Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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4. Teil

Erde

        Führt um die Sonne dich dein Riesenpfad,
Als triebe dich ein felsenfester Wille;
Liegst träumend du in einer Mondnacht Stille
Auf Berg und Tal, die nie der Mensch betrat:

Du bist das Sichre, Feste, das er hat,
In der Erscheinung buntbewegter Fülle,
Die schlichte Treue, ohne Schein und Hülle;
Dein ist die Kraft der Ruhe; dein die Saat.

O Mutter, die wir weinend wieder suchen,
Wenn uns das Leben allzu weh getan;
Das Leben, das verzweifelnd wir verfluchen

In seinen Wirren und in uns'rem Wahn;
Das stets verjüngt du uns zurückgegeben:
Dein ist die Saat, o Mutter, dein das Leben!


22. Kapitel
Ein Opfer

Selbst der schwarze Bob, ein weißhaariger Sudanese, das älteste Inventarstück des Hotel Shepheard, der die wanderlustige Bande der arabischen Zimmermädchen männlichen Geschlechts überwachte und als Dragoman für alles im oberen Stockwerk des Gasthofs diente, konnte sich nicht erinnern, einen ähnlichen Morgen erlebt zu haben. Niemand verlangte seine Dienste. In der geräumigen Halle, die kreuzgangartig den stillen Hotelgarten umschloß, brannte die Morgensonne seit drei Stunden, aber es rührte sich nichts. Von Zeit zu Zeit schlich Mansur, der frechste der Stiefelputzer, die eigenen Schuhe in der Hand, an den Zimmertüren hin und horchte. Es war, als ob sich die Geschichte vom Dornröschen nach Ägypten verirrt hätte. Nur im Zimmer des Amerikaners schnarchte es. Das war dessen Frau. Sie also lebte noch. Mansur, von plötzlichem Schrecken erfaßt, lief davon und erzählte unten, mit weit aufgerissenen Augen, was er gehört und gesehen hatte.

Es war nicht geheuer im oberen Stockwerk. Das Töpfchen heißen Wassers, das sich Lord Dudley jeden Morgen bringen ließ, stand seit zwei Stunden vor Nummer acht und war längst kalt geworden. Selbst der Herr Kurier Seiner Lordschaft schlief noch, obgleich er den Ball nur von außen mitgemacht hatte. An dem Türpfosten von Nummer zweiundvierzig pflegte Herr Webster, seitdem er verlobt war, allnächtlich einen feinen schwarzen Gehrock aufzuhängen, in der Hoffnung, daß ihn ein guter Ginni ausbürsten würde. Dort hing heute der vollständige Anzug eines Bajazzos, als ob Herr Webster denselben nun täglich zu tragen beabsichtige. Vor Nummer sechzig, dem Zimmer von Mayer & Cie., Papierhandlung en gros aus Berlin, stand nur ein einziger staubiger Stiefel, denn die Hausdiener kannten das etwas rasche nervöse Temperament von Herrn Mayer jr. und wagten nicht, den Einsamen zu berühren, aus Furcht, des Diebstahls ›seines Bruders‹ bezichtigt zu werden. Nur einmal, seitdem die heiße Morgensonne dies alles an den Tag gebracht, hatte sich eine Spur von Leben in dem hinteren Quergang gerührt. Mansur sah dort Herrn Ben vorsichtig an der Wand hinschleichen. Er hatte einen grauen Staubmantel über dem Arm, war in Frack und weißer Binde und trug einen Zylinder, der ihm viel zu klein war und tief im Nacken saß. Sein Gesicht hatte einen völlig ungewohnten Ausdruck. Müdigkeit und Entsetzen schienen sich in den sonst so harmonischen Zügen um die Herrschaft zu streiten. Auch kam er nicht, wie gewöhnlich um diese Stunde, aus seinem Schlafgemach, sondern suchte es mit eiligen scheuen Schritten auf und schloß leise die Türe hinter sich, wie wenn er fürchtete, als Hoteldieb ertappt zu werden. Ein Eselsjunge aus Bulok habe ihn gebracht, sagten sie unten. – Eine weitere Stunde verging. Manchmal hörte man jetzt, hinter andern Türen, das Röcheln eines unter schweren körperlichen Leiden Träumenden, das zornige Räuspern eines Erwachenden. Es war ein unbehaglicher, ein unheimlicher Morgen.

Am schlimmsten sah es in Joes Zimmer aus. Auch er hatte sich noch nicht entkleidet und saß schon seit Stunden fast regungslos auf dem Gesims des offenen Fensters – zum Glück war es die Schattenseite des Hauses – lehnte den Kopf an das Fensterkreuz und sah in den Garten hinab. In der Hand hielt er eine goldumränderte Karte, die er von Zeit zu Zeit mit starren Augen bald auf der einen, bald auf der andern Seite betrachtete und dann wieder, mit allen Zeichen der Hoffnungslosigkeit, sinken ließ.

Auf der einen Seite der Karte waren in einem Kranz lieblich flatternder Amoretten, die sich mit Rosen bewarfen, die sechzehn Tänze des gestrigen Balls ordnungsgemäß aufgeführt und hinter den acht ersten in, wie man vermuten mußte, kufischen oder demotischen Schriftzügen unentzifferbare Namen eingetragen, so daß wenigstens das Ganze dem Scharfsinn keine allzu schwere Aufgabe stellte. Es war die Tanzkarte einer Dame des neunzehnten Jahrhunderts. Anders auf der andern Seite. Dort waren die demotischen Zeichen leserlich, die Sprache aber nicht etwa altägyptisch, sondern deutsch.

War es ein Glück, war es ein Unglück für Thinker, daß er sechs Jahre lang in unserem Vaterland studiert hatte? Wer wagte diese Frage nach jenem verhängnisvollen Tag zu entscheiden? Er hatte Deutschland liebgewonnen und sogar – ein seltener Fall bei einem Sohn Albions – die deutsche Sprache mit Ausdauer und leidlichem Erfolg zu erlernen sich bemüht. Er glaubte in ihren Geist eingedrungen zu sein und erzeugte eigenhändig, allerdings nur auf dem Papier, Worte und Sätze von wunderbarer Länge, die er mit Stolz betrachtete. Jene feineren Eigentümlichkeiten, die das klassische Hochdeutsch der Zeit von Weimar von dem ebenso klassischen des gemütlichen Wiens unterscheiden, waren ihm trotzdem fremd geblieben. Er las deshalb ohne Anstoß, wenn auch mit einem Gemisch von Staunen und Schrecken, wie folgt:

Habns nix gmerkt? Muß mer Ene a Bußerl nochschmeissn? Mer san doch halbe Landsleut und Kollegn.

Machens keine Faxn und kummens morgen abend um neune, heißt das heint, ins Hotel di Nil. I hab nix ztanzn. Mer wolln en gmütlichn Tee mitsammn trinken.

Alles in Er, notabene; i hob die Franzosn satt.

Künstler simer jo alle zwei beide. I kann de halt leide und, wer waß, i kann der verleicht a amol ebes zlieb don in dem Sauland.

Waßt, i plausch halt gern, wie mer der Schnabel gwaxn is. Das Französch kommt mer scho de hals aufi.

I paß auf Die, Mutzi! Net vergessen, neune. Zimmernummer 47 im zweiten Stock links.

Mille baisers! Madame Géraldine.

Ob Brugsch, der große Demotiker, nach zwei Stunden soviel von der rätselhaften Inschrift entziffert hätte, mag dahingestellt bleiben. Auch Thinker war nicht alles klar, sooft er sich auch aufs neue an die Arbeit gemacht hatte. In der ersten Stunde war er mehrmals im Begriff gewesen, die Karte zu zerreißen und zum Fenster hinauszuwerfen. Doch es regten sich die früher unbeachteten Einflüsterungen O'Donalds unheimlich, sooft er sie zu diesem Zweck zwischen Daumen und Zeigefinger faßte. Diese Anwandlungen eines unverständigen Zorns waren jetzt vorüber. Er begriff, daß er von Geraldinen, die der weltkundige und im ganzen doch recht achtbare Prokurist der ägyptischen Handelsgesellschaft vielleicht nicht ganz mit Unrecht anders beurteilte als er selbst, eine Einladung zum Tee erhalten hatte. Ohne Zweifel, sagte er sich weiter, die Einladung war in der Form nicht ganz korrekt, ja nach englischen Begriffen sehr anfechtbar. Allein man konnte englische Begriffe nicht bei aller Welt voraussetzen. Einer seiner geschätztesten Jugendfreunde aus der Bonner Zeit, der beste Sanskritkenner der jüngsten Generation, aß noch heute mit dem Messer; ein anderer, ein vortrefflicher Charakter, war in bezug auf das Boxen in den lächerlichsten Vorurteilen befangen, während er sich nicht entblödete, die häßliche Unsitte des Paukens zu verteidigen. Wie oft hatte er sich all das in Deutschland sagen müssen. Solche Erfahrungen sollte ein Billigdenkender nicht so leicht vergessen.

Andererseits: was ging ihn eine Sängerin, und selbst die hervorragendsten eines Café chantant an? Oder vielmehr umgekehrt!? Der Gedanke grenzte ja an Wahnsinn!

Er warf die Karte zum drittenmal auf den Boden, zog jetzt erst Frack und Halsbinde aus und wusch sich den Kopf mit kaltem Wasser. Zum Unglück ist das Wasser in Ägypten nie kalt genug. Dann, vor dem Rasierspiegel stehend, prüfte er sich abermals, äußerlich und innerlich. Aber es wollte kein Lichtstrahl in das Dunkel seines Sinnes fallen.

»Es ist Wahnsinn«, wiederholte er, halblaut mit dem Spiegel sprechend. »Ich weiß allerdings – man findet Andeutungen ähnlicher Art bei den ältesten Autoren – die Kapricen dieser Frauenzimmer sind oft völlig unerklärlich. Schon in Griechenland gab es Beispiele. Und hier, auf ägyptischem Boden, wo die römische Überkultur in ihrem Zerfall die wunderlichsten Blüten getrieben hat –: wer weiß, ob das nicht heute noch im Boden liegt?«

Er hob die Karte wieder auf.

»Ehe ich die ganze vielleicht peinlich unwürdige Sache von mir abschüttle«, fuhr er fort, »sollte ich wenigstens wissen, was die Person sagt. Das bloße Problem des Entzifferns hat einen berechtigten Reiz, dem ich nicht zu widerstehen brauche. Daß sie mich auf neun Uhr zum Tee bittet, ist unzweifelhaft. Was aber heißt ›Mutzi‹? Das Wort scheint mir von Bedeutung zu sein.«

Thinker kam, ohne daß er es wußte, eine Erfahrung zustatten, die andere vor ihm gemacht haben. Der Dialekt und auch grobe Sprachfehler, denen ein der Sprache nur halb Kundiger begegnet, machen ihm weit geringere Schwierigkeiten, als einem anderen, der mit der Sprache völlig vertraut ist und den die Abweichungen deshalb mehr verwirren. So war er dem Sinn des Schreibens näher gekommen, als man erwarten sollte, fast ohne zu ahnen, welche sprachliche Bildungsstufe es verriet. Er packte jetzt sein Rasierzeug weg, kleidete sich um und sah wohl sorgenvoll, doch etwas frischer in den Tag hinein. Dann schloß er einen seiner großen Schiffskoffer auf und holte aus dessen tiefstem Grund mit sicherem Griff ein kleines deutsch-englisches Handlexikon hervor. Mutzi aber wollte sich nicht finden und all seine Konjekturen, so kühn sie zuletzt wurden, führten zu keinem besseren Ergebnis.

»Ich muß diesem interessanten Wort auf den Grund kommen«, sagte er eigensinnig. »Es enthält den Schlüssel zum Ganzen, davon bin ich fest überzeugt. Wenn ich Buchwald zu Rat zöge?«

Damit öffnete er die Türe des Schlafzimmers, blieb aber sinnend auf der Schwelle stehen.

»Buchwald kennt es ohne Zweifel. Allein die ganze Sache ist so eigentümlich! Er wird natürlich fragen, wie ich zu dem Wort komme. – Ich würde dem jungen Mann doch ungern in einem Licht erscheinen, das – das – mißverstanden werden könnte. – Der Wirt, Herr Zech, ist ja auch ein Deutscher. – Aber er ist zu wenig Philologe, das ist sicher. Freilich ist das der Maler ebensowenig. – Gibt es denn keinen einzigen brauchbaren Deutschen, der mir in dieser Verlegenheit helfen könnte, ohne daß ich mich möglicherweise kompromittiere?«

Plötzlich hellte sich sein schwermütiger Blick auf. »Schubra! Eyth! Das ist's! Jetzt nur rasch einen Esel!«

Er frühstückte in dem noch immer leeren Speisesaal fast ohne zu wissen, was er tat. Wenige Minuten später ritt er in munterem Trab auf seinem gewohnten Grauschimmel die Sykomorenallee entlang, die ihn aus dem schwülen Getümmel der Stadt in die Morgenstille des Landes hinausführte. Von Zeit zu Zeit griff er nach seiner Brust. Dort lag, sorgfältig in einem Briefumschlag geborgen, die wertvolle Tanzkarte. Die erquickende Ruhe ringsumher, der kühle Schatten der dichtbelaubten Bäume und selbst der kluge Esel, der jetzt mit der ganzen Behaglichkeit seiner Natur langsamer dahinschlenderte: all das gab ihm Muße, sich zu sammeln und den Stand der Dinge reiflicher zu überlegen.

»Was macht es eigentlich«, sagte er sich nach einiger Zeit, »wenn ich über dieses merkwürdige Wort erst später Aufklärung erhalte? Viel wichtiger scheint mir der Satz –: I kann der verleicht a amol ebes z'lieb don in dem Sauland, der völlig klar ist. ›Sauland‹ ist allerdings noch etwas zweideutig. Sollte es Seeland heißen? Meint die Künstlerin vielleicht – und mit vollem Recht: das der See entstiegene Land. Wahrhaftig, so nannten die alten Ägypter das Delta! Es würde dies einen Grad von klassischer und naturwissenschaftlicher Bildung andeuten, den ich offengestanden bei Madame Geraldine nicht gesucht hätte. – Ich habe ihr vielleicht in mehr als einer Beziehung Unrecht getan.«

Fünfzig Schritte der Allee schoben sich zwischen diesen und den nächsten Gedanken:

»Trotzdem wäre es vielleicht das Klügste, und in meiner Lage das Würdigste, dieses rätselhafte Schreiben unbeachtet zu lassen. – Habe ich doch bisher jede Berührung mit diesen Kreisen ängstlich, vielleicht zu ängstlich, vermieden. Ich kann mir nicht verhehlen, daß ich mir einer gewissen Unbeholfenheit bewußt bin, einer unpassenden Scheu, den Anforderungen des Lebens in dieser Richtung entgegenzutreten.«

Er hielt ganz unwillkürlich den Esel an. Das gehorsame Tierchen stand stockstill und schien ebenfalls nachzudenken. Dann fühlte es, daß sein Herr umzudrehen wünsche, und tat es.

»Auch dies ist meiner nicht würdig!« dachte Joe weiter, indem er sinnend seinen Weg in der Richtung gegen Kairo fortsetzte und weislich jedem seiner Gedanken drei Sykomorenbäume zumaß. »O'Donald steht ihr offenbar näher als ich bisher vermutete. Sollte er, im Interesse der guten Sache, an der er so lebhaften Anteil nimmt, ihr einen Wink gegeben haben? Mir gab der wackere junge Mann Winke genug. – I kann der verleicht a amol ebes z'lieb don ist, wenn ich die charakteristisch formulierte Periode nicht völlig mißverstehe, das edelmütige Anerbieten ihres Beistands. Der ganze übrige Brief zeigt die lebhafteste Teilnahme für meine Bestrebungen, und ihr Einfluß ist in den Kreisen, von denen – Gott sei's geklagt! – so viel abhängt, nicht – nicht bedeutungslos.«

»Nein, hier waltet kein Zufall! Die mehrfachen Begegnungen in der letzten Zeit, die Andeutungen O'Donalds, das förmliche Drängen dieses weltklugen Herrn – ich darf, ich muß all das als eine Weisung ansehen, die bestimmt ist, meinen Plan zu fördern, das große Rettungswerk einzuleiten. Darf ich dieser Weisung mein Ohr verschließen? Soll ich ein zweiter Jonas werden, der sich weigert, nach Ninive, in die Sündenstadt zu pilgern? Der Augenblick ist gekommen, in dem ich mich für die Sache, der ich diene, überwinden muß, will ich nicht zu leicht befunden werden. Mein Gott, würde ich zaudern, wenn mein Ninive männlichen Geschlechts wäre? Nicht einen Augenblick. Und da es dies nun einmal nicht ist: habe ich das Recht, der inneren Stimme den Gehorsam zu weigern, ich, ein Mann in meinen Jahren, ein Doktor der Philosophie, ein nicht unwürdiges Glied des geistlichen Standes?«

Sein Zorn erwachte. War dies alles nicht eine kindische Schwäche? »Vorwärts! Es muß sein!« rief er laut, stieß dem überraschten Esel die Fersen seiner kräftigen Stiefel in die Seite, und im Galopp gings nach Kairo zurück.

Und doch kamen, trotz dieses Aufschwungs, im Laufe des Tages noch Augenblicke, ja ganze Stunden großer Schwäche. Während des zweiten Frühstücks, zu dem er gerade rechtzeitig im Gasthof eintraf, sah er niemanden seiner näheren Bekannten bei Tisch. Die Gesellschaft seines Bruders ließ sich die Mahlzeit aufs Zimmer bringen. Die Damen waren von den Anstrengungen des gestrigen Tages vermutlich noch zu ermüdet, und Herr Ben war, wie Joe zufällig hörte, vor einer Stunde hastig ausgeritten. Der Zufall wollte es, daß er neben zwei Franzosen zu sitzen kam, die sich zuerst über des Vizekönigs Ball unterhielten und dann die Frage erörterten, wie man in erschöpftem Zustande den Abend möglichst schmerzlos zubringen könne. Dabei kamen sie, nach ihrer Art, auf Madame Geraldine zu sprechen, die heute unglücklicherweise nicht auftreten werde. Was sie des weiteren sagten, verstand der Doktor nur halb, aber, als er sich erhob, war sein neuester Entschluß gefaßt: er wollte der Einladung zum Tee nicht Folge leisten. Konnte ihm ein herbes Geschick zumuten, solch zweifelhafte Wege einzuschlagen, um einer großen und heiligen Sache zu dienen? Zwar durfte er sich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß sein Bruder durch kaum weniger verwerfliche Mittel eine Stellung gewonnen hatte, die seine eigenen Pläne aufs ernstlichste bedrohte. Gestern noch hatte sich der Gegner vielleicht Vorteile gesichert, welche die entsetzliche Entscheidung herbeiführen konnten, während er dem kindischen Feuerwerk untätig zusah. Aber durfte er nunmehr, in der Not, ähnliche Wege betreten? Nein! Dies konnte von ihm nicht verlangt werden.

Er begab sich auf sein Zimmer, um während der heute besonders notwendigen Mittagsruhe das innerliche Gleichgewicht wiederzufinden. Dort lag er auf seinem Sofa, mit offenen Augen an die Decke starrend, Geraldinens Tanzkarte in der Hand, alle zehn Minuten einen neuen Entschluß fassend. Zwei Moskitos leisteten ihm Gesellschaft. Das war kein Sofa; es war eine Folterbank.

Nach einer Stunde war er wieder unten. Sobald das Schlimmste der Mittagshitze vorüber war, ritt er aus, um O'Donald oder Buchwald aufzusuchen; nicht mit der Absicht, ihnen etwas von der Einladung und seinen inneren Kämpfen mitzuteilen. Alles aber war besser als dieses Hin-und-hergeworfen-werden zwischen Wollen und Nichtwollen. Er fand Buchwalds Wohnung leer. Haifa saß auf der Schwelle des Haustors und sah ihn mit großen Augen an, als ob sie erwartete, gefragt zu werden. Sie war neugierig zu wissen, was der Zauberer mit dem Amulett gemacht habe, das sie ihm ausgeliefert hatte. Aber selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, mit dem arabischen Mädchen zu sprechen, er hätte keine Silbe über die Lippen gebracht. Er schämte sich vor dem Kind, dem er die Hauptsache, um die es sich handelte, die Rettung der Pyramide, doch niemals hätte verständlich machen können. So begnügte er sich mit ihrer Andeutung, daß Buchwald nach einem kurzen Schlaf schon früh ausgegangen und seitdem nicht zurückgekehrt sei.

Auch O'Donald war nicht zu finden. In seinem Büro hieß es, Herr Ben Thinker sei hier gewesen und habe bei verschlossenen Türen ein längeres Gespräch mit dem Chef gehabt. Dann sei Osman Effendi gekommen und alle drei hätten das Haus verlassen, um, soviel man wisse, nach der Geschäftsstelle des Credit Lyonnais zu gehen. Dies gab Joe aufs neue zu denken. Osman Effendi und sein Bruder schienen unzertrennlich geworden zu sein und er, Joe Thinker, wußte noch immer nichts zu tun, um die hereinbrechende Katastrophe abzuwenden! Hatte ihn der wackere O'Donald nicht hundertmal gewarnt? Hatte er ihm nicht den Weg angedeutet, wie der Gefahr zu begegnen sei? Wies ihn nicht der heutige Tag auf diesen Weg, in einer Weise, daß man an das Eingreifen höherer Mächte hätte denken können? Und er fand nicht den Mut, den klugen Ratschlägen seines aufrichtigsten, wenn auch etwas leichtfertigen Freundes zu folgen! – Fast verzweifelnd deutete er dem Eselsjungen an, daß er auf die Zitadelle reiten wolle. Er mußte Luft schöpfen. Dort oben war es jetzt etwas kühler.

Es ist einer der schönsten Punkte der Erde, die Bastei vor der Marmormoschee Mohamed Alis; wie geschaffen, die Seele aus dem Lärm und den kleinen Nöten des Tags herauszuheben und in die große stille Welt der Vergangenheit, grenzenlos nach Raum und Zeit, hinüberzuführen. Wer sich hier nicht träumend im bildgewordenen Leben der Menschheit verliert, der hat nie geträumt.

Über die Zinnen mittelalterlicher Türme und Festungswerke hinweg sah Thinker zu seinen Füßen die größte Stadt des Orients mit ihren hundert Kuppeln und Minaretts, in der sich heute, wie schon öfter in früheren Jahrhunderten, Morgen- und Abendland berühren. In nächster Nähe, an dem gewaltigen Karamedan-Platz, auf dem sich zahlreiche kleine Gruppen von Kamelen, von Pferden und bunten Menschen bewegten, steigt die Moschee Sultan Hassans empor, der schönste Bau aus der Glanzzeit des arabischen Ägyptens, gewaltig in seiner Masse, wunderbar zierlich und doch von klassischer Schlichtheit in seinem baulichen Schmuck. Gegen Süden, hinweg über ein Häusermeer, das hundert Gärten und Höfe unterbrechen, erblickt man die älteste, die Moschee Ibn Tulun; gegen Norden die alte Stadtmauer mit den wuchtigen Türmen des Bab el Nasr und Bab el Futuh. Rings um die See vielfach zerfallener Häuser und Paläste liegen gegen Süd und Ost hin die Friedhöfe mit ihren weißen wimmelnden Grabsteinen von heute und den prächtigen Grabmoscheen und Minaretts aus der Zeit der Mamelukensultane und der ägyptischen Kalifen, die den Rand der Wüste und die einsamen Schutthügel um die Stadt her schmücken. Im Norden breitet sich bis zum Horizont das blaudämmernde Delta mit dem grünen Schimmer seiner unerschöpflichen Fruchtbarkeit, belebt von Gruppen dunkler Sykomoren und zierlicher Palmen, die die Fellahdörfchen beschatten. Im Westen an das Häusermeer sich anschließend erscheint Bulak, die Hafenstadt Kairos, mit den rauchenden Schloten seiner Flußdampfer, seines Arsenals und seiner Fabriken, ein Nebelfleck, den unsere Zeit in das sonnige Bild vergangener Jahrhunderte setzt; und im äußersten Süden, aus weiter Ferne hereindringend, blitzt der Spiegel des Stroms, der vor Urzeiten dieses Land geschaffen hat, der es noch heute erhält und ihm für alle Zukunft eine scheinbar unvergängliche Blüte sichert.

Thinker bewunderte dieses Bild nicht zum erstenmal. Es zog ihn heute mehr als sonst aus sich heraus. Er sah die Größe und Pracht dieser Welt, in ihrem Werden und Vergehen, sah Frühling und Herbst, Sommer und Winter auch im Leben der Menschheit, sah die ewige Wiederkehr der Kräfte, die längst erstorben und begraben scheinen. Was war das Sorgen, das Schaffen und Kämpfen des einzelnen gegenüber diesem großartigen Spiegel der Natur mit ihrem Menschengeschlecht! Lohnte es sich, sich aufzuregen? Lohnte es sich, einen Finger zu rühren? Nicht immer hat ein derartiges Bild des allumfassenden Lebens die Wirkung, das kleine Ich an die Pflichten des eigenen Daseins zu mahnen.

Doch jetzt sah er auch im Flimmern der Abendsonne, die alle Formen in flüssiges Gold aufzulösen drohte, am Horizont die Umrisse seiner Pyramide. Das war für ihn das Bleibende, das Ewige in dem Bilde. Dort am westlichen Horizont stand sie: ein Denkmal der Zeiten, die dem Menschengeschlecht beschieden sind, ein verschlossenes Buch, das sich heute zu öffnen begann und uns in großen Zügen sagen konnte, woher wir gekommen und wohin wir gehen. Und dieses Monument übermenschlichen Ursprungs sollte verschwinden, weil unsere kleine, dem Bauch dienende Zeit das Graben und Sprengen und Zerstören besser versteht als frühere Jahrhunderte? Nein, weil er Joe Thinker, nicht den Mut, nicht die moralische Kraft hatte, diesem Frevel entgegenzutreten mit den Waffen, die uns diese häßliche Welt des Kampfes aufdrängt. – Er war nicht hierhergekommen, um die Pyramide aus der Ferne zu betrachten, auch nicht, um hier die Frage des Augenblicks aufs neue zu erwägen. Im Gegenteil, er war auf die Zitadelle geritten, um sich selbst und all seinen Zweifeln zu entfliehen. Nun stand die Pyramide doch vor ihm, flammend wie in heiligem Zorn, und fragte ihn, ob ihm das kleinste Opfer – lächerlich in seiner Kleinheit – zu schwer sei, das sie von ihm fordere.

Zehn Minuten lang starrte er in die Glut, bis ihm die Augen übergingen. Dann wandte er sich langsam um. Sein Entschluß – der wirkliche Entschluß – war gefaßt.

 

In den oberen, etwas engen Gängen des Hotel du Nil überließ man die Beleuchtung gewöhnlich dem Mond. Dies war heute voll berechtigt, denn er schien mit seiner ganzen ägyptischen Pracht seit einer Stunde durch das große Fenster am Ende der langen Zimmerreihe. Das Gesims dieses Fensters war bei Tage die Wohnung des kleinen Chalil; bei Nacht schlief er am Fuß desselben auf dem Bretterboden, der mittels einer alten Binsenmatte in ein nach sudanesischen Begriffen üppiges Schlafgemach umzuwandeln war. Heute hatte sich der schwarze Schlingel noch nicht zur Ruhe begeben und machte die sinnreichsten Versuche, auf dem Wege der drahtlosen Telegraphie über den Garten hinweg mit seiner Freundin Haifa in Verbindung zu treten. Alles ohne Erfolg. Haifa war entweder nicht zu Hause oder verschmähte es, sich anschließen zu lassen. Die offenen Fenster von Buchwalds Atelier blieben ohne Leben.

Ärgerlich sah sich Chalil nach einer andern Unterhaltung um, denn er hatte Befehl erhalten, wach zu bleiben und sich als wohlerzogener Chadam zu benehmen. Dazu kam jetzt Gelegenheit. Die Tritte von zwei Männern ließen sich am andern Ende des Gangs hören. Auch eine Papierlaterne wurde sichtbar und hinter dem Hoteldiener, der sie trug, kam mit vorsichtigen, zögernden Schritten eine hohe schwarze Gestalt: Dr. Joe Thinker.

Chalil sah ihn erstaunt an. Das war nicht der Gast, den er erwartet hatte, so festlich, in Handschuhen und hohem Hut, er auch gekleidet war. Eine lebhafte Erörterung zwischen den beiden Dienern endete damit, daß Thinker dem kleinen, sichtlich widerspenstigen Neger, der sich wie der Boab eines Harems erster Klasse gebärdete, seine eigene sowie die verhängnisvolle Tanzkarte übergab, mit denen der Kleine in das Zimmer seiner Gebieterin schlüpfte. Wenige Augenblicke später streckte er den Kopf wieder aus der kaum sich öffnenden Türspalte, grinste wie ein Kobold, zeigte zwei Reihen glänzender Zähne und winkte Thinker, hereinzukommen. Mit einer entschlossenen Bewegung sich zusammenraffend, trat der Doktor ein. Der Kleine schlüpfte wie eine Eidechse an ihm vorüber, schloß die Türe und fragte den Hoteldiener zornig, was er hier mache.

Thinker stand allein in einem geschmackvoll ausgestatteten kleinen Salon, dessen Hauptfenster sich türenartig nach einem Balkon hin öffnete. Vor dem mit orientalischen Stickereien bedeckten Diwan stand ein runder Tisch, auf welchem eine schlanke Moderateurlampe brannte, die unter einem roten Lichtschirm aus Papierspitzen hervor durch das ganze Zimmer eine behagliche gedämpfte Helle verbreitete. Ein sichtlich wertvoller russischer Samowar stand auf dem Tisch, den ein schwarzer, ebenfalls buntgestickter Teppich bedeckte. Links und rechts von der Teemaschine befanden sich Platten mit kalten Fleischwaren. Drei Tassen, die Teller und alles Zubehör verrieten, daß hier nicht ein Hotelkellner, sondern eine weibliche Hand ordnend gewaltet hatte. Auf einem Seitentischchen prangte ein riesiger Blumenstrauß und in der entgegengesetzten Zimmerecke stand ein Pianino, eine damals seltene Erscheinung in Ägypten, auf dem etwas wirr Noten, ein Damenhut, eine Reitpeitsche und in nicht aufdringlicher Weise ein Strickstrumpf und ein Pomadetöpfchen zu sehen waren. Man mußte zugeben, daß das Ganze den Eindruck einer gemütlichen, nicht allzu pedantischen Häuslichkeit machte, die man in einem ägyptischen Gasthof kaum gesucht hätte.

Der Doktor hatte Zeit, diese Beobachtungen zu machen, denn er blieb volle fünf Minuten allein. Die Türe nach dem Nebenzimmer war halb geöffnet. Hinter derselben hörte er von Zeit zu Zeit Bewegungen, leises Flüstern, das Rauschen eines Kleides. Er war im Begriff, einen Farbendruck näher zu betrachten, welcher rahmenlos, von einem großen welken Kranz umgeben, an der Wand befestigt war und Romeo vorstellte, wie er sich, an einer Strickleiter hängend, mit qualvoller Gebärde von Julie losreißt, als sich die Seitentüre geräuschlos öffnete. In einem einfachen hellen Kleide, ohne jeden Schmuck, ihr gewinnendstes Lächeln auf den Lippen, stand Madame Geraldine vor ihm.

Aber es dauerte nur einen Augenblick. Wie ein Blitz flog es über ihr etwas allzu rundes Gesicht, das aus einem Wald von hundert blonden Löckchen hervorsah: Erstaunen, starre Verwunderung, Entsetzen. Die weitaufgerissenen braunen Augen funkelten, die allzu roten Lippen öffneten sich, als ob sie nach Luft schnappte. Dann plötzlich erfaßte sie eine unbändige Heiterkeit, die sich in ein schallendes Gelächter auflöste. Joe Thinkers englischer Gleichmut hatte zwei Minuten lang eine schwere Probe zu bestehen. Aber er bestand sie.

»I bitt Ihnen«, schluchzte Geraldine endlich, »wo kommen denn Sie her?«

»Madame«, sagte Thinker mit Fassung, all sein Deutsch zusammennehmend, »ich habe mir erlaubt, Ihrer Einladung Folge zu leisten, denn –«

»Ja, du heiliger Wenzel«, unterbrach ihn die Künstlerin, »wie kommen's denn zu meiner Kart'n?«

Jetzt ahnte Joe, daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein könnte. War er das Opfer eines unglücklichen Zufalls? Hatte ihm ein gewissenloser Bösewicht einen Streich gespielt? Solche Vermutungen lagen weitab von seinem gewöhnlichen Denken, allein in dieser Welt verstand er sich selbst nicht mehr. Jetzt galt es, seine Selbstachtung, die Würde seines hohen Berufs zu wahren. Er richtete sich auf und sah die noch immer ausgelassen lachende Dame vorwurfsvoll an.

»Die Karte wurde mir von einem weiblichen Wesen zugestellt«, sagte er leise, aber fest, »an dessen gutem Glauben zu zweifeln ich keine Ursache hatte.«

»A schwarzer Bua is g'wes'n«, lachte Geraldine. »Wissen's nit, was a Bua is?«

Sie ging rasch auf die Türe zu, öffnete sie und rief hinaus:

»Du verflixter Kerl! Willst hergeh'n! Was hast mit der Kart'n g'macht?«

Aber Chalil, der die Sprache seiner Herrin kannte, auch wenn er nur wenige Worte deutsch verstand, hatte sich bereits am andern Ende des Gangs in Sicherheit gebracht und verriet dies nicht mit einem Laut.

»Wissen's«, sagte die Sängerin, die Türe wieder schließend, etwas ruhiger, »die Karte war nit für Sie. Den Maler, den Buchwalderl, hätt' i gern hier g'habt. Wir sind all' zwei beide Künstler und Landsleut'. Und da hab' i halt dacht, mer kännt' wohl amol z'sam'n sitze' und a bisserl plausch'n. Die Franzosen und Türken und all das Gesind'l is mer schon z' fad. Und jetzt müß'n Sie derher komm'n! Der Onkel statt'm Neff'n. Des is ja die reinste Komödi'! Aber's soll gut sein, wann i nit verstick.«

»Es lohnt sich wohl kaum, das Mißverständnis völlig aufzuklären«, sagte Joe steif. »Wenn die Karte nicht mir galt, so gestatten Sie, Madame, daß ich mich empfehle.«

»Na, warum nit gar! Des wär' no schöner!« rief Geraldine in jenem Ton gewinnender Herzlichkeit, mit dem das Beste ihrer österreichischen Heimat siegreich durchbrach. »Sie verstehn a bissl deutsch und der Tee is fertig. Me speak english. Nehmen's Platz! Wenn Sie auch kein Künstler sein sollt'n, was i schon glaub': A guter Kerl sein's doch, des gsi i glei. Nacher bleiben's halt a bissl do. I kenn' Sie ja schon, Sie sind der Spezel vom Buchwalderl, den i gar z'gern hab. Nacher kennen Sie mir'n verleicht amol zuschick'n. Pepi! – Pepi!!«

Dies galt dem Nebenzimmer, dessen Türe sich jetzt völlig öffnete, um eine kleine runde Frau eintreten zu lassen, die trotz des Strickstrumpfs in der Linken, in tadelloser Form vor Thinker knixte. Er erkannte sofort die ›Theatermutter‹, wie sie O'Donald nannte, die er vor dem Café français flüchtig gesehen hatte. Entweder war die Dame eine vortreffliche Schauspielerin, oder er und sein weltkluger Freund hatten sich damals gründlich getäuscht. Sie sah so häuslich, so mütterlich gutmütig aus den klugen braunen Äuglein, daß es Joe ordentlich wohl wurde.

»Pepi ist eigentlich meine Tante«, sagte Geraldine, die Dame vorstellend. »Sie versteht das Teemachen besser als ich. Sie hat's in Moskau und Petersburg g'lernt, wie sie noch erste Tragödin am deutschen Theater g'wes'n is. Haben's von der berühmten Ganganelli nie g'hört? Aber setzen wir uns, Mister Inglischmen!«

Sie brach aufs neue in helles Lachen aus; es war aber so echt und gutartig, daß Joe nicht weit davon war, einzustimmen. War das dieselbe Madame Geraldine, die er in dem elenden Café chantant gesehen hatte und die später wie ein Pfau durch den Saal in Shepheards Hotel stolziert war?

»I hätt' auch Tragödin wird'n soll'n, aber's is nix g'wes'n; i' tanz besser«, erzählte sie, indem sie sich neben Joe setzte, den Brotlaib ergriff und Butterbrot schnitt. Die Tragödin machte sich über den Samowar her, der offenbar ihr Stolz war.

Thinker saß zwischen den zwei Damen, ehe er wußte, was mit ihm geschah. Er war noch zu verwirrt, um auf ihre Fragen antworten zu können. Manchmal hatte er das Gefühl, daß alles ein Traum sei: die Ballnacht auf der Gesira, der heiße fiebrige Tag und jetzt der singende Teekessel und die fremden Damen in ihrer einfachen, zierlichen Häuslichkeit. Alles wogte in seinem Innern wirr durcheinander.

»Aber wissen's«, fuhr Geraldine fort, ohne das verlegene Schweigen ihres Gastes zu beachten, »die Bud' auf der Esbekiye hab i jetzt bald satt. Der Direktor hat mi ang'schmiert in Paris. Da hat's g'heiß'n: grandiose Bühne, erste Kräfte, alles tiptop. Na, Sie wissen's, wie's is. Aber was kann mer mach'n. I muß halt tanz'n.

Sie zersäbelte den Brotlaib mit unverkennbarer Entrüstung.

»Na, ewig wird's auch nit dauern«, tröstete sie sich selbst. »Wissen's schon? Der Vize will ein Theater bau'n – Oper – alles – großartig! Da muß ich Primadonna wird'n. Gucken's mich nur an! – 's wird schon geh'n. Und mein Tanterl wird Heldenmutter; anders tu i 's nit. I hab'n Freund, der macht hier alles.«

Daran hatte Thinker trotz aller Verwirrung schon seit einigen Minuten gedacht. Wäre es möglich, daß diese über alle maßen wunderliche Wendung der Dinge ihn doch dem ersehnten Ziele näher bringen sollte? Es war ein ernster Augenblick. Mit erzwungenem Lächeln nahm er die Teetasse aus der Hand der Tante und begann gleichzeitig mit fast bebender Stimme:

»Wenn Sie mir erlaubten, Madame Geraldine –«

»I heiß Gertrud; Trudel wenn's Ihnen besser g'fällt; so hat mi mein Onkel selig in Steinbruck g'heißen,« unterbrach ihn die Tänzerin. »Herr Gott, is das lang her! Und Madame? – Is nit! Des is für die Franzosen. I bin a steirisch Madel, daß nur wiß'n!«

»Schön, Fräulein Gertrud«, begann Thinker aufs neue. »Darf ich ihnen gestehen, daß ich Ihre Einladung mit Freuden angenommen habe. Ich weiß jetzt, daß sie nicht mir galt. Trotzdem knüpfe ich eine Hoffnung an dieselbe –«

»Na, ich bitt ihnen! Sie werden doch nit!« lachte Gertrud Geraldine, etwas abrückend.

»Nein, nein! Sie mißverstehen mich!« rief Thinker selbst lächelnd. »Aber Sie sind in der Lage, mir einen großen, einen sehr großen Dienst zu erweisen, für den ich Ihnen ich weiß nicht wie dankbar sein würde, und ich hoffe, Sie überreden zu können –«

Er stockte. Die Einleitung war nicht leicht.

»Na, da bin i doch begierig. Geh'n Sie's an!« sagte Fräulein Gertrud, indem sie kräftig in ihr Butterbrot biß.

»Wollen Sie mich aufmerksam, geduldig anhören?« fragte Joe, fast schmeichelnd, aber noch immer zweifelhaft, wie er weiter kommen sollte.

»Wir hab'n sonst nix z'tun; machen's keine Umständ!« versetzte die Künstlerin. »I hab schon mehr dummes Zeugs anhören müss'n, als mir lieb is.«

»Gut; also hören Sie, mein liebes Fräulein«, bat Thinker mit steigender Zuversicht. »Sie sehen in mir einen Mann, dessen Lebensaufgabe mit der großen Pyramide steht und fällt.«

»Na, i bitt schön, des is nit möglich!« rief Geraldine, ihn starr ansehend.

»Aber wenn ich Ihnen versichere –«

»I sag, es ist nit möglich! Sie guter alter Onkel und die groß' Pyramid'. Wissen's, i weiß was i sag'. I hab ein' Bruder, der hat in London und Paris und Petersburg g'arbeitet, von Berlin und Wien will i gar nix sag'n. Akrobat is er. Wissen's was des is? Na, der hat die groß' Pyramid' mit sechs Damen und drei Herrn g'stellt; und i hab d' Spitz g'macht dazumal. I bin halt noch a kleins Dirndel g'wes'n. Und mer hab'n allemal a Not g'habt, daß wir a Musikholl oder a Café chantant g'fund'n hab'n, hoch g'nug, daß i mir den Kopf nit ang'stoß'n hab. Großartig! – Aber Sie!«

Thinker begann das Mißverständnis zu verstehen.

»Ich meine nicht diese Art von Pyramiden«, erklärte er etwas kleinlaut. »Sie haben doch die Pyramiden hier in der Nähe von Kairo, bei Gise, schon gesehen, die steinernen viertausendjährigen Pyramiden –«

»Ach, die?« rief Geraldine wegwerfend. »Weiß schon! Wir waren letzte Weihnachten mit der ganzen Bande dort. Fein! Ich hab den schönsten weißen Esel der ganzen Kavallerie g'habt. Das war das erste Präsent, das mir der Sadyk schickte.«

Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund, sah Thinker fragend an und fuhr dann beruhigt fort, ihrem Schinken zuzusprechen.

»Ja, die!« sagte der Doktor entmutigt, raffte sich dann aber gewaltsam auf und suchte seiner neuen Freundin zu erklären, welche Bedeutung die große Pyramide für ihn habe, und für Ägypten und für die ganze Menschheit. Sie hörte ihn ruhig und aufmerksam an, während sie mit gesundem Appetit ihren Tee beendete. Die Tante strickte eifrig und wandte kein Auge von den sich mehr und mehr belebenden Zügen des Gelehrten. Ob sie an die alte Zeiten dachte, da sie noch ›Tragödin‹ war, und derartige Studien gemacht haben mochte, wenn ihr ein interessanter Kopf, eine leidenschaftliche Gebärde begegnete? Thinker hatte jetzt sein Gleichgewicht wiedergewonnen. Er ließ sich gehen, wie immer, wenn er seine Lieblingsgedanken verfolgen durfte. Sie lauschten auf seine Worte, diese Frauen. Er glaubte zu fühlen, daß selbst auf diesem Boden die Kraft der Wahrheit nicht versagte.

»Und sollten Sie es für möglich halten«, schloß er, »daß es Menschen gibt, die den teuflischen Plan hegen, dieses rätselhafte Bauwerk umzustürzen?«

»Rätselhaft scheint es mir auch zu sein«, sagte Geraldine, »aber was können wir machen?«

»Menschen«, fuhr Joe heftig fort, »die sich in den höchsten Kreisen Einfluß zu verschaffen wissen und mit deren Hilfe die verwerfliche Absicht möglicherweise ins Werk setzen werden.«

»Sie sollten sie halt bei der Polizei anzeigen«, riet die praktische Geraldine. »Die wird sie schon abschieb'n.«

»Die Polizei ist nicht klug genug für solche Dinge«, klagte Thinker, mit einem Lächeln auf dem ernsten Gesicht.

»Oder beim Vize«, fuhr sie eifrig fort. »Das wollt' ich schon fertigkriegen.«

»Nur an dieser Stelle können wir auf Erfolg rechnen«, entgegnete der Doktor rasch und fast freudig. »Und dabei können Sie mir behilflich sein.«

»Ich?« rief die Künstlerin, aufrichtig erstaunt.

»Ja, Sie!« sagte Thinker nachdrücklich, alle Bedenken abwerfend. »Sie kennen Sadyk Pascha –«

»Na, und ob!« lachte Geraldine unschuldig. »Wissen Sie's auch schon? Aber Sie müssen nicht glauben –«

»Ich glaube nichts –« versicherte der Doktor mit ungewöhnlicher Wärme.

»Nämlich – er will mi heirat'n«, unterbrach ihn die Tänzerin. »Aber i mag nit. Er hat schon zwei Frau'n. I weiß wohl, er ist ein Türk. Aber des san mir halt nit g'wohnt, bei uns z'Haus.«

»Ich glaube nichts«, wiederholte Joe ernstlich. »Ich habe Sie heute als ein wackeres Mädchen kennengelernt, das sein hartes Brot –«

»Na, ich bitt' Ihnen –«

»Das seinen Beruf erfüllt, ehrlich und tapfer, wie irgendein Mann es kann. Aber Sie kennen Sadyk Pascha. Sie haben Einfluß auf den Herrn. Erzählen Sie ihm von der Pyramide. Interessieren Sie ihn. Sprechen Sie von mir. Sagen Sie ihm, was er für uns tun muß.«

»Na, was muß er denn tun?«

»Er muß mit dem Vizekönig sprechen. Er muß mir Gelegenheit verschaffen, daß ich mit Seiner Hoheit sprechen kann.«

»Sie woll'n eine Audienz hab'n?« rief Geraldine erleichtert. »Wenn's weiter nix is. Das hab i schon mehr als einmal g'macht.«

»Sie sind der Rettungsengel der Pyramide, Geraldine«, rief Joe, der nach all den Qualen der letzten Wochen sein Ziel plötzlich vor Augen sah.

»Wollen Sie mir dann den Buchwaldl schicken?« fragte sie mit ihrem verführerischsten Lächeln.

»Was Sie wollen – wen Sie wollen!« erklärte der Doktor. »Sie wissen nicht, was Sie für mich, was Sie für die ganze Menschheit zu tun im Begriff stehen. Ich danke Ihnen, Geraldine!«

»Aber den Buchwaldl! – nicht vergessen!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Zimmertüre gerade weit genug um Tarbusch und Kopf Chalils durchzulassen. Der Kleine sah aus, wie ein echter Kobold aus dem Innersten des schwarzen Erdteils. Seine weißen Augäpfel schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen. Die roten aufgeworfenen Lippen bildeten ein rundes Loch, das Entsetzen und zugleich eine teuflische Lust an dem Schrecken ausdrückte, den er zu verbreiten hoffte. Und wie das Zischen einer Schlange klang es leise, zweimal hintereinander:

»Sadyk Pascha! Sadyk Pascha!«

Die Tragödin sprang auf, ließ den Strickstumpf fallen, schlug, nicht ohne theatralische Wirkung, die Hände über dem Kopf zusammen und lief nach der Türe des Nebenzimmers. »Es ist nicht möglich«, flüsterte Geraldine. »Ich weiß, er ist heute früh nach Alexandrien.«

Aber schon hörte man ein langsames Schlurfen im Gang.

»Er ist's!« keuchte die Tante, die wieder zurückgekehrt war, und sichtlich nach Fassung rang.

»Dann tun Sie mir den einzigen Gefallen, bester Pyramidenonkel und machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte Geraldine, mit erstaunlicher Ruhe und plötzlich hochdeutsch sprechend. »Aber schnell – schnell, s'il vous plaît! – Machen Sie uns nicht unglücklich. Ich will Primadonna werden, und ohne Sadyk werde ich es nie.«

»Nicht da hinaus!« flüsterte die Tante, als sie Thinker den Weg nach der Zimmertür einschlagen sah. »Sie laufen ihm in die Arme.«

»Gut, so begegne ich ihm hier!« sagte Thinker entschlossen. Seine Mannheit regte sich; er war kein Feigling.

»Sie sollen Ihre Audienz haben; Sie sollen alles haben, was Sie verlangen!« sagte Geraldine drängend. »Wollen Sie unser Unglück werden? Wissen Sie, er kann uns nichts anhaben; er hat kein Recht dazu. Aber es ist ein Türk – er sieht's nicht gern, wenn er andere hier findet, der dumme Kerl. Und ich will Primadonna werden!«

Es klopfte.

»Hier hinaus!« rief die Tante, mit der Entschlossenheit der Verzweiflung. Thinker wußte kaum, wie ihm geschah. Er konnte eine Frau die rohe Gewalt des Mannes doch nicht fühlen lassen und sie schob ihn mit einer Kraft, die er dem kleinen Wesen niemals zugetraut hätte, indem sie ihn zugleich fortwährend mit den zärtlichsten Worten überschüttete. In weniger als einer halben Minute, aber nicht zehn Sekunden zu früh stand er auf dem Balkon. Die Tragödin hatte ihren Atem und ihre Geistesgegenwart wieder gefunden und schloß die Balkontüre hinter sich.

»Sie können nicht hierbleiben«, sagte sie hastig, aber bestimmt. »Man sieht Sie durch das Fenster, und man sieht Sie vom Garten herauf.«

»Aber«, entgegnete Thinker, verwirrt durch das Gefühl, das ihn heute schon einmal beschlichen hatte, daß das alles ein häßlicher Traum sein müsse, »ich sehe keine Möglichkeit, weiterzukommen.«

»Was? Es sind keine fünf Fuß bis zu dem flachen Dach hier unten«, sagte die Tante, verächtlich hinabsehend, »das ist das Dach des Speisesaals. Es führt Sie um die Ecke des Hauses herum. Dort hinten kommen Sie auf das neue Hotelwaschhäuschen. Dann haben Sie nicht mehr weit: einen Katzensprung in den Garten!«

Die alte Dame bewies eine erstaunliche Ortskenntnis und Thinker war noch immer ein gewandter Herr für sein Alter. Er hatte auf der Cheopspyramide ganz andere Turnkunststückchen mit Erfolg ausgeführt, aber er zauderte dennoch. Das Abenteuer war so ganz unpassend, so ganz gegen sein Empfinden! – Ohne sich umzusehen, fühlte er jetzt, daß sich die Türe im Salon öffnete und daß Madame Geraldine den neuen Gast empfing. Es war keine Zeit zum Überlegen übrig.

»Soll ich es Ihnen vormachen?« fragte die Tragödin, mit dem Ausdruck der Verzweiflung in den sonst so ruhigen behaglichen Zügen. Sie hatte in jüngeren Jahren sicherlich nicht bloß in Tragödien geglänzt und machte alles Ernstes Anstalt, das Geländer zu übersteigen. Diese Form der Aufforderung war zu viel für Thinkers Zartgefühl. Mit einem Schwung, der seiner eigenen Jugend in den schottischen Bergen Ehre gemacht hätte, flog er über die Brüstung und im nächsten Augenblick stand er auf der Plattform, welche, terrassenartig vorspringend, das hohe Erdgeschoß des Hauses umgab.

»Gute Nacht, mein Ritter ohne Furcht und Tadel!« flüsterte Madame Ganganelli gerührt. Die dreißigjährige Erinnerung an einen längst verwelkten Romeo ergriff sie mächtig. Mit einem tiefen Seufzer der Erlösung öffnete sie die Balkontüre wieder und verschwand.

Thinker sah sich um. Es war klar, daß auf dem kaum zwei Schritte breiten Vordach seines Bleibens nicht sein konnte. Nicht bloß aus Nummer 47 – eine unheilige Zahl, die er in seinem Leben nie mehr vergaß – fielen rötliche Lichtstreifen über den weißen Zementboden, auf dem er stand. Acht, neun weitere Zimmer beleuchteten entlang der Seite des Hauses den bedenklichen Weg, den ihm die besorgte Tante angedeutet hatte. In diesen Lichtstreifen war er keinen Augenblick sicher, von den Gasthofzimmern aus gesehen zu werden und auch die dunkeln Stellen zwischen den Fenstern boten in der mondhellen Nacht keine Sicherheit, wenn jemand zufällig vom Garten herauf sehen sollte. Ein Glück war es wenigstens, daß diese Seite des Hauses im Schatten des Mondlichts lag. Aber auch so –: welche Lage für einen Gelehrten, für einen Doktor, für einen Reverend!

Glücklicherweise gehörte Joe trotz all seiner Versenkung in die Welt des Geistes nicht zu jenen verknöcherten Seelen, welche in jeder Lage des Lebens gleich hilflos sind. Dies verdankte er seiner Knabenzeit, die er in Wald und Feld, wenn auch mit Büchern in der Hand, zugebracht hatte. Dutzende von vergessenen Jugenderinnerungen stiegen in ihm auf, und wie einen heiteren Anachronismus empfand er die mißliche Lage und die rührende Unschuld, die ihn in diese Lage gebracht hatte. Er war am Verzweifeln, aber er mußte lachen. Dann brummte er sich selbst ärgerlich zu: »Beim Zeus, die Geschichte ist nicht zum Lachen!«

Er bückte sich und schlich wie eine Katze an der Wand des Hauses entlang. Wer ihn so gesehen hätte, würde von Stund an das gelegentliche Erscheinen eines Afrits nicht mehr bezweifelt haben. Glücklich kam er an das hintere Ende und um die Ecke des Hauses. Der Dachvorsprung setzte sich auch hier noch fort, und nicht ein Fenster des Gasthofs auf dieser Seite war beleuchtet. Der Garten unter seinen Füßen lag im schwarzen Schlagschatten des großen Gebäudes. An dasselbe schloß sich der erwartete kleine Nebenbau, dessen Giebel ungefähr einen Meter unter der Plattform lag, auf der er stand. Von dem Dach des Nebenhauses war es in der Tat nicht mehr weit in den Garten, wie Madame Ganganelli vorhergesagt hatte. Aber eine unerwartete Schwierigkeit bot sich dennoch. Der Schuppen war vielleicht das einzige Gebäude in Kairo, das ein regelrechtes geneigtes europäisches Dach hatte. Von der Dachkante bis zum Boden mochte es kaum zweieinhalb Meter sein. Dies ließ sich machen. Allein vom Dachfirst, der ohne Mühe zu erreichen war, nach der Dachkante, führte eine ziemlich steile schiefe Ebene aus Asphaltplatten, über die hinabzugleiten höchst gefährlich schien. Rittlings und sehr nachdenklich saß Thinker eine halbe Minute später auf dem First und überlegte dies alles mit sorgenvollen Blicken.

Es schien unbedenklich, hier eine Zeitlang zu verweilen. Der tiefe Schatten des Hauses machte eine sofortige Entdeckung nicht wahrscheinlich. Nur das entfernte Ende des Schuppendachs wurde vom Mond noch erreicht. Dort saß auf dem First, ihm unmittelbar gegenüber, eine fratzenhaft ausgeschnittene Wetterfahne, die ihm von Zeit zu Zeit zutraulich zuwinkte, als ob sie beide in ungefähr derselben fatalen Lage wären. Und während er sie ingrimmig beobachtete, glaubte er nicht ohne Besorgnis zu bemerken, daß ihm das Mondlicht näher rückte. Das war wohl Täuschung; so schnell konnte es nicht gehen. Oder saß er schon eine Viertelstunde lang hier? Er war erstaunt, keine Langeweile zu empfinden.

Es war eine wundervolle Nacht; wenn nur die Umstände etwas günstiger gewesen wären, sie zu genießen. Auf der entgegengesetzten Seite des Gartens standen Busch und Strauch fast taghell in vollem Mondlicht. Aus der Tiefe, in dem schwarzgrünen Schatten der Bäume, hörte er das Plätschern eines Springbrunnens. Dort drüben ragte weiß und gespenstisch die kleine Moschee mit ihrem zerfallenen Minarett in den dunkelblauen Nachthimmel hinein. Links davon bedeckte das düstere, palastartige Gebäude, in dem sich Buchwalds Atelier befand, einen Teil des Firmaments. Seine Fenster standen weit offen und erschienen in der mondbestrahlten Wandfläche schwarz und tot wie die Augenhöhlen eines Schädels. Doch der Sternenhimmel, mit seiner zauberhaften Klarheit, mit der Ruhe seiner Unendlichkeit, wölbte sich über all die Erbärmlichkeiten des Menschenlebens heute wie vor Jahrtausenden. Gerade über dem Minarett standen die Plejaden, und dort das kleine, aber fast stechend blitzende Sternchen war die Alcyone. Die Alcyone, der Pyramidenstern von 2160 vor Christus! –

Schritte – Stimmen unten im Garten riefen den unverbesserlichen Träumer auf die Erde zurück. Es kamen, langsam daherschlendernd, Leute, die in lebhaftem Gespräch waren. Thinker drückte sich an die Wand des Gasthofs und lauschte gespannt. Sie kamen näher. Jetzt konnte er zwei Gestalten unten sehen. Und jetzt unterschied er auch die wohlbekannten Stimmen. Es war Buchwald, der sich ohne Zweifel auf dem Weg nach Hause befand und den O'Donald, wie es schien, begleitete.

Sie blieben im vollen Mondlicht zehn Schritte vor dem Schuppen stehen. Thinker nahm seinen Hut ab, bückte sich nach der andern Seite des Schuppens und machte gleichzeitig einen Versuch, seinen Rockkragen aufzustülpen.

»Unbegreiflich!« rief Buchwald lebhaft, sich plötzlich gegen O'Donald und den Schuppen wendend. »Ein Mann in seinem Alter!«

»Alter schützt vor Torheit nicht!« versetzte O'Donald halb lachend, halb ärgerlich.

Thinker legte sich jetzt mit dem Oberkörper flach auf den Dachfirst.

»Ein Mann, der das Leben von allen Seiten gesehen haben muß und wissen sollte, wie solche Geschichten fast immer enden«, fuhr Buchwald fort.

»Sie vergessen, daß er einen Zweck hatte.«

»Darüber brauchte er nicht den Kopf völlig zu verlieren.«

»Ich bin keineswegs sicher, daß er ihn verloren hat«, versetzte der Prokurist nachdenklich. »Der Mann hat einen großen Gedanken. Sein Plan ist nicht so verrückt, wie manche andere. Nehmen Sie seinen Bruder!«

»Es scheint in der Familie zu liegen«, sagte Buchwald.

»Genie und Narrheit«, bestätigte der Prokurist. »Aber beide behalten ihr Ziel scharf im Auge, das muß ihnen ihr schlimmster Feind lassen. Und beide haben je einen Gedanken. Solche Leute erreichen etwas, Herr Buchwald.«

»Man sieht's. Zehntausend Pfund!« rief Buchwald mit neuerwachtem Entsetzen. »Eine fürchterliche Summe für unsere deutschen Begriffe.«

»Auch für uns Engländer rund genug«, entgegnete O'Donald. »Aber möglicherweise lohnt es sich, sie den hungrigen Effendis und kleinen Paschas in den Rachen zu werfen. Das Projekt würde es tragen. Und wenn er sich nicht täuscht, so hat er damit einen Stein aufs Brett gesetzt, mit dem er das Spiel zu Ende führen könnte. Sadyk ist der Mann, der heute alles macht, wenn er will; verschmitzt wie ein Affe, gewalttätig wie eine Bulle, wo er es sein kann. Und der Vizekönig ist für alles zu haben, was groß klingt.«

»Zehntausend Pfund!« wiederholte Buchwald. »Und in einer einzigen Nacht! Ob alles mit rechten Dingen zuging?«

»Was heißen Sie rechte Dinge in diesem Land?« fragte der Prokurist. »Wenn Osman Effendi mit seinem Vizepapa und dieser mit der Bank unter einer Decke steckte, dürften Sie sich nicht wundern. Es gibt alle möglichen Formen, dem richtigen Mann das richtige Bakschisch abzulocken. Wenn unser Freund Ben dafür den Vizekönig überzeugt, daß sein Stauwerk gebaut werden muß, so ist das volle zehntausend Pfund wert, für mehr als eine Person, das dürfen Sie mir glauben. Und ich verstehe nichts davon!«

»Nehmen Sie irgend etwas ernst im Leben?« fragte der Maler.

»Donnerwetter, ja! Zum Beispiel zehntausend Pfund, die wir ohne genügende Sicherheit bis morgen abend irgendwoher beschaffen sollen. Vom blauen Himmel können wir sie nicht herunterkratzen, wie der gute Ben denkt.«

»Und daß so große Dinge auf so gemeine Weise verfolgt werden müssen?« fuhr Buchwald fort. »Muß das sein?«

»Ja, lieber Freund, auf Ihrer Leinwand können Sie sich das alles freilich anders malen«, lachte der Prokurist mit einem kleinen Seufzer. »Natürlich, es ist nicht überall ganz so schlimm. In Ägypten aber dürfen Sie sich buchstäblich über nichts wundern – das heißt – der Kuckuck hol's – das heißt – weiß der Teufel, es regt sich!« –

O'Donald flüsterte plötzlich in abgebrochenen Sätzchen und wies halberschreckt nach dem Dachfirst.

Beide blickten jetzt mit aller Anstrengung in der Richtung empor, welche der Prokurist mit ausgestrecktem Arm bezeichnete.

»Ich glaube, wir sind zu einem Spitzbubenstreich gerade recht gekommen«, sagte er, fast atemlos. »Wahrhaftig, es regt sich!«

Thinker hatte jedes Wort gehört. Selbst das Flüstern verstand er. Nun war das Unvermeidliche da. Er mußte handeln. Ohne weiter zu überlegen, begann er auf der entgegengesetzten Seite des Dachs hinabzugleiten. Nach fünf Sekunden hatte er allen Halt verloren und schoß über die glatte Asphaltpappe weg und über die Dachkante hinaus.

Die beiden nächtlichen Spaziergänger hörten das gleitende Rascheln und gleich darauf einen dumpfen Schlag. Buchwald umkreiste in ein paar Sätzen den Schuppen. Ehe ihn O'Donald wieder erreichen konnte, hatte er Thinker aufgerichtet.

Der Maler wußte in der Erregung noch nicht, wen er in den Armen hielt, als O'Donald noch sechs Schritte entfernt, aufschrie:

»Herr Joe! Guter Gott, wo kommen Sie her?«

Thinker, von dem entsetzten Buchwald gehalten, raffte sich auf, sank aber wieder zusammen.

»Fragen Sie mich nicht! – Sagen Sie ihm, er soll mich nicht fragen!« stöhnte er, fast tonlos.

»Wollen Sie sitzen?« sagte der Maler sanft. »Haben Sie sich verletzt?«

»Nein, nicht sehr – ich denke nicht sehr«, antwortete der Gestürzte, indem er sich niedersetzte.

»Holen Sie einen Esel, O'Donald, aber schnell!« sagte Buchwald dringend. »Wir bringen ihn so rasch als möglich zu Shepheards.«

O'Donald, seit vielen Jahren zum erstenmal aus dem Gleichgewicht gebracht, lief bereitwillig und so rasch er konnte, den Gartenweg entlang.

»Wo haben Sie Schmerzen?« fragte Buchwald, Thinker vorsichtig gegen die Wand des Schuppens drückend.

»Im Fuß; im Knöchel«, sagte Joe.

»Doch nichts gebrochen?«

»Nein; ich denke nicht. Aber fragen Sie mich nichts.«

Er lehnte den Kopf an die Wand und sah starr nach oben. In seinen Augen war ein eigentümlicher Glanz. Buchwald glaubte eine Träne drin zu sehen.

»Was sehen Sie? Sehen Sie etwas?« fragte er teilnehmend.

»Die Plejaden«, antwortete Thinker wie irr. Aber ein Lichtblick flog über seine entstellten Züge. »Die Alcyone!« sagte er dann, mit einem triumphierenden Lächeln und sank, vom Schmerz übermannt, zurück.


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