer zu den Franzosen; und das kommt oft genug vor, Gott sei's geklagt. Wissen Sie, Herr Joe, wir sind ein trauriges, nützliches, widerwärtiges Volk. Immer mit den Hörnern voraus, nicht nach links, nicht nach rechts sehend auf unser Ziel los. Das muß alles um uns her verstimmen, uns selbst am meisten. Es ist nicht an den Himmel zu malen, wieviel wir dabei versäumen an Vergnügen und Genuß, und – und innerem Gewinn!«

Das schwermütige Gesicht Thinkers hatte O'Donald zu dieser ungewohnten Betrachtung verführt. Er sah, daß der Doktor, der ihm nach dem Gesetze der sich anziehenden Gegensätze nicht gleichgültig war, wirklich litt, und auf einen Augenblick empfand er ein neues, völlig unbekanntes Gefühl für den wackeren alten Herrn. Es war Mitleid. Doch schämte er sich ebenso rasch dieser Regung und fuhr fort:

»Klüger sind die Franzosen. Wenn sie gelebt haben, haben sie gelebt. Wir sind indessen fünfzig Jahre in einer Tretmühle gelaufen, an der nichts erfreulich ist als ihre Größe. Kommen Sie! Vielleicht lernen wir etwas in dem Tingeltangel für unser nationales Seelenleben.«

Er faßte Thinker unter dem freien Arm und zog ihn samt Buchwald nach der andern Seite der Straße. Doch ehe sie das Innere des Saales betraten, den man von außen in jeder Richtung überblicken konnte, stemmte sich der Gelehrte mit aller Macht.

»Bis hierher und nicht weiter!« sagte er halb lachend. »Es ist mir zu hell in dieser Spelunke.«

»Gut!« rief O'Donald, indem er sich an einem der runden Tischchen niederließ, das vom Schatten eines gewaltigen Sykomorenstammes gedeckt war. »Sie haben recht: dies schickt sich besser für die reifere Jugend. Bei Zeus, der Platz ist nicht halb so schlecht, als er aussieht. Man geht nie ganz fehl, wenn man der Erfahrung in Silberhaaren folgt.«

Er hatte sich rasch nach allen Seiten umgesehen. Vor sich sah man durch das offene Fenster die kleine Bühne, auf der zwei weibliche Turkos in nicht ganz korrekter Uniform, unter dem Gesange eines kriegerischen Liebesliedes, Handgriffe und Marschübungen ausführten. Hinter ihnen, in einer Entfernung, welche zwei leere Tischchen ausfüllten, saß Madame Geraldine mit ihrer Theatermutter und zwei männlichen Begleitern.

»Unglaublich, wie geschickt Sie manövrieren!« flüsterte O'Donald, nachdem er drei Tassen Kaffee bestellt hatte. Der ahnungslose Gelehrte saß mit dem Rücken gegen die Bühne und sah der Primadonna aus Paris und Steiermark voll ins Gesicht, ohne es zu bemerken.

»Geschickt manövrieren!« seufzte er aus tiefster Seele. »Nach dem was wir heute erleben mußten! Ich fühle mich nicht berechtigt, die Folgen abzuschätzen, die mein öffentlicher Einspruch gegen die Absichten meines unglückseligen Bruders haben wird. Natürlich, ich habe ihn gründlich widerlegt, seinem Standpunkte jede Berechtigung entzogen. Und doch fühle ich mich entmutigt. Er schien nicht geneigt, den hoffnungslosen Kampf aufgeben zu wollen, und die ganze Versammlung zeigte, wie Sie leider nur zu richtig bemerkten, daß sich Ben bereits einen großen gefährlichen Anhang zu verschaffen gewußt hat, während ich meinen Forschungen oblag. Ich will nicht erörtern, was das Wichtigere, was das Würdigere ist. Er wendet sich an die niederen Instinkte der Masse. Auf diesem Wege werde ich ihm nie folgen.«

»Allons enfants de la patri – i – ie!« sangen die zwei kleinen Turkos jetzt mit gellender Stimme durchs Fenster. Madame Geraldine, gehoben von einem freiheitlichen Aufschwung, der in Paris zur Zeit nicht möglich gewesen wäre, kommandierte eine Brigade imaginärer Sanskulottes mit ihrem Fächer und sah mit ungeduldigem Lächeln zu Thinkers Gruppe herüber.

»Formez les bataillons!« kreischten die Kleinen.

»E'bin!« rief Geraldine, wie ein Tambourmajor Takt schlagend und dem Doktor lustig zuwinkend; – oder galt es Buchwald? – Doch jetzt mußte Thinker sehen, was er sah. Ein unwilliger Ernst flog über seine Züge. Er drehte seinen Stuhl halb um und blickte nach der Bühne, von der ihm die Turkos, die am Schlusse ihrer Nummer angelangt waren, Kußhändchen zuwarfen. Sollte er den Stuhl noch einmal drehen? Glücklicherweise rauschte der Vorhang mit dem Apoll und seiner Genossin nieder. Die Musik verstummte; man konnte wenigstens reden.

»Ich glaube selbst, Sie müssen einen andern Weg finden, wenn Sie die Vorstöße Ihres Herrn Bruders parieren wollen«, sagte O'Donald. »Sehen Sie dorthin! Das sieht nicht aus wie eine geschlagene Armee.«

Zehn Schritte entfernt, im vollen Lichte der Saalbeleuchtung, die ihnen durch die weit offenen Türen entgegenstrahlte, schritt Ben Thinker, rechts von ihm Osman Effendi, links Fritschy, auf das Café zu. Sie hatten die Fräcke abgelegt und mit ihnen die feierliche Festmiene, die sie vor einer Stunde so würdig gekleidet hatte. Ben sah unternehmungslustig in die Welt hinaus, als ob er den glücklichsten Tag seines Lebens damit beschließen wollte, als fideler alter Onkel zwei unerfahrene Neffen ins Leben einzuführen. Tatsächlich hätten die ernster dreinblickenden Neffen dem heiteren Onkel einige Winke geben können. Sie führten ihn ohne Zaudern in den Saal und setzten sich an eines der Tischchen in der Nähe der roten Portière, hinter der jetzt das Klingen von Gold und Silber deutlich zu hören war.

»Das ist das Schlimmste für Sie, diese Freundschaft!« fuhr O'Donald fort, verstohlen nach der Gruppe im Saal deutend. »Zwar kann niemand hierzuland wissen, wie weit der Sohn den Vater beeinflußt. Oft genug, besonders in den oberen Kreisen, sind sie Todfeinde. Nach allem aber was man weiß, ist dies mit Sadyk Pascha und seinem goldenen Früchtchen, um das Ihr Bruder herumsummt, noch nicht der Fall. Überdies ist Osman nur der Adoptivsohn Sadyks, den ihm eine seiner Frauen mitbrachte; ein bei diesen ägyptischen Türken übliches Verhältnis, das bessere Beziehungen zu gestatten scheint. Und Sadyk fängt an, allmächtig zu werden. Die Dinge drehen sich wunderlich in dieser Chamsinluft.«

»Erzählen Sie uns etwas«, bat Buchwald, noch immer bestrebt, Thinker seinen nagenden Gedanken zu entreißen.

»Wenn Sie nicht darauf bestehen, daß die Geschichte wahr sein soll, recht gern«, antwortete O'Donald, indem er Eisstückchen aus seinem Wasserglas in den Kaffee warf, und den Folgen dieses Experiments aufmerksam zusah. »Wir leben hier von Lügen, wenn wir nicht zu arbeiten und nichts zum Spielen haben; der Sommer wäre sonst unerträglich. Ärgerlich ist nur, daß die wirkliche Wahrheit meist viel wunderlicher ist, als was wir zusammenzudichten vermögen. Sadyk Effendi, Sadyk Bey, Sadyk Pascha, das alles kam Schlag auf Schlag in den letzten drei Jahren. Wo Sadyk selbst herkam, weiß niemand mit Sicherheit. Als der gute, alte Taugenichts Said Pascha, der vorige Vizekönig, allein und verlassen in seinem Schloß am Meer bei Meks starb, waren drei der hohen Herren bereit, seine Herrschaft anzutreten: Ismael, Mustapha und Halim Pascha, die ersteren zwei Söhne Ibrahim Paschas, des Adoptivsohns Mohamed Alis, Halim der letzte, leibhaftige Sohn des alten Herrn. Unzweifelhaft war aber Halim um ein Jahr jünger als die andern und machte keinen ernstlichen Versuch, das Ziel zu erreichen, das ihm seinerzeit sicher sein muß. Die andern zwei dagegen waren nur um Wochen oder gar Tage auseinander. Solche zeitlichen Wunderlichkeiten sind in vizeköniglichen Harems nichts Seltenes. Im allgemeinen hatte man Ismael für den älteren gehalten, doch war es Mustapha gelungen, im entscheidenden Augenblick eine Anzahl Eunuchen und ähnliche Geheimräte beiderlei Geschlechts zu gewinnen, die bereit waren, Stein und Bein zu schwören, daß Mustapha, wenn auch heimlich, volle sechs Wochen vor Ismael das Licht der Welt erblickt habe. Dies begründeten sie mit einer Haremsgeschichte von echter Lokalfarbe. Aber auch Ismael hatte seine Eideshelfer bereit, unter denen sein Milchbruder Sadyk, von dem zuvor kaum jemand etwas gewußt hatte, und dessen Mutter, ein altes, verschrumpftes Fellahweibchen, eine hervorragende Rolle spielten. Die Entscheidung mußte in Konstantinopel getroffen werden. Dort hängt sie jedoch nicht vom massenhaften und kräftigen Schwören allein ab. Ein weiser Sultan weiß, daß dies stets nach Bedarf zu haben ist. Der kluge Prinz, der heute das glückliche Niltal der Zivilisation entgegenführt, schätzte die Verhältnisse richtiger ein – oder war Mustapha, der sein Spielerleben in Paris schon begonnen hatte, zu sorglos: kurz, es war für des Sultans Tasche vorteilhafter, Ismael an die Spitze des bevorzugtesten Paschaliks des ottomanischen Reichs zu stellen. So bekamen wir unseren neuen Vizekönig und die, wir wollen hoffen, meineidigen Freunde Mustaphas denken im Sudan über das Gebot Allahs nach, die Wahrheit zu sagen, so lange man nicht ganz sicher ist, daß das Gegenteil nichts schadet. Sadyk aber, der so glücklich gewesen war, sich zu erinnern, wann er mit Seiner Königlichen Hoheit an einem Busen gelegen hatte, wurde Bey und Mufetisch des vizeköniglichen Privatvermögens, das, wie Sie wohl wissen, in untrennbarem Zusammenhang mit der Finanzwirtschaft des Staates steht.«

Hier unterbrach O'Donald seine Erzählung. Die Vorstellung auf der Bühne hatte eine neue, allzufesselnde Wendung genommen. Unter den ersten Klängen eines Trauermarschs im Walzertakt von Verdi war Señor Rodrigo Zorilla y Alcantarito, Professor aus Salamanca, mit seinen zwei Zöglingen aufgetreten. Der Professor war vom Wirbel bis zur Zehe in würdiges Schwarz gekleidet, die Zöglinge in nichts. Sie waren nämlich ein Hahn und ein Schwein, und die ursprünglich eines tieferen Sinns entbehrende Vorstellung bestand darin, daß unter der Leitung des Herrn Professors der Hahn sich bemühte, dem ungelehrigen Rüsseltier Unterricht im Krähen zu erteilen. Es war nicht leicht zu entscheiden, ob die qualvollen Bemühungen des Schweins, seinem Lehrer zu gefallen, oder der Zorn des Hahns über die mißglückenden Versuche des talentlosen Schülers bei dem dankbaren Publikum allabendlich größeren Beifall fanden. Der Reiz dieser Szene hätte keiner Steigerung bedurft, und doch wurde er seit acht Tagen dadurch erhöht, daß man dem Schwein durch einen grauen Anstrich das Aussehen eines munteren kleinen Nilpferdes zu geben gewußt hatte. Nun stellte der gravitätische Hahn Frankreich vor, und das Nilpferd – nun ja, das war eben ein Nilpferd. Das Ganze aber führte den allerdings nur heimlich geflüsterten Titel Civilisation et progrès en Egypte. Der geistvolle Gedanke war das Erzeugnis eines jüngeren Stammgastes des Cafés, dem Direktor und Publikum nicht dankbar genug sein konnten. Allerdings standen zwei ältere türkische Herren, ebenfalls Stammgäste, beim Erscheinen des Schweins regelmäßig auf und entfernten sich schweigend, aber sie kamen wieder. Erst als der Professor, das gefälschte Nilpferd zur Rechten, den Hahn zur Linken sich dreimal verneigt hatte, und nach dem dritten Hervorruf das der Bewunderung müde Schwein nur unter fürchterlichem Gequiekse noch einmal auf die Bühne gezerrt worden war, sah sich O'Donald in der Lage, seine Erzählung wieder aufzunehmen. Auch Buchwald – betrübend zu gestehen – war einem Lachkrampf nahe gewesen. Herr Joe hatte mehr Ernst von den jungen Leuten erwartet; wenigstens von dem Maler. Er sah traurig vor sich nieder, während Madame Geraldine Kügelchen aus Kuchenteig nach seinem Tisch warf. Den Luchsaugen O'Donalds entging dies nicht; er riß sie weit genug auf. Und doch hatte er sich in seinen allzu raschen Schlüssen getäuscht. Buchwald war unschuldig.

»Die Dinge gehen seitdem einen merkwürdigen Gang«, begann er wieder. »Der Vizekönig braucht Geld; vor allen Dingen für Konstantinopel, wo die politischen Pläne der Familie auf dieser solidesten aller Grundlagen raschere Fortschritte machen als unter Mohamed Ali mit all seinen siegreichen Armeen. Man spricht nicht laut davon, aber die völlige Unabhängigkeit Ägyptens gehört zu den Träumen des so wenig träumerisch veranlagten Herrn. Heute schon läßt er sich ungern Viceroi nennen, und der französische Gesandte, der ihn bei einem der ständigen Gespräche über die Zivilisation Ägyptens mit sittlichem Ernste zurief: »Monseigneur, il faut abolir les vices!« konnte sich trotz der Suezkanalfrage eine Woche lang rühmen, in der Hofgunst höher zu stehen als sein englischer Kollege. Der Suezkanalstreit verschlingt Millionen, wenn er auch die Fellachin vom Frondienst auf dem Isthmus befreit, so daß sie auf den vizeköniglichen Gütern zahlreicher verwendet werden können. Dann kostet es Millionen und Millionen, diese Güter abzurunden, Land aufzukaufen, wenn es eben nicht anders gehen will, es einzudämmen, mit Pumpwerken, Dampfpflügen, Baumwollfabriken zu versehen und die nötigen Verkehrsmittel zu schaffen. Ein großartiger Nilkanal, dreihundert Kilometer lang, von Siut bis in die Gegend von Sakkara ist geplant und in Angriff genommen, der in Mittelägypten 300 000 Hektar bewässern wird. Das alles sollte sich bezahlen und wird sich bezahlen, wenn es zur Ausführung kommt, wie es geplant ist und sich der Preis der Baumwolle noch ein paar Jahre lang auf der heutigen Höhe erhält; zwei sehr fragliche Annahmen. Außerdem hat natürlich Seine Königliche Hoheit einige Liebhabereien, die nicht ganz billig sind: möchte den Sudan erobern, baut Schiffe und Paläste, Theater und Moscheen und spritzt – als Grandseigneur, der er ist – das Geld um sich, als ob es Nilwasser wäre. Das lernte er, so sparsam er vor seinem Regierungsantritt war, mit unglaublicher Behendigkeit, und das Talent wächst mit der Übung von Jahr zu Jahr. Anfänglich waren denn auch die Kassen immer leer; es war ein Jammer. Seit Sadyk sie in der Hand hat, schienen sie unerschöpflich zu sein. Wie er es macht, weiß niemand genau. Aus den Fellachin wird der letzte Blutstropfen gepreßt; das versteht er als Fellah meisterlich. Namentlich kennt er das Geheimnis, daß ein Ägypter, dem man diesen letzten Blutstropfen ausgepreßt hat, immer noch eine ziemliche Menge rötlichen Saftes abgibt, wenn man ihn an einer andern Stelle anzapft. Er ist ein wahrer Poet in der Erfindung von Besteuerungsmethoden und Steuerobjekten. Merkwürdig ist, wie die europäischen Bankiers sich die Füße ablaufen, um ihm ihr Geld in den Schoß zu werfen: die Oppenheim, die Erlanger, die Barings und Rothschilds, von den kleinen Fischen der Levante, die selbst nichts haben, nicht zu reden. Es ist eine tolle Wirtschaft. Die Schulden des Landes – L'Etat cest lui – sind in den ersten drei Jahren seiner gesegneten Regierung von sieben auf zwanzig Millionen Pfund gewachsen. Ein achtbarer Anfang. Aber es geht weiter wie eine Lawine und Sadyk Pascha kennt vorläufig keine andern Sorgen, als das Stirnrunzeln seines Herrn, wenn eines schönen Morgens kein Gold in der Kasse des Kriegsministeriums ist, um einen Diamantschmuck zu kaufen oder der Geldschrank des öffentlichen Unterrichts – Sie sehen, für alles ist gesorgt – leer gefunden wird, wenn eine Schiffsladung Eisenbahnschienen bar bezahlt werden soll. Rasch muß dann ein griechischer Jude oder ein jüdischer Franke herbeigerufen werden, um das Loch im System zu verstopfen. ›Das darf nicht wieder vorkommen, mein Lieber‹, sagt Seine Hoheit lächelnd und Sadyk ist aufs neue der Mann des Tages.« –

Auf der Bühne exerzierte jetzt bei den Klängen einer tollen Janitscharenmusik ein Invalide aus dem Krimkrieg, mit einer glutroten Nase und einem Stelzfuß, den er abschnallen, laden und abfeuern konnte. Trotz der erstaunlichen Geschicklichkeit, mit der der Brave, auf einem Bein hüpfend, gegen einen gedachten Malakoff losstürmte, waren seine Leistungen doch kaum fesselnd genug, um O'Donalds Schilderungen zu unterbrechen. Dies geschah von Buchwald, der darauf aufmerksam machte, daß Ben Thinker mit seinen Begleitern spurlos verschwunden war.

»Ich wunderte mich schon seit einiger Zeit«, bemerkte der Prokurist, »daß es unser Freund Osman Effendi so lange vor dem roten Vorhang aushielt. Wenn Sie die Herren finden wollen, so müssen Sie hinter demselben suchen. Der hoffnungsvolle Junge kam vom Spielteufel besessen aus Paris zurück und wird, fürchte ich, das Finanzgenie seines Papas noch auf eine harte Probe stellen, soweit diesem der Vizekönig Zeit läßt. Hoffentlich ist Fritschy nicht Esel genug, ihm Gesellschaft zu leisten. Ihrem Herrn Bruder schadet es nicht viel, so viel ich weiß.«

»Mein Bruder verspielt sein Geld in anderer Weise«, versetzte Joe mißmutig. »Ich wollte es wäre dies alles, was ich gegen ihn zu sagen habe.«

»Auch Madame Geraldine hat ihr letztes Geschoß abgefeuert«, sagte der Prokurist, indem er ein Kuchenkügelchen neben Thinkers Tasse aufhob und es dem Gelehrten unter die Nase hielt, der es verständnislos anstarrte. »Man steht vor einem ewigen Rätsel bei diesen und andern Damen«, fuhr er lachend gegen Buchwald gewendet fort, der ebenfalls keine Lust zeigte, auf den Scherz einzugehen. Dann warf er die wirkungslose Kugel in der Richtung der Bühne weg, wo soeben die schuldige Künstlerin tiefgebückt in einem schwarzen Loch an der Seite des Podiums verschwand. Trotz aller Zivilisation waren die Einrichtungen in dem berühmten Café français du Caire noch immer etwas urwüchsig.

»Aha!« rief der Prokurist freudig. »Die Diva geht an die Arbeit. In einer halben Stunde werden Sie eine Schlangenzauberin bewundern, wie sie selbst im alten Ägypten selten waren. Machen Sie sich auf etwas Außerordentliches gefaßt. Madame Geraldine setzt ihren Ehrgeiz darein, Eva und die Schlange gleichzeitig zu spielen.«

Der übermütige O'Donald bemerkte erstaunt, daß nun auch der Maler mit dem Gelehrten wetteiferte, ihn feindlich anzustarren. Buchwald konnte es nicht ertragen, daß jemand von Schlangen unehrerbietig sprach. Es war eine Wunderlichkeit, die ihn seit Stoke-Newington verfolgte; vor kurzer Zeit war sie aufs neue und heftiger als je ausgebrochen. O'Donald verstand natürlich nicht, was in dem deutschen Gemüt vorging und fühlte sich etwas unbehaglich zwischen seinen sichtlich verstimmten Freunden.

»Nun also«, rief er, »lassen Sie mich mit Sadyk Pascha aufräumen. Der alte Spitzbube – alt im gewöhnlichen Sinne kann man ihn zwar kaum nennen – vergißt natürlich nicht, sein eigenes Nest zu federn, und der Vizekönig scheint dies nicht einmal ungern zu sehen. Er weiß, daß er jeden Augenblick seine fette Hand drauf legen und alles in die eigene Tasche stecken kann, was sein emsiger Milchbruder zusammenklaubt. Vorläufig ist Sadyk Hahn im Korb. Der ganze Hof kriecht vor dem Fellah und er bemüht sich redlich, ein feiner Herr mit vornehmen Passionen zu werden. Nicht ohne Erfolg. Und wenn jemand beim Vizekönig etwas durchsetzen will und den Mufetisch gewonnen hat, so ist alles gewonnen. Soweit ich Ägyptologie verstehe, hat Ihr Bruder Ihnen den Rang in dieser Richtung abgelaufen. Anders kann ich mir seine Freundschaft mit dem gezierten Laffen Osman Effendi nicht erklären. Fritschy hat ihn in einer der Spielspelunken kennengelernt. Das brachte sie zusammen. Nehmen Sie sich in acht, Herr Thinker. Ihr Bruder hat auch in Fritschy keinen üblen Bundesgenossen, und Osman kann möglicherweise den Ausschlag geben.«

»Ich bin für meinen Bruder nicht verantwortlich«, versetzte der Doktor steif. »Mein Weg geht geradeaus und verträgt keinen Schmutz.«

»Die Sache ist die, mein lieber Doktor«, unterbrach ihn O'Donald, »daß wir es sind, die im Leben dieser Welt es lernen müssen, den Schmutz zu ertragen, wenn wir vorwärts kommen wollen.«

»Nicht alle«, entgegnete Joe rasch, »nicht alle! Sehen Sie den Unterschied zwischen unsern Wegen und vor allem zwischen unsern Zielen nicht? Jawohl, Verehrtester, es hängt ein wenig davon ab, wo wir herkommen und wo wir hin wollen. Das ist das Große an idealen Bestrebungen: Sie heben uns über den Schmutz des täglichen Lebens hinaus.«

»So habe ich mir sagen lassen«, versetzte der unverbesserliche Prokurist. »Wenn Sie aber Ihre Ideale verteidigen wollen gegen die Tücken dieses irdischen Lebens, so werden Sie wohl ein wenig zu uns herabsteigen müssen, fürchte ich. Tun Sie es, ehe es zu spät ist«, setzte er plötzlich ernsthaft und eindringlich hinzu. »Es wäre mir wahrhaftig selbst leid um die alte Pyramide.«

»Nie!« rief der Doktor entrüstet. »Wie?« fragte er nach einer Pause kleinlaut, und sah O'Donald fast ängstlich an.

»Das ist die Frage«, antwortete dieser nachdenklich. »Kommen Sie!« rief er dann plötzlich, wie wenn ihm die Wendung des Gesprächs wenig behagt hätte. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie auftritt. Hier kommt schon die tanzende Schwiegermutter, und der Saal füllt sich. Die Franzosen nehmen uns die besten Plätze weg. Und vor Ihnen liegt noch ein letztes Kügelchen von ihr. Nehmen Sie es mit, Herr Thinker, zum Andenken an unsern heutigen Abend. Wer weiß, ob es Ihnen nicht noch nützlich sein wird. Kügelchen rollen wunderlich durcheinander, hierzulande«

Sie erhoben sich und Thinker folgte jetzt ohne Widerstreben. Man trennte sich nur schwer von O'Donald, wenn er dies nicht wünschte. Die leichtfertige Gutherzigkeit, die er zur Schau trug, war ansteckend.

Es war kein Monaco hinter der roten Portiere, nur ein Zimmer mit zwei nach der Wildnis der Esbekiye offenen Fenstern, durch die der Dunst und Tabaksqualm von dreißig Menschen in die Stille der Mondnacht hinauszog. Stühle waren nicht vorhanden. Eng zusammengedrängt hatten kaum zwei Dutzend Leute Raum zum Stehen, denn die Mitte des kleinen Saals war von dem buntbemalten Roulettetisch eingenommen, hinter dem, gegen die Wand mit den Fenstern sich stützend, der Bankhalter und zwei Croupiers Aufstellung genommen hatten: bleiche, schwarzhaarige Griechen in Hemdsärmeln mit riesigen Manschetten und breiten, knallroten Leibbinden statt der Gürtel. Entlang den drei andern Seiten des Tisches standen die Spieler, zwölf bis fünfzehn Vertreter aller Nationalitäten, sichtlich Leute der verschiedensten Spielreife: ein paar geisterhaft blasse junge Herren der arabischen jeunesse dorée; zwei rote, gesunde Engländer, die auf dem Weg nach Indien von den Freuden europäischer Kultur Abschied nahmen und dafür still und verbissen ihr erstes indisches Monatsgehalt in halben Sovereigns auf den Tisch legten; ein verkommener französischer Schauspieler, der mit tragischen Gebärden seinen Fünffrancstücken nachsah; zwei Griechen, Baumwollmakler und Spieler von Beruf, die mit leisen, aber fürchterlichen Flüchen das wechselnde Glück beschworen, und sich dabei nicht im geringsten von dem milden Lächeln zweier Türken stören ließen, die nach langen Pausen größere Haufen Gold bedächtig auf Rot oder Schwarz setzten. Nur eine Dame befand sich in der Gesellschaft und sie war in Männerkleidern: einer der kleinen Turkos von der Bühne. Sie spielte mit dem Gelde eines schwarzhaarigen, wohlgeölten Armeniers, der ihr von Zeit zu Zeit zögernd ein Zehnfrancstück zusteckte. Von der Decke des Gemachs hingen zwei Petroleumlampen unter großen grünen Schilden, welche die beiden Enden des Tischs grell beleuchteten. Über die Mitte des Roulettetisches warfen sie einen geheimnisvollen Schatten, in dem auch die Croupiers begraben lagen. Von diesen Herren sah man fast nichts als die langen wachsweißen mit falschen Steinen reichgeschmückten Finger und die ruhelosen Krücken, die wie selbständige lebendige Wesen Silber und Gold von der Tafel fegten. Die Einrichtung des Spieltischs war nicht ganz die übliche. Statt auf 36 spielte man hier nur auf 24 Feldern. Dies und ein dreifaches Zero gab der Bank ungefähr die doppelten Chancen der damaligen Banken zu Baden und Homburg und der heutigen zu Monaco. Auch gelang es der Gesellschaft, die sich um den Tisch drängte, nicht immer, jene steinerne Ruhe zu bewahren, unter der man in Europa die Erregung verbirgt, welche den Genuß des kultivierteren Spielers ausmacht. Gelegentlich unterbrach ein dalmatischer Kapitän oder ein halbwilder Arnaute das gedämpfte Flüstern mit einem Sturm von Flüchen in seiner rollenden, glücklicherweise niemand bekannten Muttersprache, ehe sich das Naturkind, mit seinen Pistolen spielend oder gar mit perlenden Tränen in den ausdrucksvollen Augen, entfernte.

Zwischen zwei Gestalten dieser Art, die ein freundlicher Wink der Krücke von der andern Seite des Tischs auseinandertrieb, um für den Sohn Sadyk Paschas Platz zu schaffen, drängte sich der kleine Effendi, zog ein schmutziges Stückchen Papier aus der Tasche seiner seidenen Weste und legte zehn Napoleon vor sich auf den Tisch. Der Croupier winkte ihm kameradschaftlich zu und einer der anwesenden Ägypter wünschte ihm flüsternd den Segen Allahs, des Allgütigen, zu seinem Tun. Fritschy, der mit Ben Thinker unmittelbar hinter ihm stand, warf jenem einen fragenden Blick zu. Herr Ben aber schüttelte mißbilligend den Kopf und beide beschränkten sich darauf, dem Spiel zuzusehen.

Eine Zeitlang hörte und sah man nichts, als was auf der ganzen Welt jeder derartige Spieltisch mit wenig Abwechslung bietet; für den Uneingeweihten eine fast einförmige Szene. – »Faites votre jeu, Messieurs« – »faites votre jeu!« – »Rien ne va plus!« – Das Schnurren der Roulettekugel; ein klappernder Klang, wenn sie ihr Fach gefunden hat – »Dix neuf! Rouge! Impare!« in schneidender Fistelstimme – oder »Zéro!« in schwermütigem Baß, als ob der Bankhalter nur mit verhaltenem Schmerz das ganze Feld einheimste. Und dann wieder: »Messieurs, faites votre jeu!« – »Rien ne va plus« und so weiter, stundenlang, tage- und nächtelang. –

Osman Effendis Zwanzigfrancstücke verschwanden mit überraschender Regelmäßigkeit, eins nach dem andern, er mochte das Glück mit schwarz oder rot, gerade oder ungerade versuchen. Zu Anfang des Abends auf Zahlen zu setzen, ehe sich die Stimmung Fortunas erklärt hatte, war gegen seine Grundsätze. Ihre Laune schien heute in der Tat in schlechtmöglichster Verfassung zu sein, denn soeben hatte er den neunten Napoleon gesetzt und verloren. Die zwei chiotischen Seeräubergestalten neben ihm sahen fast mitleidig auf das zierliche Männchen herab, das rot vor Ärger geworden war. Er ergriff das letzte Goldstück mit bebenden Fingern, setzte es auf Schwarz, nahm es aber wieder weg und gab es Fritschy.

»Bitte, setzen Sie für mich«, sagte er flüsternd.

Fritschy warf den Napoleon auf den Tisch. Das Goldstück rollte über das rote Feld hinweg zwischen die Zahlenreihen hinein und blieb auf siebzehn liegen. Im gleichen Augenblick rief der Croupier sein scharfes »Rien ne va plus!« Osman Effendi griff mit der Rechten unter sein glänzend gestärktes Oberhemd und faßte ein Amulette, das er seit seiner Kindheit auf der bloßen Brust trug, während die Kugel ihre verhängnisvolle Melodie absang. Dies hatte auch einmal in Paris geholfen. Man hörte das Fallen des Kügelchens nicht, denn in derselben Sekunde schoß der Invalide draußen im Saal sein geladenes Bein ab und durch die ganze Spielergesellschaft ging ein fühlbares Zucken. Es konnte ebenso leicht am Spieltisch ein Schuß gefallen sein.

»Siebzehn! Schwarz!« rief der Bankhalter einen Augenblick später, faßte dann zögernd eine der vor ihm stehenden Goldrollen und schleuderte mit Taschenspielergewandtheit vierundzwanzig Napoleon auf die Stelle, wo Osmans Geldstück lag. Dieser nickte Fritschy dankbar zu und ordnete seine neuen Rekruten für den nächsten Feldzug. Ein unterdrücktes Murmeln der Bewunderung ging von Mund zu Mund. Die Chioten sahen Osmans Geldhäufchen mit glänzenden Blicken an und rückten ihm zutraulich näher.

Die unerwartete Wendung der Dinge hatte seinen Mut gehoben. Er ließ fünf Napoleon auf dem Kreuzungspunkt der Zahlen 13, 14, 17 und 18 stehen. Vierzehn kam heraus. Er hatte wieder dreißig Napoleon gewonnen.

»Sapristi«, flüsterte er nervös, »das Glück erinnert sich meiner. Jetzt drauflos, so lange es lächelt; aber nicht überstürzen!«

Er setzte vorsichtig: einen Napoleon auf drei, zwei auf sieben, drei auf einundzwanzig.

Wieder rollte die Kugel.

Zero! – Die sechs Napoleon waren weggeblasen.

»Vielleicht, wenn Fritschy wieder gesetzt hätte«, murmelte Osman, »oder der Invalide im richtigen Augenblick schießen wollte. Bah! Man muß auch zu verlieren wissen!«

»Verdammter Unsinn!« sagte Ben Thinker, mit ehrlicher Entrüstung, indem er sich umwandte. »Machen Sie keine Dummheiten, Fritschy. Ich erwarte Sie draußen im Saal!« – Damit hob er den roten Vorhang auf und schlüpfte hinaus.

Den jetzt dichtgefüllten, grellerleuchteten Saal durchbrauste schallendes Gelächter. Die tanzende Schwiegermutter hatte soeben den Schluß ihrer ›Nummer‹ erreicht, Harlekin und Colombine auf den Knien vor der robusten, freudig erregten Dame stellte mit dem Aufwand glänzender Mimik in einem nicht mißzuverstehenden lebenden Bild das Glück des Ehestands dar.

»Dummheiten!« brummte auch hier der verstimmte Thinker. »Wenn man bei all dem nicht Zweck und Ziel hätte, wofür es sich lohnte, sich zu ärgern!«

In der hintersten Ecke des Saals war ein Tischchen frei. Dort ließ er sich nieder, und bestellte ein Glas Grog. Ehrlicher schottischer Whisky war leider nicht zu haben in der Jammerbude! –

O'Donald trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Sie sind allein?« fragte er teilnehmend.

Herr Ben deutete auf den roten Vorhang.

»Aha! Osman Effendi erinnert sich seiner Kinderstreiche«, sagte der Prokurist. »Er spielte schon, ehe er nach Paris ging. Das schadet weiter nichts; der Papa hat's. Aber lassen Sie Fritschy nicht anbeißen. Es wäre schade um sein hübsches Häufchen Geld, das auf unserer Bank liegt.«

»Ich denke, er ist alt genug, sich selbst zu hüten«, meinte Ben mürrisch. »Gibt es eine größere Torheit, als sein Geld und seine Zeit und die Kraft von Leib und Seele diesem Schwindel in den Rachen zu werfen. Dazu mit der Sicherheit, alles zu verlieren, wenn man lang genug spielt!«

»Geschmacksache, wie alles in der Welt«, antwortete O'Donald, indem er sich rittlings neben Thinker auf einen umgedrehten Stuhl niederließ, um anzudeuten, daß er sich nur gastweise hier befinde.

»In einer Welt, in der es so viel auszuklügeln, zu schaffen, zu wagen gibt«, fuhr Ben fort; »in der wir Aufregung finden, so viel unsere Nerven zu tragen vermögen, wenn wir nur zugreifen wollen – und angreifen!«

»So ist's; das aber wollen die wenigsten«, meinte der Prokurist. »Einem Rädchen zuzusehen, das ein anderer spinnen läßt, ist weitaus bequemer, als Quader für Stauwerke heran zu schleppen, die schließlich ins Rollen kommen können, so gut wie eine Roulettekugel.«

»Das eben verschafft uns die Aufregung!« sagte Thinker, nicht ohne Behagen an seinem Strohhalm saugend.

»Geschmacksache!« wiederholte O'Donald. »Ich glaube kaum, daß Ihr Effendi sich für das Stauwerk übermäßig aufregen wird.«

»Mehr als ich erwarten konnte, wenn man ihn am richtigen Ende zu fassen weiß«, flüsterte Ben, indem er sich vorbeugte, um gehört zu werden, ohne zu laut zu sprechen. »Die Augen beginnen mir aufzugehen: Spitzbuben, und nicht halb so blöde, als sie aussehen, diese Ägypter! Übrigens kommt es auf den Alten an, wie Sie besser wissen als ich; und ich glaube auf dem richtigen Weg zu sein. Lassen Sie nur acht Tage Zeit; Sie werden dann vielleicht von uns hören.«

»Acht Monate!« lachte O'Donald. »Sie kennen Ägypten noch nicht. Aber unmöglich ist es nicht, daß Sie Ihr Ziel erreichen, wenn Sie soviel Geduld als Feuereifer haben.«

Sie verstanden sich, auch ohne ein Wort zu sagen, das ein dritter verstanden hätte. Die Miasmen Kairos haben auch des ehrlichen Ben Thinkers Nerven gehörig angegriffen, dachte O'Donald, den nichts überraschte.

In diesem Augenblick erschien Fritschy mit strahlendem Gesicht unter der roten Portière, überflog mit einem Blick die bewegte Menge und kam rasch auf seine Bekannten zu.

»Ein Narrenglückspilz, dieser Effendi!« sagte er hastig. »Wir haben sechstausend Franc gewonnen, soviel ich in der Geschwindigkeit zählen konnte. Und es geht weiter, Schlag auf Schlag.«

»Donnerwetter!« rief O'Donald, »hat das Bänkchen so viel?«

»Sie wollten aufhören«, versetzte der Monteur, »aber zwei Gentlemen aus Chios, die auch gewinnen, drohten mit ihren Pistolen. So mußte der Bankier Nachschub holen lassen. Er sagt aber entschlossen, daß sei das erste und letzte Mal. Wenn es so fortgehe, ziehe er selbst die Pistolen vor. Bonjour!«

»Geben sie acht, daß die Gentlemen von Chios nicht helfen, den Gewinn nach Hause zu schleppen!« rief O'Donald dem Monteur nach, der hinter dem roten Vorhang wieder verschwand.

»Wir sollten fast nach ihnen sehen«, fuhr er, gegen Ben gewandt fort. »Solche Ausnahmefälle nehmen hier selten ein gutes Ende, und es würde nicht den besten Eindruck machen, wenn Ihren zwei Trabanten gerade heute etwas Menschliches begegnete.«

»Lassen Sie die Kinder spielen!« antwortete Thinker gleichgültig, fast verächtlich. »Für halb verloren halte ich den Tag sowieso. Mein armer verrückter Bruder hat mir einen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich bin nicht böse; er weiß nicht, was er tut. Aber dem Knüppel wird er wohl wieder begegnen. Das verspreche ich ihm in aller Brüderlichkeit.«

»Werden Sie nicht bösartig, Herr Ben. Das harmoniert nicht mit Ihrer Art«, lachte O'Donald. »Sehen Sie nur hin, wie harmlos der wackere Herr dort sitzt; wie weltvergessen er nach der Bühne blickt, wo jetzt jeden Augenblick der Stern des Abends erscheinen muß. Und verzeihen Sie, daß ich Sie verlasse. Er bedarf meines Trostes mehr als Sie. Langweilen Sie sich nicht!«

Der Prokurist war aufgestanden und drängte sich durch das Stuhl- und Menschengewirr seinem alten Platze zu. Der Theatervorhang hatte sich wieder gehoben. Eine fürchterlich hölzerne Palmenlandschaft mit einem türkischen Kiosk aus Pappe im Hintergrund, den jeder Luftzug bewegte, stellte die Haremsgärten Harun al Raschids zu Bagdad vor, wie auf dem Souffleurkasten zu lesen war. Eine tscherkessische Sklavin von übernatürlicher Schönheit, Milch und Blut von einer Löwenmähne goldensten Haars umwogt, trat langsam auf die Bühne und stimmte tiefverstimmt ein wehmütiges Heimatslied an, das gegen das Ende jedes Verses in unerwartet gutes Tiroler Jodeln überging. Madame Geraldine hatte im Leben gar manche Wandlung durchgemacht, wie es tscherkessischen Sklavinnen ja auch passieren soll. Die alte steirische Heimat schlug aber noch immer durch, sooft sich Gelegenheit dazu bot und war und blieb in der Tat das Beste, das sie bieten konnte. Unter lebhaftem Beifall verschwand sie, um nach wenigen Augenblicken, in denen sie einen Teil ihrer spärlichen Sklavenkleidung abgelegt hatte, wieder zu erscheinen. Sie schien in der kurzen Zwischenzeit in der Gunst des Sultans aufs höchste gestiegen zu sein, denn sie war an Armen und Beinen, am Hals und im Haar mit goldenen Ketten und blitzenden Edelsteinen überreich geschmückt und eine rote und eine grüne Lieblingsschlange wand sich zierlich und symmetrisch um ihren fast mehr als zierlichen Leib. Aus den tscherkessischen Bergen schien ihr noch etwas von der herben Schönheit ihrer rauhen Heimat anzuhaben, was sofort bei den anwesenden europäischen Handlungsgehilfen eine frenetische Begeisterung entfesselte und die wenigen still ihre Schibuks rauchenden Türken zum gelegentlichen Aufschlagen träumerisch gesenkter Augenlider veranlaßte. Nun begann der berühmte Schlangentanz. Die Tiere beteiligten sich mit vieler Intelligenz an der graziösen und nicht mühelosen Arbeit, wurden aber schließlich entbehrlich, da der reizende Tanz unter den Klängen der immer toller brausenden Zigeunermusik in einen ungarischen Czardas überging, der das Herz des gefühlsstumpfesten Kalifen hätte erweichen müssen. Wieder tobte der Beifall durch den Saal und Madame Geraldine verschwand zum zweitenmal.

»Ich glaube wahrhaftig, sie tanzte uns an«, sagte O'Donald, an dem Eis nippend, das ihm eine Kellnerin in Odaliskentracht gebracht hatte. Nach zehn Uhr abends erschienen alle Kellnerinnen im Café français in türkisch-französischen Phantasiekostümen.

»Unsinn!« antwortete Buchwald. »Sie tanzte den ganzen Saal an und arbeitet wie ein Pferd. Mir wird es immer unbehaglich vor Mitleid bei solchen Vorstellungen.«

»Überall ist Ihr Mitleid nicht am Platze und ich fürchte, diese Dinge verstehe ich besser als Sie. Entweder tanzte sie für Herrn Joe, was ich für das Wahrscheinlichere halte; oder für Sie. Ich bin hors de concours, da jedermann weiß, daß mich gegenwärtig eine innige Freundschaft mit der kleinen Triangel bei der Damenkapelle in der böhmischen Kneipe verbündet. Ich liebe die Grazie, die ins Kolossale geht, überhaupt weniger. Aber unseren Tisch ging es an; darauf können Sie Gift nehmen. – Sehen Sie; wieder eine Wendung!« unterbrach er sich selbst, halb aufstehend und scharf nach dem hinteren Saalende sehend: »Dacht' ich mir's doch! Ach, mit des Geschickes Mächten – das sind die einzigen fünf Worte, die mir aus meinen deutschen Schulstunden noch ankleben!«

Der Zufall wollte es, daß in diesem Augenblick durch das Vordrängen der Leute gegen die Bühne eine förmliche Gasse frei geworden war, durch die man bis an die Hinterwand der Halle sehen konnte, wo Ben Thinker Platz genommen hatte. Fritschy stand wieder neben ihm, aber bleich und verstört, und hinter ihm Osman Effendi, noch bleicher und verstörter. Sie sprachen beide auf Herrn Ben ein, der mißmutig dreinsah und mehrfach Zeichen gab, daß er von allem nichts verstehe oder nichts wissen wolle. Schließlich zog er eine schwere Börse aus der Tasche und zählte eine Reihe Goldstücke auf den Tisch, die Osman, mit einemmal wieder süßlich lächelnd, einstrich, worauf beide rasch in dem Gedränge verschwanden.

»Zwanzig!« sagte O'Donald, sein kleines Opernglas senkend. Er hatte den Vorgang mit gespannter Neugier verfolgt und atmete jetzt auf. »Genau zwanzig! Das war auch ein Stückchen aus der Pantomime des Abends, das ich ungern übersehen hätte. Haben Sie das Intermezzo verstanden?«

»Nur halb und halb«, antwortete der Maler. »Es scheint mir eine dumme Geschichte zu sein.«

»Richtig!« sagte der Prokurist. »Das Ganze bedeutet: Osman Effendi hat all sein Geld verloren. Er meint, er müsse es wieder haben. Wenn man ein paar tausend Franc gewonnen und wieder verloren hat, meint man dies unfehlbar. Und Herr Ben hat ihm zwanzig Pfund geliehen, die in einer halben Stunde auf demselben Weg verschwinden werden.«

»Ich hätte Herrn Ben für klüger gehalten«, bemerkte Buchwald.

»Urteilen Sie nicht zu rasch, junger Mann!« mahnte O'Donald, mit der komischen Miene frühreifer Erfahrung. »Herr Ben weiß, was er tut, und Osman Effendi ist Sadyk Paschas Ältester und sozusagen der Milchneffe des Allmächtigen.«

Der Doktor warf dem Leichtfertigen einen seiner ernstesten Blicke zu.

»Ich meine nicht unseren Herrgott«, entschuldigte sich dieser. »Der Allmächtige hierzulande ist ein Mensch und hat seine Schwächen, wie wir. Er heißt Vizekönig. Dies alles erkannt zu haben ist die Stärke Herrn Bens und wenn Sie Ihren leiblichen Bruder wirklich vernichten wollen, so hilft alles nichts: Sie müssen einen ähnlichen Weg finden. Sonst wäre es weiser, den Kampf aufzugeben.«

»Sie sind ein unverbesserlicher Taugenichts!« sagte der Doktor ärgerlich, konnte aber nicht weiter kommen, da Madame Geraldine zum drittenmal aus den Kulissen trat. Es schien im Harem des Kalifen etwas schief gegangen zu sein. Die prachtvollen Ketten und Edelsteine und andere Teile des fürstlichen Anzugs einer Favoritin waren verschwunden. Sie schwebte tiefbetrübt und auch äußerlich in sehr reduzierten Umständen auf einen Rosenbusch zu, der neben einem roten Diwan plötzlich aufgeblüht war. Hinter demselben zog sie ihre zwei Schlangen hervor, liebkoste sie zärtlich und bot ihnen nach einem kurzen Gesang ihren nur leicht geschützten Busen dar. Nach einigem Widerstreben bissen sich die entsetzlichen Bestien in dem zarten Muslin fest, und Madame Geraldine begann unter graziösen, allmählich rascher und qualvoller werdenden Bewegungen auf den Diwan nieder zu sinken und zu sterben. Sie litt lange. Besonders ergreifend war die letzte Zuckung, die man nicht mehr erwartet hatte, da durch die wehmütig vorschwebende Musik das völlige Ableben der großen Künstlerin bereits angedeutet war. Es trat ein Augenblick bewegter Stille ein, während sich die Bühne verdunkelte. Dann fiel ein Strahl roten Stronzianlichtes auf die herrlichen Formen, die regungslos auf dem Diwan ausgestreckt lagen. Jetzt aber brach das Bravo der erschütterten Zuschauer unaufhaltsam hervor, schließlich erstickt von dem hundertstimmigen Da capo! Bis! Da capo! der Menge. Und Madame Geraldine war gutmütig genug, nachdem sie sich nach allen Seiten lächelnd bedankt hatte, mit Weglassung der Schlangen, die zu ermüdet waren, noch einmal zu sterben.

»Gehen wir!« rief Joe, zornig aufstehend. »Ich begreife nicht, wie wir hierhergekommen sind.«

»Gut, aber langsam«, sagte O'Donald bereitwillig. »Ich möchte noch einiges sehen, das auch Sie interessieren sollte. Dann können wir, nach einem wohlverlebten Tag, zufrieden und glücklich nach Hause gehen. Das heißt, ich muß mich noch einen Augenblick den Böhmen widmen. Die kleine Triangel erwartet nach zwölf Uhr eine Tasse Schokolade, die ich zu liefern verpflichtet bin. – Sehen Sie mich nicht so bösartig an, Herr Thinker. Meine Absichten sind durchaus achtbar. Ich bemühe mich schon seit einiger Zeit, den Trauermarsch aus Saul auf der Triangel zu erlernen. Nicht leicht, das kann ich Ihnen sagen. Das Instrument scheint mir neuerdings nicht den genügenden Umfang zu besitzen.«

»Taugenichts!« wiederholte der Doktor, diesmal ernsthafter als zuvor.

»O dieser Pharisäer!« rief O'Donald. »Sie haben gut reden! Spielen Sie einmal Triangel, fünf Stunden lang, fast ohne Unterbrechung. Ob Sie dann nicht auch Lust hätten, ein Täßchen Schokolade zu sich zu nehmen?« –

Sie waren in dem Strom der Menschenmasse, die jetzt das Café verließ, bis vor den Wirtschaftsgarten hinaus gekommen. Auf der Straße vor demselben stand ein eleganter geschlossener Wagen mit Sais und Kutscher. O'Donald zögerte in einer für seine Begleiter unerklärlichen Weise, ehe er Thinker nach links, in der Richtung des Hotel Shepheard abbiegen ließ. Langsam setzten sie sich endlich in Bewegung. Aber nach wenigen Schritten hielt er wieder an und drehte nicht bloß sich, sondern auch die andern um. Eine dicht verschleierte Dame, gefolgt von einer zweiten, kam soeben aus dem Garten. Der in Weiß und Gelb gekleidete Sais öffnete den Wagenschlag. Die Damen stiegen ein und das Gespann fuhr lautlos in der Richtung der Muski davon.

»Also doch!« seufzte O'Donald nachdenklich. »Ich kenne das Fuhrwerk. Man kennt noch jeden europäischen Wagen in Kairo und braucht seine zehn Finger nicht um sie zu zählen, wenn man die vizeköniglichen wegläßt. Der dort verschwand, gehört Sadyk Pascha. Und Sie kennen die Dame, Herr Doktor – wie?«

Joe wandte sich mißmutig ab.

»Er läßt sie nur ins Hotel du Nil fahren, wo sie wohnt; vielleicht eine bloße Höflichkeit«, fuhr O'Donald fort. »Seine eigene Villa liegt auf der Schubraallee, in entgegengesetzter Richtung. Zur Hälfte hat das Stadtgeschwätz also seine Richtigkeit; aber vielleicht nur zur besseren Hälfte. Er treibt es jedenfalls fein. Man kann diesen Fellachin nachgerade alles zutrauen. – Achtung! Dort drüben geht die feindliche Truppenmacht: Herr Ben, Fritschy und Osman. Geschlagen und gerupft, dem Aussehen nach. Aber glauben Sie mir, ehe wir scheiden Herr Doktor: Ihr Bruder hat heute einen größeren Sieg im Café français davongetragen, als im Konferenzsaal des Hotel Shepheard. Rühren Sie sich, mit oder ohne Geraldine.«

 

»Taugenichts!!« – und damit trennten sie sich.

Buchwalds Weg führte ihn in entgegengesetzter Richtung vorbei an der düstern Saptiye, dem Polizeigebäude der Stadt, in die Muski. Es war die breiteste Straße des damaligen Kairos, eine enge Gasse zwischen hohen düstern Häusern halb italienischer, halb arabischer Bauart. Die kleinen europäischen Läden in ihrem Erdgeschoß waren seit Sonnenuntergang geschlossen. Die spärlichen hohen Fenster in den bleichgelben, mondbeschienenen oberen Stockwerken starrten schwarz und leblos in die Nacht hinaus. Tot lag die dunkle Straße vor dem nächtlichen Wanderer, die sich streckenweise, wo zerfetzte Matten und Teppiche von Haus zu Haus quer über den Weg gezogen waren, in einen riesenhaften, pechschwarzen Tunnel verwandelte. Das Drängen und Treiben, das bei Tag durch diesen Engpaß wogt, war völlig verstummt. Kaum drei oder vier bunte Papierlaternen bewegten sich in der Ferne gespenstisch wie Glühwürmchen hin und her. Wo, einem Mauseloch vergleichbar, ein Seitengäßchen abzweigte, sah man wohl in tiefem Grunde einen roten Schein und über demselben eine oder zwei Girlanden bunter Lämpchen, und hörte das einförmige Gemurmel von Gebeten oder das sanfte rhythmische Händeklatschen, das andeutete, daß sich dort eine ›Fantasia‹, eine kleine Festlichkeit der Araber abspielte. Denn es war die zweite Woche des Ramadan. In den unverfälschten ägyptischen Stadtteilen waren die Nächte unruhiger als gewöhnlich und doch unvergleichlich stiller als das Nachtleben der Esbekiye, das der Maler mit einem Seufzer der Erlösung hinter sich gelassen hatte. Die Träume, die seit Wochen seine Tage erfüllten, zogen ihn jetzt mit aller Macht in ihre Kreise, so daß er wieder umkehren und dreißig Schritte rückwärts gehen mußte, um in das pechschwarze Gäßchen einzutreten, das zu seinem Mamelukenpalast führte.

Als er in sein Atelier eintrat, schien ihm der Mond voll ins Gesicht. Schwarz und schweigend lag der wilde Garten zu seinen Füßen. Über demselben wölbte sich ein Sternenhimmel von weltentrückender Klarheit, wie ihn nur Ägypten kennt. Zur Rechten ragten die Kuppel und zwei Minaretts einer Moschee empor, deren zierliche Formen sich fast taghell gegen das schwarzblaue flimmernde Firmament abhoben. Zur Linken versperrte die dunkle Wand eines mächtigen Häuserblocks einen Teil des südöstlichen Horizontes. Es war das Hotel du Nil. Nur im obersten Stock des Gebäudes zeigte sich noch ein erhelltes Fenster und in weiter Ferne bellten Hunde. Alles andere lag in tiefem Schlummer.

Der Maler setzte sich auf die Brüstung seines Fensters und sog die köstliche Nachtluft in vollen Zügen ein. Die Stunde seiner wachen Träume, die er sich durch keine Wirren des Tages rauben ließ, war heute etwas spät angebrochen. Seine Gedanken hatten seit kurzem nicht weit zu wandern. Langsam, aber klarer mit jedem Tag, fühlte er, daß sein Sehnen zum Hoffen wurde und sein Hoffen zum Entschluß, zur Tat heranreifen werde. Und auf diesem Weg ging er auch jetzt ein Schrittchen weiter und sandte Grüße in die Nachtluft hinaus, so heiß, so schwer, daß sie ihm fast das Herz abdruckten. Er war ein echter Deutscher und sie war aus so weiter Ferne – in so weiter Ferne!

War es eine Ferne? War indisches Denken, indisches Empfinden dem Germanen eine so ganz fremde Welt? Regte es sich nicht manchmal, im geheimsten Wogen seiner Gedanken, wie die Erinnerung an eine ur-uralte Zeit? Wenn er wieder sehen könnte, was er in verschwommenen Bildern ahnte, die verflogen, sobald er sie zu fassen versuchte? Ob all das erwachen würde, klar und blitzend, wie ein Strom, der plötzlich aus der Felsennacht der Berge bricht. War nicht etwas der Art in ihm erwacht, als er sie zum erstenmal sah?

Aber es war ein Unglückstag auch noch zu dieser späten Stunde. Aus der Richtung des erhellten Fensters über dem Garten zitterten, erst kaum hörbar, dann lauter und schließlich hell und schmelzend wie die Stimme einer Nachtigall, das wohlbekannte Schubertsche Lied: »Leise flehen meine Lieder.«

Es war Geraldine. Der Klang der kräftigen, wohl geschulten Stimme war nicht zu verkennen und die ganze maurische Traumwelt ringsumher klang mit. Es war der Zauber der deutschen Klänge, die sich überall zurechtfinden, wo es etwas zu fühlen gibt. Ein Hauch heißer Sehnsucht wogte über den schwarzen Garten und um die Minaretts, die regungslos in die Mondnacht hinaufwiesen.

»Leise flehen meine Lieder

Ist es nicht eine verrückte, verkehrte Welt! Sagte er ingrimmig, und schloß das Fenster.


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