Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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24. Kapitel
List und Liebe

Wenn in dieser schlechten Welt ein im Grunde guter Mensch nicht mehr gehen kann, so fangen die weniger Guten an, für ihn zu laufen. Diese Wahrheit, die zwar von Pessimisten heftig bestritten wird, durfte Joe Thinker in den folgenden vierzehn Tagen in reichlichem Maße erfahren, obgleich ihm die Tatsache kaum zum Bewußtsein kam und er sie, wie es die im Grunde guten Menschen zu tun pflegen, in der naivsten Weise als selbstverständlich hinnahm. Nie hatte seine Sache solche Fortschritte gemacht, als während der Zeit, die er auf einem Sofa liegend in seinem Zimmer oder mühselig an zwei Stöcken humpelnd im Hotelgärtchen zubringen mußte. Dabei gingen sein verstauchter Knöchel und seine Ferse langsam aber sicher der Heilung entgegen. Sakuntala und Fräulein Schütz leisteten ihm teils abwechselnd, teils mit vereinten Kräften Gesellschaft, und es war für sämtliche Hotelgäste rührend anzusehen, wie er gepflegt wurde und mit welcher Geduld er Leiden und Pflege ertrug. Ben hatte kaum mehr nötig, sich seiner Pflichten als Onkel, Vormund und allgemeines Familienreiseoberhaupt zu erinnern, und schien dem immer zärtlicher werdenden Verhältnis seiner Nichte zu seinem Bruder und der Pyramide sorglos zuzusehen. Weit wichtiger aber war, was außerhalb dieses engeren Kreises für Joe geschah, während er mit kindlichem Vertrauen seiner Wiederherstellung entgegensah.

Es war O'Donald geglückt, die Geschichte jener Unglücksnacht zu seiner eigenen vollen Zufriedenheit aufzuklären, wozu Madame Geraldine mit großer Offenheit das Nötige beitrug. Er erzählte, daß er nur mit Mühe die gutherzige Künstlerin abhalte, an das Krankenlager des Doktors zu eilen, um ihm ebenfalls ihre Pflege angedeihen zu lassen. Sie habe sich dagegen reumütig des Versprechens erinnert, das sie Herrn Thinker gegeben, und sei seitdem unermüdlich bemüht, Sadyk Pascha über die Geheimnisse des Pyramidenbaus aufzuklären und ihm die Zusage abzuringen, dem Doktor eine wohlvorbereitete und wohlwollende Audienz beim Vizekönig zu verschaffen.

Von Zeit zu Zeit drangen weitere Nachrichten selbst bis Schubra: Anfänglich stießen Geraldines Bemühungen bei Sadyk auf großes Unverständnis, ja auf entschiedenen Widerstand. Dies war erklärlich. Seitdem Ben die mehrmals erwähnten zehntausend Pfund in neuen knisternden Banknoten an Osman Effendi, dieser das Geld an Baron de Charbonel und dieser allerdings wahrscheinlich nur teilweise an Sadyk Pascha ausbezahlt hatte, war der letztere überzeugt von der Vorzüglichkeit des großen Bewässerungsplans, der sich auf die Erbauung eines neuen Stauwerks mit Benutzung der alten wertlosen Pyramide als billiges Baumaterial stützte. Die technische Seite der Sache war ihm natürlich ebenso dunkel als gleichgültig. Das Projekt hatte aber eine unerwartete finanzielle Bedeutung gewonnen. Keineswegs im Sinne, den man in Europa betont hätte: als ein Mittel zur erhöhten landwirtschaftlichen Ausnützung des Bodens, zur Gewinnung neuer, heute unbebaut liegender Landesstrecken und so weiter. Der Wert des Thinkerschen Planes lag tiefer. In den vizeköniglichen Staats- und Privatkassen war seit einigen Monaten bedrohliche Ebbe eingetreten. Die schwebende Schuld wuchs von Tag zu Tag mit erschreckender Schnelligkeit und mit ihr die Schwierigkeit, da und dort bei den Bankiers von Kairo und Alexandrien kleine Summen für die Augenblicksbedürfnisse des Hofs zu entlehnen. Es mußte notwendig wieder eine größere Anleihe – etwa fünfzehn oder zwanzig Millionen Pfund wären annehmbar gewesen – aufgenommen werden. Eine Gruppe französischer und deutscher Geldmänner war bereit, die Sache in die Hand zu nehmen, machte aber Bedingungen, die Sadyk Pascha als Patriot und Finanzkünstler anzunehmen nicht gewillt war. Man hätte besser verhandeln können, wenn eine andere, etwa eine englische Finanzgruppe, Gegengebote gemacht hätte. Um diese etwas hartköpfigen Leute in Bewegung zu setzen, die unangenehm gerne nach dem Warum und Wozu fragten, bedurfte es eines annehmbaren Grundes für ein neues Darlehen. Da war nun ein großartiges Bewässerungsprojekt, aus dem man ungezählte Millionen künftiger Einnahmen herausrechnen konnte, ein hochwillkommener Gedanke. Bens Aussichten, erklärte O'Donald ernsthaft, nahmen plötzlich eine überaus günstige Wendung.

In den letzten acht Tagen konnte aber auch Madame Geraldine, wie sie meinte, auf glänzende Fortschritte hinweisen. Ob Sadyk nebenbei sein Herz entdeckt hatte und sie diese Entdeckung mißbrauchte, wird ein ewiges Geheimnis bleiben. »I hab ihn a paarmal Mutzi g'heiß'n. Des hat ihm g'fall'n«, erzählte sie dem Prokuristen, der ihr einen Besuch abstattete, um sie an ihre Pflicht zu erinnern. »Nur noch a bissl Geduld! In ena Woch' hab i ihn rum.«

Als mir dies O'Donald weitererzählte, wurde ich selbst ein wenig verwirrt.

»Sagen Sie mir jetzt nur eins, Verehrtester!« bat ich, indem ich ihn am Rockknopf schüttelte: »Mit wem halten Sie es eigentlich? Das einemal scheinen Sie alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Herrn Bens Stauwerk zu fördern, das anderemal schrecken Sie vor den bedenklichsten Schritten nicht zurück, dem wackeren hilflosen Doktor vorwärts zu helfen. Erklären Sie mir das!«

Der Prokurist wurde nachdenklich.

»Darüber habe ich mich selbst schon gewundert«, sagte er nach einer Pause. »Ich glaube, die Pyramide kümmert mich genau so viel wie das Stauwerk, und Ben und Joe sind beide gute Kerle, jeder in seiner Art. Wissen Sie, was Sport ist? Das einzige, was uns das Dasein in diesem Jammertal erträglich macht. Soll ich mir eine so schöne Gelegenheit verderben, etwas Leben in der Bude zu sehen? Mir ist wie beim Seilziehen auf einem Turnplatz zumute. Sehe ich die eine Partie gewinnen, so kann ich mich nicht enthalten, der andern beizuspringen. Sie heißen das Leichtfertigkeit und Charakterlosigkeit. Ich heiße es Edelmut. Wird es ernst, so wird sich die Sache schon von selbst ausfechten. Das überlasse ich andern. Übrigens – mit wem halten denn Sie's?«

Damit mußte ich mich begnügen. Ging es mir in der Tat nicht ähnlich, obgleich mich der Ernst dieses wunderlichen Kampfes etwas näher berührte als O'Donald? Hatte ich nicht seit vierzehn Tagen für Joe gearbeitet wie vor etlichen Wochen für Ben? Hatte ich nicht mit heimlichem Vergnügen bemerkt, wie Halim Pascha in der letzten Zeit zu öfterem auf die Pyramidentheorien unseres Freundes zu sprechen kam und sich mit ungewohnter Teilnahme nach dem verrückten Engländer erkundigte, wie er ihn nannte? Hatte ich ihn nicht schlau und stetig darauf hingewiesen, daß er den Vizekönig für die Sache interessieren sollte, die für Ägypten, dieses Land der alten Wunder, keineswegs gleichgültig sei?

Auch Bens persönliches Verhältnis zu Joe hatte eine fühlbare Änderung erlitten, seitdem die Brüder durch die Bürgschaftsangelegenheit wieder zusammengeführt worden waren. Je mehr Ben sich bewußt wurde, daß der Doktor einer hoffnungslosen Niederlage seiner Pläne entgegentrieb, während er selbst seinem Ziele triumphierend zusteuerte, und daß diese Wendung der Dinge im wesentlichen die Folge der zehntausend Pfund war, die Sadyk Pascha von der Genialität und der Leistungsfähigkeit des Engländers überzeugt hatten; um so weniger wurde er des Gefühls der Beschämung Herr, das ihn beschlich, sooft er den armen Invaliden seine Gehversuche im Garten des Hotels machen sah. Er besuchte ihn täglich. Sie schüttelten sich wieder die Hand. Ben sprach mit gedämpfter, liebevoller Stimme. Jede Anspielung auf das, was beide unablässig beschäftigte, wurde ängstlich vermieden. Joe ahnte nicht, daß sein Bruder nur mit Mühe Gefühle triumphierenden Mitleids verbarg, während dieser keine Ahnung davon hatte, daß sein Gegner weit entfernt von der Hoffnungslosigkeit war, die ihn hätte niederdrücken sollen, und daß ihm O'Donald, Buchwald und ich fast täglich Geheimmittel zutrugen, die ihn in dieser Zeit der Trübsal stärkten.

 

Zehn Minuten nach Sonnenaufgang stand ein Mameluk Halim Paschas in meinem Garten: Effendini lasse mich bitten, meinen üblichen Morgenbesuch eine Stunde vor der gewohnten Zeit abzustatten. Dies war stets ein Beweis, daß ihm am Abend zuvor oder in der Nacht ein Gedanke aufgestoßen war, den er vor Mittag verwirklicht sehen wollte, daß ich mich deshalb auf einen warmen Vormittag gefaßt machen müsse. Ich traf meinen Herrn und Meister auf der Gabeleya, dem Hügel in den damals noch berühmten Gärten Schubras, wo er unter der Veranda des den Gipfel zierenden Kiosks in der kühlen Morgenluft Billard zu spielen pflegte und dabei geschäftliche Dinge aller Art erörterte. Im Einklang mit der jeder Überstürzung abholden Weise des Orients wurden die gewöhnlichen Fragen, die der Tag mit sich brachte, vorerst in aller Ruhe erledigt. Ich teilte dem Pascha mit, daß die Umgestaltung des Baumwollpflugs, dessen erster mißglückter Arbeitsversuch mir so viel Kummer bereitet hatte, langsame, aber immerhin bemerkbare Fortschritte mache. Die Lokomotivwerkstätten zu Bulak hätten sich nach längerem Zaudern bereit erklärt, die von mir angegebenen Änderungen auszuführen, so daß wir hoffen könnten, das Geräte in einigen Monaten wieder im Feld zu sehen.

»Sehr gut, mon cher, sehr gut!« sagte Halim, sichtlich in bester Laune, zu seiner Billardkugel, die im Verlaufen eine völlig unerwartete Bewegung ausführte und dadurch seinen Gegner und Adjutanten, Rames Bey, in die mißlichste Stellung brachte. Dann trat er rasch auf mich zu.

»Was ich Ihnen sagen wollte, Herr Eyth: ich war gestern Abend bei meinem Neffen, dem Vizekönig. Er sprach von Ihrem Plan einer Dampf-Norak. Er meint natürlich, es sei sein Projekt.«

»Seine Hoheit gab den Anstoß zur Sache«, sagte ich, mich verbeugend.

Halim lachte; ich lächelte. Dann fuhr er fort:

»Er erwartet Ihren Besuch mit Ungeduld. Ich glaubte ihm mitteilen zu können, daß seine Ideen so weit gereift seien, um ihm vorgelegt zu werden. Das ist doch wohl so?«

»Ich habe zwei Pläne ausgearbeitet, die beide den Zweck, den der Vizekönig im Auge hat, erreichen dürften«, begann ich, mit Behagen ausholend. »Beim ersten ist ein intermittierender Betrieb –«

»Die Einzelheiten kümmern mich blutwenig, mein Freund«, unterbrach mich Halim, der darauf hielt, alleiniger Erfinder ägyptischer Maschinen zu sein. »Auch mein Neffe wird davon nicht viel wissen wollen. Aber er wünscht die Pläne zu sehen, um mit dem Bau der Maschine beginnen zu können. Machen Sie heute alles zurecht. Melden Sie sich morgen um neun Uhr im Ab'dinpalast. Er erwartet Sie.«

Eine abermalige Verbeugung meinerseits. Der Pascha griff wieder nach seinem Queue; die Audienz schien ihrem Ende nahe zu sein.

»Und noch eins – fast hätte ich es vergessen!« sagte er nach einem erfolgreichen Stoß, dessen Ergebnis ich mit höflicher Teilnahme verfolgte: »Nehmen Sie Ihren Freund mit – wie heißt der Herr? – Sinker? – Zinker? – Wir haben auch über diese Angelegenheit gesprochen. Der Vizekönig sagte mir, er stehe mit einem andern Mann desselben Namens in Verbindung, der sich ebenfalls mit der großen Pyramide beschäftigte. Ich konnte ihn hierüber aufklären und riet ihm, den beiden feindlichen Brüdern zu gestatten, ihre Sache vor ihm auszufechten, so gut sie könnten. Es ist zum mindesten amüsant, diese Herren um den alten Steinhaufen eifern zu sehen. Das leuchtete ihm ein. Treffen Sie also Ihre Vorbereitungen, Herr Eyth und benachrichtigen Sie Herrn Sinker, sich bereit zu halten.«

 

Ich hatte den Prinzen, die Gabeleya und den Garten rasch genug hinter mir und war nicht wenig erfreut über die Wendung, die die Dinge plötzlich genommen hatten. Es galt nun zunächst, hiervon Joe so schnell wie möglich in Kenntnis zu setzen, so daß auch er sich überlegen konnte, in welcher Weise die bevorstehende Begegnung auszunutzen war. Und es schien einer der Tage werden zu wollen, an denen sich die glücklichen Zufälle überstürzen. Vor meiner Haustüre stand Fritschy, die Hände in den Hosentaschen, sichtlich auf mich wartend.

Der Mann war während der letzten Tage unruhig und verstört zwischen Kairo und Schubra hin- und hergelaufen. Herr Ben habe nichts Vernünftiges mehr für ihn zu tun, erklärte er; mir selbst ging es augenblicklich fast ebenso. Täglich wurde jetzt Monier, der Administrator von El Mutana erwartet, dem ich ihn, in allseitigem Interesse, gerne mitgegeben hätte. So blieb nichts übrig, als ihn wiederholt zur Geduld zu ermahnen; aber noch nie hatte ich jemand ein nicht allzu schweres Geschick mit größerem Unbehagen tragen sehen. Die äußeren Umstände boten hierfür keine Erklärung. Er hatte etwas auf dem Herzen und wußte nicht, wie er es loswerden sollte.

»Können Sie ein Geheimnis vierundzwanzig Stunden lang bewahren, Fritschy?« rief ich ihm entgegen, erfreut eine Beschäftigung für ihn zu haben.

»Wochenlang!« antwortete er seufzend. »Es scheint mir zehnmal schwieriger, eins los zu werden – unter Umständen.«

»Mit Ihnen ist etwas nicht richtig«, sagte ich halb teilnehmend, halb ärgerlich. »Sie sind seit einiger Zeit ein anderer Mensch geworden, nicht zu Ihrem Vorteil.«

»Darunter leidet niemand mehr als ich«, versetzte er, trübselig einen vollen Apfelsinenbaum betrachtend.

»Was ist los mit Ihnen? Heraus mit der Sprache! Sind Sie krank?«

»Was kann ich tun?« fragte er ablenkend.

»Gehen Sie, so schnell Sie können, nach Kairo. Sagen Sie Herrn Joe Thinker, aber so, daß es sonst niemand hört oder erfährt, daß ich ihn morgen früh um acht Uhr abholen und mit ihm zum Vizekönig gehen werde.«

»Ist das alles?«

»Ja. Das weitere weiß er schon. Nehmen Sie mein Pferd. Es ist von Bedeutung, daß er die Botschaft so bald als möglich erhält. Und dann kommen Sie zurück und sagen mir, daß sie richtig bestellt ist und daß sie sonst niemand zu wissen bekam. Verstehen Sie: niemand! – Aber nehmen Sie sich in acht. Das Pferd hat seinen eigenen Kopf«

Ich stieg ab, Fritschy auf. Nach einigem Zureden geruhte mein Araber trotz des ungewohnten Reiters den Weg nach Kairo einzuschlagen, und ich ging in mein Arbeitszimmer, um die Zeichnungen und Skizzen zurechtzulegen, die ich morgen dem Vizekönig zeigen sollte. Es war noch manches daran auszubessern, Schattenlinien zu ziehen, einzelne Teile in Farben hervorzuheben, so daß auch ein königlicher Erfinder seine Gedanken erkennen konnte. Darüber waren zwei Stunden vergangen, als Fritschy erhitzt und staubbedeckt wieder eintrat.

»Nun?« fragte ich, etwas erstaunt über sein verstörtes Wesen. »Haben Sie die Sache besorgt?«

»Nein!«

»Der Kuckuck! Warum nicht?«

»Die ganze Gesellschaft ist abgereist. Fräulein Bertha, Herr Joe, Miss Sakuntala, Herr Ben – alles verschwunden!«

Ich starrte ihn entsetzt an.

»Das ist ja nicht möglich!« sagte ich endlich.

»Die Unmöglichkeit ist eine Tatsache«, versetzte der Monteur. »Man sagte mir im Hotel, die Herrschaften seien insgesamt kurz nach Tagesanbruch nach Bulak gefahren, hätten sich auf Herrn Bens Dahabie eingeschifft und hinterlassen, daß sie wahrscheinlich erst in drei bis vier Tagen zurückkommen werden.«

»Sapristi; nun ist guter Rat teuer«, sagte ich halblaut zu mir selbst.

»Ich ritt geradewegs nach Bulak«, fuhr Fritschy fort, »um vielleicht dort zu hören, wo sie hingesegelt seien. Richtig! Der Platz, wo Herrn Bens Dahabie gelegen hatte, war leer. Neben demselben lag ein Boot, auf dem der Dragoman einer andern Gesellschaft wohnt. Der Mann wußte mir zu sagen, daß die Thinkers kurz vor sieben Uhr mit einem feinen Südwind flußabwärts gefahren seien und bei der Barrage Mittag zu machen beabsichtigten. Der Reis habe schon am Abend zuvor Weisung erhalten, seine Leute für fünf oder sechs Tage zu verproviantieren.«

»Das war klug von Ihnen, Fritschy. Sie sind noch nicht ganz auf den Kopf gefallen«, sagte ich, um ihn aufzumuntern. »Nun bleibt nichts anderes übrig als den Flüchtlingen nachzujagen. Gehen Sie ohne Verzug auf den Feuerschech. Lassen Sie heizen und holen Sie die Leute zusammen. In dreiviertel Stunden sollten wir abfahren können. An Schubra ist die Dahabie natürlich längst vorüber, aber der Südwind wird nicht den ganzen Tag anhalten. Gegen Mittag spätestens müssen wir sie eingeholt haben.

Eine Stunde später waren wir in voller Fahrt stromabwärts. Der Nil nähert sich um diese Jahreszeit seinem niedersten Wasserstand, so daß wir, zwischen den steil abfallenden Lehmufern eingeschlossen, immer nur eine kurze Stecke des Flußlaufs übersahen. Zahllose Sandbänke und Inselchen, langgestreckte Landzungen, die von beiden Seiten in das Flußbett traten, machten die Fahrt schwierig, und mehr als einmal hörten wir den schlurfenden Ton und fühlten das unbehagliche Aufsteigen des Bootes, wenn der Kiel des kleinen Dampfers durch den Sand schnitt. Bei jeder Biegung des Flusses hoffte ich deshalb auch, Thinkers wohlbekannte Dahabie in einer unmöglichen Stellung quer über den Strom liegen zu sehen oder, wenn er sein Patentsteuer gebraucht haben sollte, sie bei dem Versuch zu überraschen, die steile Uferböschung zu erklimmen. Doch vergingen zwei volle Stunden, ohne daß diese Erwartung in Erfüllung ging, so daß ich schon zu zweifeln begann, ob Fritschys Nachrichten aus Bulak richtig gewesen waren. Der Monteur hatte den Rock abgeworfen und die Aufsicht im Maschinenraum übernommen. Er schien zehnmal ungeduldiger als ich und ließ trotz meiner Mahnungen heizen, daß die Sicherheitsventile, seit wir Schubra verlassen hatten, nicht mehr zur Ruhe kamen. Manchmal erschien sein blühendes Gesicht in dem Loch, das in den Maschinenraum hinabführte. »Noch nichts!« schrie er dabei halb lachend, halb ärgerlich herauf. »Noch nichts!« rief ich halb ärgerlich, halb lachend hinunter. Worauf ich regelmäßig ein erneutes heftiges Rasseln mit Schürhaken und Kohlenschaufeln hören mußte.

Endlich kam die lange Brücke der Barrage in Sicht und dort, an der Mauer der großen Schleuse, lag die ersehnte Dahabie mit eingerafftem Segel und von zwei Tauen festgehalten. In wenigen Minuten waren wir an ihrer Seite. Der Reis und seine Leute saßen müßig auf dem Vorderdeck und kochten. Ben Thinker, ein langes Fernrohr in der Hand, mit dem er uns beobachtet hatte, stand allein auf dem Dach der Kajüte.

»Hallo! Herr Eyth!« rief er mit zu, »was der Kuckuck bringt Sie hierher?«

»Mein Feuerschech, wie Sie sehen«, antwortete ich ausweichend. »Sie können uns zu allen Tages- und Jahreszeiten in jedem Winkel des Landes sehen, wo drei Fuß Wasser zu finden ist. Aber was in aller Welt fiel Ihnen ein, wie ein Dieb in der Nacht mit Kind und Kegel davonzusegeln? Das ist ja förmlich polizeiwidrig.«

Damit sprang ich auf die Dahabie über. Wir begrüßten uns lebhaft, wobei unverkennbar war, daß sich Ben in ungewöhnlicher Verlegenheit befand.

»Haben Sie einen Versuch mit dem Patentsegelsteuer gemacht?« fragte ich, um die Unterhaltung in Gang zu bringen.

»Ja – das heißt, nein – nämlich – ich dachte –«, stotterte er; »mein Bruder Joe braucht frische Luft, nach seiner Krankheit, und da kam mir der Gedanke, wir könnten ihn ein paar Tage spazierenführen – ja – und Fräulein Schütz lag mir schon seit vierzehn Tagen in den Ohren, ich möchte doch Sakuntala und sie nach Benha nehmen, wo sie, weiß der Himmel weshalb, die Ruinen von Athribis studieren will. Vielleicht weil ihr Joe gesagt hat, daß die Alten den Schutthaufen ›die Herzstadt‹ hießen. Das klingt wie ein Femininum. Nun sehen sie, diese zwei Gedanken ließen sich vortrefflich ineinander arbeiten – und so –«

»Wo ist denn aber Ihre Reisegesellschaft?« fragte ich.

»Droben auf der Brücke bei Monsieur Marie, der uns natürlich mit Enthusiasmus empfing und nun meinen Bruder für die Barrage zu begeistern sucht. Das war auch eine meiner Nebenabsichten bei dem Ausflug. Vielleicht gelingt es doch noch, Joe etwas Vernunft beizubringen. Denn sehen Sie, Herr Eyth –«

Er wurde wieder verlegener. Dann brach er plötzlich los: »Donnerwetter – so kommen wir nicht weiter. Sie sind, glaube ich, ein ehrlicher Mann, der mein Vertrauen nicht mißbrauchen wird. Sie müssen ein Freund der guten Sache sein, denn Sie sind Ingenieur und vergeuden Ihre Kräfte mit Wasserpumpen. – Hand drauf: es bleibt unter uns, was ich Ihnen sage! – Ich habe morgen meine erste Audienz beim Vizekönig. Alles ist geregelt. Sadyk Pascha wird mich einführen. Wie mir Osman Effendi sagt, ist der Vizekönig so viel als entschlossen, auf meine Pläne einzugehen, wenn sie für seinen Geschmack großartig genug sind. Na, dafür werde ich schon sorgen.«

»Aber ich begreife nicht, wie Sie unter diesen Umständen die Segelfahrt antreten konnten«, rief ich, unfähig ein erschrockenes Erstaunen ganz zu verbergen.

»Sagt' ich es Ihnen nicht?« fragte Ben, wieder etwas zögernd. »Es ist eigentlich mehr mein Bruder, der die Segelfahrt antritt. Seit er mir in einem wirklich mißlichen Augenblick auf die edelmütigste Weise beisprang, möchte ich alles für ihn tun, was in meinen Kräften steht. Er braucht frische Luft. Und dann hoffe ich, daß ihn der Anblick der Barrage mit meinen Plänen aussöhnt, und dann – dann möchte ich ihm das peinliche Gefühl ersparen, mitansehen zu müssen, wie nun eben doch meine Ideen durchdringen. Glauben Sie mir, Herr Eyth, es ist besser für ihn, er hält sich für einige Tage mit den Damen in Benha auf und studiert die Herzstadt. Ich denke, als der Vernünftigere von uns beiden, an sein weiches Gemüt und an das Fieber, das er kaum überwunden hat.«

»Schön; aber Sie? Ich begreife noch immer nicht –«

»Ah, dafür ist gesorgt!« rief Ben, mit dem alten Ton des Triumphs. »Ich hatte schon vor zehn Minuten im Sinn, mich zu entfernen, als Ihr Feuerschech in Sicht kam. Seit gestern Abend wartet dort drüben in Kahub mein Dragoman und ein Pferd auf mich. Sehen Sie dort auf dem Tisch liegt ein Brief für Bruder Joe, der ihm mein plötzliches Verschwinden erklärt. Wollen Sie ihm den Brief übergeben? Es hat keine kleine Mühe gekostet, die Dinge so zu ordnen, daß alles klappt. Aber was war zu machen? Die großen Aufgaben, für die wir arbeiten, verlangen manchmal außerordentliche Mittel.«

»Sie sind wahrhaftig mehr als ein Erfinder!« sagte ich bewundernd.

»Keine Schmeicheleien! Ich tue, was mir meine schwachen Kräfte zu tun gestatten und was ich meinem Ziele und meinem Bruder schuldig zu sein glaube. Wahrhaftig, Herr Eyth, ich denke in wirklicher Liebe auch an meinen Bruder. Es ist nichts für ihn, sich in diesem Kampf der Interessen zu bewegen. – Nun aber halten Sie mich nicht länger auf. Glückliche Fahrt! Und wenn Sie Joe begrüßen, vergessen sie nicht, was Sie mir versprochen haben. Der Brief erklärt ihm alles, was er zu wissen braucht. – Ali!« –

Einer der Schiffsjungen sprang auf.

»Der Bursche zeigt mir, wo ich den Dragoman mit dem Pferd finde. Leben Sie wohl! Und reinen Mund halten!«

Er war schon über dem Gangbrett der Dahabie und nach einer weiteren Minute hinter dem Damm verschwunden, der nach der Landseite hin unsere Horizont bildete. Ich brauchte etwas länger, bis ich mich einigermaßen gefaßt hatte. Dann stieg ich langsam die Steintreppe hinauf, die auf die Höhe der Brücke führt, wo ich Joe und die Damen zu finden hoffte.

Sie kamen in dem Augenblick, als ich das Ende der Treppe erreichte, unter Monsieur Maries Führung aus einem der Ecktürme hervor, welche den mächtigen Bau schmücken. Der alte Brückeninspektor war in voller Tätigkeit, mit Armen und Beinen und der nie ermüdenden Zunge seinen Gästen den großen Gedanken der Barrage, den unglücklichen Stand der Dinge und die führende Rolle, die er bei all dem gespielt hatte, auseinanderzusetzen. Er litt sichtlich unter einem peinlichen Seelenzwiespalt, da er sich verpflichtet glaubte, seine Aufmerksamkeit in gleichem Maße den Damen und Herrn Joe zuzuwenden. Mein Erscheinen verdreifachte seine Schwierigkeiten; denn er wollte nun auch mir weit mehr als ein Drittel seiner Erklärungen zugute kommen lassen, ohne die andern zu verkürzen.

»Sie sehen in Herrn Eyth«, erklärte er Thinker, »einen der verständigsten Ingenieure, die mir von Zeit zu Zeit die Ehre ihres Besuchs schenken. Ein wirklich hervorragender Herr. Sollte sein hoher Chef, Seine Hoheit Halim Pascha sich der großen Aufgabe annehmen, die hier noch zu lösen ist, so könnte ich mit Befriedigung in die Zukunft blicken. Stolz aber wäre ich, unsäglich stolz, wenn Ihr Herr Bruder, dem ich meine reichen Erfahrungen eine ganze Woche lang zur Verfügung stellte, seine großartigen Gedanken zur Ausführung brächte. Dann würde auch ich einem Ziel meiner Lebensarbeit entgegensehen, das mich für die schmerzlichen Enttäuschungen entschädigte, die ich an dieser Stelle erfahren mußte.«

Joe wandte sich bewegt ab und bat Fräulein Schütz, ihm nichts mehr zu übersetzen, – er verstehe genügend Französisch, um Monsieur Marie folgen zu können, – worauf sich dieser mit ungeschwächter Kraft an die Damen wandte. Ich zog den Doktor auf die Seite:

»Soeben habe ich Ihren Herrn Bruder begrüßt und verlassen.«

»Er blieb unten«, erklärte mir Joe. »Er leidet neuerdings wieder häufiger an seinen Kopfschmerzen und scheint heute schlimmer daran zu sein, als ich mit meinem Fuß.«

Es war nicht leicht, mein Versprechen der Verschwiegenheit so zurechtzulegen, daß ich sagen konnte, was gesagt werden mußte.

»Er verabschiedete sich von mir«, begann ich zögernd. »Er ging nach Kairo zurück, wenn ich ihn recht verstanden habe.«

»Was? Das ist ein Mißverständnis«, rief Joe. »Wir sind auf dem Wege nach Benha; das heißt – er. Er will die Mädchen nach Benha bringen.«

»Ich glaube nicht«, versetzte ich. »Er ließ einen Brief für Sie zurück und bat mich, Ihnen denselben einzuhändigen.«

Der Doktor öffnete das Schreiben, sichtlich verwirrt.

»Können Sie mir dies erklären?« sagte er nach einer Pause und gab mir den Brief zurück. Er lautete:

Lieber Bruder! Du kennst die Kopfschmerzen, die mich gelegentlich heimsuchen. In der Hitze des ägyptischen Klimas verdient dieses Leiden eine sorgfältigere Beachtung als in unserer kühlen Heimat. Da sich in dem benachbarten Kaliub eine Gelegenheit bietet – es steht dort ein Pferd, das nach Kairo gehen soll –, so habe ich mich rasch entschlossen, ebenfalls zurückzukehren. Die Dahabie und alles, was damit zusammenhängt, steht zu Deiner Verfügung. übernimm das Kommando, sorge für die Mädchen und sei wegen mir ganz unbesorgt. Wenn Ihr Eure interessanten Studien in Benha beendet habt, hoffe ich Euch wohl und munter und namentlich Dich vollständig hergestellt in Bulak eintreffen zu sehen. Indessen glückliche Reise! Dein treuer Bruder Ben.

Nachschrift: Nötigenfalls könnt ihr von Benha auch mit der Bahn zurückkehren, wenn Du nicht vorziehen solltest, was ich Dir ernstlich raten möchte, die frische Luft auf dem Fluß ein paar Tage länger zu genießen.

In der Tat, an meinem Freund Ben ist ein Diplomat verlorengegangen, dachte ich in stiller Bewunderung. Es war kein unwahres Wort in dem Brief und nicht eine Silbe, die die Wahrheit verraten hätte. Kein Wunder, daß mich der Doktor wie betäubt ansah.

»Können Sie mir dies erklären?« wiederholte er endlich, fast stammelnd.

»Ich möchte mir kaum erlauben, mich in die Angelegenheiten Ihres Herrn Bruders zu mischen«, antwortete ich vorsichtig: »Übrigens erleichtert mir seine Abwesenheit die Mitteilung, um deretwillen ich Ihnen nachgefahren bin. Sie wird Ihnen alle trüben Gedanken mit einemmal verscheuchen. Wünschen Sie sich Glück. Der Vizekönig will Sie morgen empfangen.«

Joes Gesicht leuchtete auf. Doch drückte es nicht Überraschung und Entzücken aus, sondern die ruhige Freude satter Befriedigung. Die Reihe des Erstaunens war an mir.

»Ich weiß es, ich weiß es!« rief er und drückte mir die Hand.

»Nicht möglich! Sie können es nicht wissen.«

»Doch, doch! Schon seit gestern Nachmittag.«

»Das ist nicht möglich«, sagte ich hartnäckig. »Ich selbst hörte es erst heute und aus allererster Quelle.«

»Ah, mein lieber Freund«, versetzte der Doktor mit seinem glücklichen Lächeln, in das er erfolglos etwas wie listige Verschmitztheit zu legen suchte; »ich bin auch kein Neuling mehr und beginne die krummen Wege dieses Landes zu verstehen. Woher ich es weiß? Ja, das ist eine lange Geschichte. Sie wissen – mein Fuß –«

Er schlug mit dem Stock, den er zum Gehen noch nicht entbehren konnte, fröhlich auf seinen Stiefel und sah sich dann vorsichtig um. Die Damen waren mit Monsieur Marie weitergegangen und Fritschy, mit rosig geriebenem Gesicht und triefenden Haaren, befand sich bereits mitten unter ihnen. Joe fuhr fast flüsternd fort:

»Freund Buchwald sagte mir, daß Sie von der Sache wissen, lieber Herr Eyth. Auch glaube ich, sind Sie der letzte, der ein durchaus achtbares Verhältnis mißverstehen könnte, in das ich durch ganz merkwürdige, ich möchte sagen, providentielle Umstände verwickelt wurde. Kurz und gut: Madame Geraldine ließ mir gestern durch O'Donald sagen, daß der einflußreiche Sadyk Pascha versprochen habe, meine Audienz beim Vizekönig auf morgen anzusetzen. Was sagen Sie dazu?«

»Daß ich und Seine Hoheit Halim Pascha offenbar um vierundzwanzig Stunden zu spät kommen«, versetzte ich lachend. »Um so besser und meine doppelten Glückwünsche! Aber – sagen Sie mir jetzt nur eins! – wie kommen Sie denn hierher, auf eine Fahrt nach Benha, die Sie mindestens vier Tage kosten wird, wenn sich der Wind dreht?«

»Pst!« machte Joe mit der Miene unbeschreiblicher Schlauheit. »Ich bin keineswegs auf dem Weg nach Benha. Aber das ist eine zweite Geschichte. Wir haben jetzt Zeit. Sie sollen alles erfahren. Gehen wir nach dem Boote; die andern werden schon nachkommen.«

Er schmunzelte in sich hinein, nahm meinen Arm um besser gehen zu können und fuhr fort:

»Ich weiß, Sie halten mich für einen unpraktischen Träumer. Sie werden staunen! – Vielleicht haben Sie es selbst bemerkt: seit der unseligen Geldgeschichte ist mein Bruder für mich die Aufmerksamkeit und Herzlichkeit selbst. Das hält ihn jedoch nicht ab, seine verwerflichen Pläne unablässig und unbarmherzig zu verfolgen. Ich vermute, er denkt ähnliches von mir. In allem andern kann es seit meiner Krankheit keine wahrhaft liebevolleren Brüder geben als uns. So schlug er mir schon gestern früh vor, mit seiner Dahabie nach der Barrage oder bis Benha zu fahren, um einmal gründlich frische Luft zu schöpfen. Ich nahm die Einladung dankbar und mit Vergnügen an. Nachmittags kam dann O'Donald mit seiner Nachricht von Madame Geraldine. Was war nun zu machen? Ich konnte Ben den wirklichen Sachverhalt unmöglich mitteilen. Erstens wollte ich ihn nicht betrüben, und zweitens war nicht abzusehen, was er in seiner raschen und gewalttätigen Weise getan hätte, um meinen Erfolgen in den Weg zu treten. Das beste schien, ihn auf einige Tage von Kairo fernzuhalten. Ich beschloß deshalb, ruhig bis zur Barrage mitzufahren und nach Besichtigung dieses mißglückten Wunderwerks – ein echtes Bild unserer Zeit! – an der meinem Bruder viel gelegen zu sein schien, von Kaliub aus unbemerkt nach Kairo zurückzukehren. O'Donald versprach, Reittiere zu schicken, die mich mit Ibrahim ben Musa, dem Dragoman, seit heute Mittag dort erwarten.«

»Sie haben recht«, sagte ich. »Dies hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«

»Ach mein lieber Freund«, rief Joe aus tiefster Seele; »es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken, sagte schon Ihr Goethe. Wenn wir einer wahrhaft großen Sache dienen, sind wir zu Taten fähig, die uns unter gewöhnlichen Umständen unmöglich wären. Übrigens möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß mich bei all dem O'Donald mit Rat und Tat wesentlich unterstützte. Wenn die Pyramide gerettet wird, soll ihm dies in der dankbaren Erinnerung der Nachwelt nicht vergessen sein.« –

»Sind es Esel? – ich meine die Reittiere in Kaliub«, fragte ich.

»Ich denke ja. O'Donald weiß, daß mir Pferde weniger angenehm sind.«

»Gut. Nun lassen wir durch einen meiner Bootsleute dem Dragoman sagen, er solle getrost nach Hause reiten. Sie können die Damen mitten auf dem Nil nicht im Stich lassen. Ich nehme Ihre Dahabie ins Schlepptau; so fahren wir ohne Verzug nach Kairo. Ohne mich würden Sie bei diesem Wind Bulak heute nicht mehr erreichen.«

»Ein ausgezeichneter Plan!« rief Thinker erfreut. »Nur bedaure ich, daß mein armer Bruder mit seinen Kopfschmerzen den weiten Weg nun zu Pferd zurücklegen muß. Wie viel bequemer hätte er es haben können! Er war von jeher zu hastig. Und morgen liegt er höchst wahrscheinlich schwer darnieder. Dieses unglückselige Stauwerk!«

Eine halbe Stunde später waren wir nach einem wort- und gefühlsreichen Abschied von Monsieur Marie auf der Rückfahrt, die gegen Wind und Strömung mit bedächtiger Langsamkeit vor sich ging. Etwas erschöpft von der wiederholten Besichtigung der Barrage und den Höflichkeiten Iskanders hatten sich die Damen in die Kajüte der Dahabie zurückgezogen. Thinker und ich saßen im Vorderteil des Feuerschechs, wo uns ein lebhafter Südost wenn nicht Kühlung, so doch frische Luft entgegenblies. Fritschy lag auf einem Diwan aus Segeltuch und Tauen am Steuer und sah unverwandt nach der Dahabie, die verdrossen hinter uns herschaukelte. Es wäre von der einförmigen Fahrt kaum ein Wort mehr zu melden, wenn mir nicht Buchwald einige Wochen später Mitteilungen gemacht hätte, die aus allererster Quelle stammten, und ebenso gut an dieser Stelle eingeschaltet werden können, auf die sie ein chronologisches Recht haben.

Unter den offenen Fenstern der kleinen, aber elegant ausgestatteten Hauptkajüte der Dahabie liefen auf beiden Seiten breite Diwans hin, auf denen man gar bequem dem Plätschern des Wassers gegen die Seiten des Schiffs und dem einschläfernden Rauschen des Raddampfers zuhören konnte. Hier hatten sich Sakuntala und Bertha, jede mit einem Buch bewehrt, niedergelassen, um die unausbleiblichen Folgen einer derartigen Nachmittagslektüre in Ergebung zu erwarten.

Nach einer halben Stunde, die in traumhaftem Rauschen und Plätschern hinschwand, erhob Sakuntala ihre samtene Stimme und sagte teilnehmend: »Du schläfst nicht, Bertha?«

»Ich lese«, antwortete Fräulein Schütz schwermütig und richtete den Blick auf die am Boden liegende Geschichte der Kalifen. Kurz zuvor hatte ihr Auge mit sinnender Beharrlichkeit auf dem Steuerruder des Feuerschechs geruht, das sie durch die offenen Fenster sehen konnte, so oft sich die Dahabie etwas schief gegen die Zuglinie des Dampfers drehte. Es gab so viel zu denken. Dieser zweite Besuch der Barrage hatte Erinnerungen geweckt, welche weit zurückzuliegen schienen, so voll waren die Wochen gewesen, die sie seitdem durchlebt hatten. Hier hatte sie das Wölfchen kennengelernt, das später im Garten des Hotel Shepheard, in einem ihm eigenst gezimmerten Häuschen – ›Er‹ verstand wunderniedliche Häuschen zu zimmern – allen Zähmungsversuchen erfolgreichen Widerstand geleistet hatte. Das Tierchen war erstaunlich schnell gewachsen, aber wilder statt zahmer geworden. Da es seine Kette nicht zu zerreißen vermochte – ›Er‹ hatte ihm eine zierliche, aber wundervoll starke Kette geschmiedet – war es vor wenigen Tagen samt der hölzernen Hütte durchgegangen, von der man am äußersten Ende der Schubra-Allee nur noch einige klägliche Überreste entdeckte. Hier auch hatte sie den schwarzlockigen Techniker kennengelernt, dessen Geist weit über seinen Beruf hinausstrebte, dessen Herz – doch was ging sie sein Herz an!

»Du liest nicht, Bertha!« sagte Sakuntala nach einer weiteren Viertelstunde.

»Ich schlafe«, versetzte Fräulein Schütz, noch schwermütiger. »Das heißt, ich versuche zu schlafen. Aber diese Zeiten sind für mich vorbei!«

Sakuntala, die während der letzten Dreiviertelstunde ebensowenig gelesen hatte, aber so munter geworden war wie eine Lerche in den ersten Morgenstunden, sprang auf und setzte sich auf ein Feldstühlchen neben ihre Freundin.

»Du bist unglücklich, meine Liebe!« sagte sie mit überquellender Teilnahme. »Ich schäme mich, denn ich bin so glücklich, daß ich es fast nicht mehr ertragen kann. Warum sollen wir länger Verstecken spielen? Kennen wir uns nicht lange genug und sind wir nicht fast allein in der Welt? Tausche dein schweres Herz ein gegen mein volles, du machst keinen schlechten Tausch!«

Sie umschlang die ältere Freundin, die ihr Gesicht in die nächste beste Schlummerrolle drückte und leise zu schluchzen begann.

»O Sakuntala, hast du je geliebt?« flüsterte sie kaum hörbar.

Sakuntala war hierüber keinen Augenblick im Zweifel.

»Und wie!« rief sie unbedacht, suchte aber dann tastend und verwirrt nach eine zweiten Schlummerrolle, um die brennende Röte, die in ihren Wangen aufstieg, zurückzudrängen.

»Du auch!« hauchte Bertha, sich aufrichtend. »Oh, ich ahnte es schon längst. Und er liebt dich, du Glückliche!«

Das Eis war gebrochen. Schon seit dem Ballfest schmolz es, ohne daß sie es bemerkt hatten. Bertha vergaß ihr Herzeleid in der Teilnahme an dem Glück, das in leisen heißen Worten über die Lippen Sakuntalas strömte.

»Und auch du mußt glücklich werden! Ich weiß, du wirst glücklich werden!« schloß sie die etwas verwirrte Schilderung von dem, was Buchwald für sie geworden war.

Bertha blickte sinnend durch ihre Tränen und das Kajütenfenster. Der Zufall wollte es, daß sich die Dahabie wieder einmal krebsartig schief gegen den Dampfer fortbewegte. Dort am Steuer saß Fritschy noch immer, unverwandt, toggenburgartig das scheinbar unbewohnte Nilboot betrachtend, das widerwillig dem Feuerschech folgte.

»Du wirst glücklich werden, meine beste Bertha!« wiederholte Sakuntala, die den Blick ihrer Freundin begleitet hatte. »Er sitzt nicht umsonst seit zwei Stunden am Steuer. Auch ich bin ja noch nicht am Ziel. Deshalb müssen wir vernünftig sein, aber handeln.«

Entschlossen trocknete sie Berthas Wehmuts- und ihre eigenen Freudentränen. Dann wurde ein Kriegsrat gehalten, der mit bewundernswerter Klarheit die Schwierigkeiten ins Auge faßte und die Maßregeln erwog, welche zu einem glänzenden Doppelsiege führen könnten. Allerdings scheiterten die kühneren Vorschläge Sakuntalas an der mädchenhaften Zaghaftigkeit ihrer älteren Freundin. Die üblichen Rollen von Erzieherin und Schülerin schienen plötzlich vertauscht zu sein: so schnell reift der Geist der Frau unter den Strahlen einer glücklichen Liebe. Endgültig wurde nur der ziemlich bescheidene Beschluß gefaßt, Onkel Joe bei der ersten besten Gelegenheit in das Hauptgeheimnis einzuweihen, da sein Herz vertrauenswürdiger sei als der Verstand irgendeines andern zur Verfügung stehenden Onkels, und daß nach seinem Rat alles weitere geregelt werden solle.

Kaum waren die Beratungen bis zu diesem Punkt gediehen, als der Feuerschech mit seinem Anhang in Schubra ans Land stieß. Ich verabschiedete mich rasch von meinen Freunden, denn ich hatte einen in anderer Richtung verlorenen Tag nachzuholen. Thinker nahm mein Anerbieten, ihn bis Bulak schleppen zu lassen, dankbar an und Fritschy erbot sich, den kleinen Dampfer zu steuern und unversehrt zurückzubringen. Mein Reis, dem der rasche Aufbruch am Morgen noch im Magen lag, versicherte nämlich hoch und heilig, daß er wegen dringender Familienverhältnisse an diesem Abend nicht mehr weiter fahren könne.

»Gut«, sagte ich, nach einigem Zaudern zu dem Monteur. »Aber nehmen Sie sich in acht. Der Nil ist voller Sandbänke weiter oben. Ich könnte wetten, daß Sie stecken bleiben.«

»Keine Furcht!« rief er mit erzwungenem Lachen und gab mit der Dampfpfeife ein langes klagendes Signal zur Weiterfahrt. – Ein wunderlicher Kerl, der Fritschy!


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