Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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4. Kapitel
Die Barrage von Kaliub

Unter dem Brausen und Gurgeln des Wasserschwalls, der uns aus dem oberen Schleusentor entgegenstürzte und die beiden Boote in unruhiges Schaukeln an den sie festhaltenden Tauen versetzte, stiegen wir langsam empor; nicht allzuhoch, denn der Höhenunterschied zwischen der Wasserfläche unter- und oberhalb des Stauwerks betrug kaum mehr als einen Meter. Dann beruhigte sich die kochende Wassermasse, das Schleusentor vor uns öffnete sich mit derselben phlegmatischen, echt orientalischen Feierlichkeit, die sein Genosse am untern Ende der Kammer beobachtet hatte, und wir fuhren wieder hinaus aus dem feuchten, halbdunkeln Mauerkasten in das grelle Sonnenlicht, das auf den seeartig ausgebreiteten Strom niederbrannte, der jetzt vor uns lag.

Wohl fünfzig schwarzbraune Gesichter unter weißen, schwarzen und grünen Turbanen, unter schmutzigroten oder erdbraunen Tarbuschen hatten über die Mauerkante der Schleuse herabgesehen und uns mit echter Fellahneugier gemustert: Das Dienstpersonal der Barrage, müßige Dorfleute aus Kaliub und Umgebung, die geduldige Mannschaft der Boote, die oberhalb und unterhalb der Schleuse zum Warten verurteilt war. Jetzt setzte sich die ganze Gesellschaft in Bewegung, um uns dem Ufer entlang ein ehrendes Geleite zu geben, und mit dem Wort aller Worte Ägyptens »Bakschisch!« zu begrüßen. Voran schritt ein würdiger Herr, der von der Masse des Fellahpöbels mit ehrfurchtsvoller Scheu gemieden wurde. Drei Schritte hinter ihm gingen zwei Saise, als weiterer Beweis seiner hohen Stellung, und hinter diesen zwei Herrn unzweifelhaft ägyptischer Herkunft: Der eine, in schwarzem Turban und rot- und gelbgestreiftem Kaftan, war Kopte und Schreiber, wie sich aus seinem Tintenzeug erkennen ließ, das er pistolenartig im Gürtel trug; der andere, in grünem Kleid und grellrotem Tarbusch, war unzweifelhaft Adjutant, Geschäftsvertreter, der ›Vekil‹ des hohen Beamten. Dieser Herr selbst trug, sehr auf den Hinterkopf geschoben, einen Tarbusch von offiziellem Dunkelrot, unter dem ein weißes Mützchen hervorsah, im übrigen aber einen schwarzen europäischen Anzug, welchem Alter und Gebrauch einen rostbraunen Glanz verlieh und dessen Knöpfe teilweise durch Bindfäden kunstreich ersetzt waren. Er war klein und mager; das ausdrucksvolle, soldatische Gesicht gelbbraun. Eine unarabische Habichtsnase von feinem Schnitt, aber viel zu groß für die ganze Gestalt, beschattete einen schneeweißen Schnurrbart, und einen spärlichen, aber langen Knebelhart. Graue, stechende Augen glitzerten in tiefen Höhlen unter struppigen Augenbrauen. Dabei waren die Bewegungen des Herrn von nervöser, zuckender Raschheit, wie wenn er Gewehrübungen zu machen gewohnt wäre. Von der Ferne konnte man ihn für einen alten, etwas verkommenen französischen Offizier halten, den ein unfreundliches Schicksal nach Kaliub verschlagen hatte.

Die Vermutung schien sich zu bestätigen, als ich, über der letzten Barke, die uns den Platz versperrte, Dampfer und Dahabie an die Uferböschung anlegen ließ und die Gangbretter ausgeworfen waren. Er stellte sich an dem des Dampfers auf und begrüßte mich mit großer Höflichkeit in gutem, levantinischem Französisch. Dann aber, wie er sah, daß die Damen auf der Dahabie ebenfalls Anstalt machten, ans Ufer zu kommen, ließ er mich mit einer entschuldigenden Handbewegung stehen, um ihnen behilflich zu sein. Dies ärgerte Fritschy, der neben mir stand, und gab ihm Zeit mir zu sagen, der alte Kerl sei der Schleusenwärter der Barrage, und habe ihn schon zweimal in Thalia besucht, um sich zu überzeugen, daß dort kein Raki oder sonstiger Kognak zu haben sei.

Ganz richtig war dies nun allerdings nicht, wie sich sofort herausstellte, nachdem sich die ganze Gesellschaft um den höflichen Halbfranzosen gruppiert hatte und der sprachliche Verkehr einigermaßen geregelt war. Ben Thinker versuchte anfänglich, durch sehr lautes Englisch dem Herrn technisch näher zu kommen, da dieser aber nur ein paar Worte englisch und Thinker kaum ein Wort französisch verstand, mußte sehr bald Fräulein Schütz den Dolmetscher spielen. Die beiden offiziellen Dragomane hatten sich sofort für wissenschaftliche Verhandlungen als völlig untauglich erwiesen, aber auch Fräulein Schütz bewegte sich meist in wunderbaren Mißverständnissen, bis Thinker auch sie absetzte und sich an mich klammerte. Nun ging's leidlich; wir fingen an, uns zu verstehen.

Iskander Effendi, oder wie er vorzog sich zu nennen: ›Monsieur Marie – Alexandre Marie, chef de section neuf de l'irrigation de la Basse Egypte, inspecteur du barrage de Kalioub, s'il vous plaît‹ war Staatsbeamter, ›höherer Staatsbeamter, s'il vous plaît‹, der mit der Oberaufsicht über die Rosettahälfte der Barrage betraut war. Allerdings hatte er auch den Schleusendienst zu überwachen und die gesetzlichen Abgaben für die Durchfahrt zu erheben: eine vielseitige, aufreibende Tätigkeit von hoher Verantwortlichkeit, die unverantwortlich schlecht bezahlt werde. »Mais, que voulez-vous? Allah regiert nun einmal in diesem Land nicht anders!« Er blickte grimmig auf die Bindfäden herab, die seine Beinkleider zusammenhielten. Übrigens, wandte er sich plötzlich sehr lebhaft an mich, wenn ich mit Halim Pascha, einem Herrn von hervorragender Intelligenz und höchstem Einfluß, den er seit Jahren anbete, einige passende Worte über diese Mißstände sprechen wollte, so zweifle er nicht, daß sich alles mit einem Schlage ändern werde. Dann würde er in der Lage sein, uns in Zukunft würdiger zu empfangen. – Ich nickte wohlwollend, sagte aber, wir seien heute schon von seinem Empfang entzückt. Unseren Zweck, unter seiner Leitung eine eingehende Besichtigung des berühmten Stauwerks vornehmen zu dürfen, werde er gewiß freudig begrüßen und wenn es ihm genehm sei und es seine kostbare Zeit erlaube, möge er die Güte haben, sofort die Führung zu übernehmen.

Während dieser Präliminarien hatten sich die wirklichen Schleusenwärter, die fünfzig wartenden Schiffer und was an Bewohnern aus der Umgebung Kaliubs herbeieilen konnte, in so dichtem Kreis um uns geschart, daß es einige Mühe kostete, den Menschenknäuel zu zerhauen. Wir erkannten jetzt erst die Würde Iskander Effendis und die Tatkraft seiner bestockten Saise in ihrer vollen Bedeutung. Nach kurzer Zeit stiegen wir die Treppe zum oberen Stockwerk der Barragebrücke empor und von dort, um einen allgemeinen Überblick zu gewinnen, in einem der Türme des Brückenkopfes weiter: Thinker, ich und Iskander voran, die Damen mit Fritschy zögernd hinterher. Die übrige Bevölkerung wurde von den zwei Unterbeamten, die uns den Rücken deckten, in unzeremoniöser Weise die Stufen hinuntergeworfen, die sie mit uns zu erklettern suchte. Befriedigt gingen sie sodann ihrer Wege, jeder an seine Arbeit, die für die Mehrzahl darin bestand, das dolce far niente ins Arabische zu übersetzen.

Man hatte hier oben einen prächtigen Überblick über die ganze Landschaft und Monsieur Marie war keineswegs ein schlechter Führer. Er überraschte mich im Gegenteil mehr und mehr mit Erklärungen, die eine gründlichere Kenntnis der Verhältnisse verrieten, als man nach dem Äußern des Mannes erwarten konnte.

Um uns lag das Rund einer gewaltigen Ebene, über der sich der wolkenlose Himmel wie eine riesige Glocke wölbte. In weiter Ferne gegen Süden konnte man wenigstens mit dem Glase die nadelförmigen Minaretts der Moschee Mohamed Alis auf der Zitadelle von Kairo erkennen und sah auch ohne Glas die rotgelben Felsen des Mokkatam und rechts davon die zwei großen Pyramiden von Gise, über die Fräulein Schütz mit weiblicher Lebhaftigkeit sofort herfiel, wahrscheinlich und namentlich, weil sie nicht in den Beobachtungskreis gehörten, um dessentwillen wir den Turm bestiegen hatten. Sie wollte von Fritschy wissen, was der Zweck dieser rätselhaften Monumente des Altertums gewesen sein mochte, mit denen ein anderer Zweig der Thinkerschen Familie eng verknüpft sei, wie sie geheimnisvoll beifügte. Auch Miss Thinkers träumerische Augen blieben an dem fernen Rätsel haften, und ich selbst mußte mich ein wenig anstrengen, zu Iskander und der Barrage zurückzukehren. Das ist nun einmal der Zauber, den diese Bauwerke von jeher auf alle Welt ausgeübt haben, ein Zauber, der nach Jahrtausenden seine Kraft noch nicht verloren hat.

Von jenem südlichsten Punkte des Horizonts zieht sich ein schmaler blaugrüner Streifen durch die gelbe Landschaft, immer breiter und grüner werdend, je näher er uns tritt. Rechts und links begrenzen ihn zwei endlose Flächen, in welchen leichtes Braun, Rot und Gelb mit fast blendendem Weiß in regellosen Flecken wechselt: die arabische und die libysche Wüste, zwischen denen der Nil um sein Leben kämpft. Da und dort blitzt der Spiegel des Stroms aus dem tiefeingegrabenen Bett, belebt von blendendweißen Segeln, die zu Dutzenden flußaufwärts treiben. Unter uns zur Linken, einen halben Kilometer vom Turm entfernt, auf dem wir stehen, liegt die Spitze des Deltas. Hier hat man den mächtigen Strom in seiner ganzen Breite vor sich und sieht, wie er sich in zwei Arme spaltet, die, immer weiter auseinander strebend, eine gewaltige grüne Fläche fruchtbaren Landes umschließen, welche sich gegen Norden immer breiter ausdehnt und schließlich den ganzen nördlichen Horizont in bläulichen Dunst zu hüllen scheint. Auch rechts und links von den zwei großen Nilarmen sind grünliche Flecken und Streifen zu erkennen, von denen namentlich die im Osten entlang dem Damiettearm liegenden Teile eine bedeutende Fläche bedecken. Hunderte von Dörfchen, hundert zierliche Gruppen von Palmen und Sykomoren beleben diese Gründe, und da und dort sieht man deutlich die Linien alter Kanäle, wenn sie auch um diese Jahreszeit schon ganz oder nahezu wasserlos durch die Kleefelder oder die bereits reifenden Weizenflächen hinziehen. Als gewaltiges Werk der Menschenhand ragt in dieser schlichten Landschaft der brückenartige Bau empor, auf dem wir stehen. Er erstreckt sich von Ufer zu Ufer quer über den Rosettaarm des Nils und ihm entsprechend bemerken wir in einer Entfernung von vier Kilometern einen ähnlichen Bau, der den Damiettearm überbrückt. Oberhalb der beiden Brücken ist der Strom seeartig aufgestaut. Von Sandbänken und vertrocknenden Seitenarmen ist hier noch nichts zu sehen; dagegen sind sie unterhalb der Brücken um so häufiger und schimmern in grellem Gelb an zahlreichen Stellen aus dem grüngelben Wasser.

Monsieur Marie, der offenbar Sinn für landschaftliche Wirkungen hatte, ließ uns ruhig und wortlos minutenlang das gewaltige Bild betrachten. Dann deutete er mit einer Handbewegung an, daß er das alles als sein Eigentum betrachte und begann zu erklären. Dies machte Thinker ungeduldig, bis ich ihm Wort für Wort übersetzte, was jener sprach. Es war kein Wunder, daß sich die Damen mit Fritschy nach kurzer Zeit auf den Weg machten, um ihre Studien auf eigene Rechnung fortzusetzen. Monsieur Marie aber hatte begonnen:

»Sie sehen dort, an der Spitze des Deltas, umgeben von Befestigungswerken, die nichts taugen, die Mündung eines neuen, breiten Kanals. Das ist der Menufiekanal, der – wenn er gefüllt wäre – dem Teil des Deltas, welchen die beiden Nilarme umfassen, das Wasser zuführen müßte. Rechts von uns, am westlichen Nilufer sehen Sie einen zweiten Kanal, den Behera abzweigen. Er ist für das Land auf dem linken Ufer des Rosettaarms bestimmt, ganz wie auf der anderen Seite des Stroms etwa drei Kilometer von hier der Tscharkie das Land auf dem rechten Ufer des Damiettearms bewässern sollte. Das würde auch geschehen, wenn er voll Wasser wäre; und sie wären voll, alle drei, jahraus, jahrein, wenn das Stauwerk, auf dessen Brückenkopf wir stehen, den Nil so hoch aufstauen könnte, als es beabsichtigt war: vier bis fünf Meter nämlich. Leider hat ein unglückseliges Geschick uns verraten; verraten, Messieurs! Und so bleiben die drei großen Kanäle, die die Hauptadern des ganzen Bewässerungssystems von hier bis in das 160 Kilometer entfernte Meer bilden sollten, von Ende Februar bis Mitte Juni trocken. Ah, meine Herren, das war ein entsetzlicher Schlag für uns, als es nicht mehr möglich war, zu leugnen, daß die geplante Stauhöhe nicht erreicht werden konnte. Nicht mehr möglich! Nicht mehr möglich! Mon dieu! Mon dieu! Mon dieu! Das waren Tage!«

In diesem Augenblick glaubte ich einen echten Franzosen vor mir zu haben, der seiner Verzweiflung die Zügel schießen läßt. Er erhob beide Arme gegen den Himmel und tanzte mit den kurzen Beinchen, als ob er auf einer glühenden Platte stünde.

»Doch seien wir ruhig; es ist nicht mehr zu ändern«, fuhr er fort, die Pantomime plötzlich abbrechend. »Sie haben den Gedanken des großen Paschas begriffen, meine Herrn, die Idee, wie sie Mougel ausführte, dieses Ideal eines Planes? Während acht Monaten strömt der Nil in seinem tiefeingegrabenen Bett fünf, sechs Meter unter der Fläche des bebaubaren Landes dahin. Alles Wasser, ohne das in dem regenlosen Ägypten nichts wächst, muß deshalb gehoben werden. Das sollte durch das Stauwerk an dieser Stelle für das ganze Delta geschehen. Die drei Kanäle, gleich hoch oder höher gelegen als das Kulturland, sollten von dem aufgestauten Nil aus während des ganzen Jahres gespeist werden. Sie sollten dann das Wasser über die weite Fläche des Deltas verteilen, ohne daß sich ein Ochse zu drehen oder ein Fellah zu quälen brauchte. War das nicht großartig? Und es wäre beinahe gelungen. – Noch vor vierzehn Tagen hätten Sie die Kanäle fließen sehen. Heute ist es damit zu Ende, denn wir stehen in der Zeit des sinkenden Nils. Wir wagen nicht das Wasser über sechzehn Dezimeter zu stauen. Ich habe die strengste Weisung von der Zentraldirektion in Kairo, sechzehn Dezimeter nicht zu übersteigen. Keinen Millimeter mehr. Man hat seine Gründe hierfür. Was helfen aber sechzehn Dezimeter, wenn man fünf Meter braucht, um die Kanäle zu füllen? Ich frage Sie, meine Herren! Mon dieu! Mon dieu!«

Er war schon auf der Turmtreppe und verschwand beim dritten ›Mon dieu!‹. Wir folgten dem erregten alten Herrn mit etwas mehr Hochachtung, als wir ihm anfänglich zugestanden hatten. Es war klar: er kannte und liebte seine Barrage, und seine Liebe machte ihn nicht glücklich. Ich hatte kaum erwartet, in dem zerrissenen Stambulrock so viel Verstand und Gefühl zu finden. Als wir aus dem Turm heraustreten, hatte er sich wieder gefaßt und führte uns über die Brücke, an deren fernem Ende wir die hellen Kleider der Damen gerade noch bemerken konnten, zwischen denen Fritschy sich wie ein verzärtelter Junge zwischen zwei Tanten ausnahm. Es ist eine imposante Perspektive entlang der einundsechzig Türmchen, welche die Pfeiler krönen. Zwischen je zweien derselben befindet sich ein fünf Meter weiter Durchlaß, der mittels eines eisernen Falltors geschlossen werden kann; die Türmchen bergen die sinnreiche Windevorrichtung, welche die Stellung der Falltore beherrscht. Auch diese Tore hatten ihre Leidensgeschichte. Sie bestanden aus einem Gerippe von eisernen Röhren in waagerechter Lage, die durch Eisenplatten verbunden waren. In die Röhren konnte Luft gepumpt werden, wodurch die Tore schwimmend erhalten und dadurch ihre Schwere fast aufgehoben werden sollte. Aus irgendwelchen Gründen aber, die Iskander leider nur durch ein undeutliches Gemurmel andeutete, wollten die Luftpumpen nicht wirken und die Tore nicht schwimmen, so daß nunmehr fünfzehn Mann erforderlich waren, wenn man sie heben oder senken wollte. Zum Glück sind Menschen seit Pharaonenzeiten in Ägypten billig. – Eine Anzahl der Tore waren geschlossen, andere ganz oder teilweise gehoben, so daß an diesen Stellen eine reißende Wassermasse von dem gestauten Strom nach dem untern Flußbett zwischen den Pfeilern hindurchschoß. Es war Iskanders Lebensaufgabe, durch das teilweise Schließen und Öffnen der Tore dafür zu sorgen, daß der Unterschied der Stromhöhe über und unter der Barrage während des ganzen Jahres sechzehn Dezimeter nie überschritt. Den diesem Höhenunterschied entsprechenden, immerhin gewaltigen Wasserdruck vermochte das Bauwerk ohne Gefahr zu widerstehen; mehr durfte ihm nicht zugemutet werden, und damit war der Hauptzweck der Barrage nur während weniger Wochen im Jahre, bei sinkendem und bei steigendem Nil zu erreichen. Sank der Fluß tiefer als ungefähr drei Meter unter seinen höchsten Stand, so wurden die Mündungen der drei großen Bewässerungskanäle vom gestauten Wasser nicht mehr erreicht. Dann mußte dem Delta nach wie vor sein Wasser mittels Menschen-, Ochsen- oder Dampfkraft zugeführt werden. Wenn alles war, wie uns Monsieur Marie mit zornbebender Stimme und in zwanzig Variationen auseinandersetzte, so standen wir vor einem der größten Mißgriffe, die unsere Zeit auf ihrem technischen Gewissen hatte.

»Aber woher wissen Sie, daß der Bau einen höheren Druck nicht aushält?« fragte ich auf dem Rückweg vom fernen Ende der einen halben Kilometer langen Brücke, die wir gewissenhaft abgeschnitten hatten.

»Sehen Sie dorthin!« sagte er halblaut, mit einer wahren Grabesstimme, und wies über die Brückenbrüstung stromabwärts in das Wasser. Ungefähr in einer Entfernung von achtzig Schritt sah man auf der sonst glatten Oberfläche ein leises Wallen und Sieden, wie wenn Quellen im Flußbett ausgebrochen wären und nach oben drängten.

»Verstehen Sie das?« fragte er nach eine Pause, in der er die Erscheinung mit weit hervorstehenden gläsernen Augen angestarrt hatte. »Das sind Wasseradern, die durch das Fundament des Baus ihren teuflischen Weg gefunden haben, und an der Grundfeste jedes Pfeilers nagen. Wer weiß, wie lange es so fortgehen kann. Manchmal wird es schlimmer, manchmal wird es auch besser. Aber jeder Dezimeter weiterer Stauhöhe, weiteren Wasserdrucks macht es gefährlicher. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe kleiner Geyser zeigen, wenn ich es wagte, ein weiteres Dutzend Falltore schließen zu lassen. Aber ich lasse das wohl bleiben und halte mich an Allah. Er weiß, wie lange die Brücke noch stehen wird.«

»Sind Sie Moslem?« fragte ich erstaunt.

»So halb und halb«, antwortete er verlegen. »Das Leben in Kaliub und auf der Brücke wäre sonst nicht auszuhalten.«

Ich glaubte ihm fast. Die Sonne stand jetzt nahezu senkrecht über der Barrage, und brannte, als ob sie uns samt dem Nil aufsaugen wollte. Wir hatten der Besichtigung des Bauwerks zwei Stunden gewidmet. Iskander allein war noch nicht erschöpft und trotz seiner inneren Erregung der einzige, der der sengenden Mittagsglut mit trockener Stirne Trotz bot. Fritschy, der Schlaukopf, saß mit den Damen schon seit geraumer Zeit unter dem schattigen Zeltdach der Dahabie und fütterte Fische. Ben Thinker war seit einer Viertelstunde auffallend still geworden und hatte aufgehört, auf die Übersetzung jedes Satzes des unerschöpflichen Schleuseninspektors zu dringen. Er blieb öfter zurück, in tiefes Nachdenken versunken. Wenn ich mich nach ihm umsah, stand er still, unverwandt nach Süden blickend, wo im glühenden Dunst des Mittags gerade noch die Spitze der Cheopspyramide am Horizont zu erkennen war. Was hatte er, der praktische Mann der Gegenwart, mit dem Steinrätsel zu tun, das dort seit viertausend Jahren oder länger sein verschollenes Geheimnis bewahrte?

Deutlicher sprach in uns allen eine innere Stimme. Thinker bat mich schließlich, den Inspektor einzuladen, uns nach den Booten zu begleiten. Mit überströmender Höflichkeit erklärte dieser seine Bereitwilligkeit, uns zu folgen und versuchte sofort, die Bindfäden seiner Beinkleider neu zu arrangieren. Die Dragomane hatten ihre Pflicht getan. Auf dem Oberdeck der Dahabie war eine Mittagstafel aufgebaut, die zu den kühnsten Erwartungen berechtigte. Die Damen begrüßten uns mit liebenswürdiger Ungeduld; sie waren ohne Zweifel so hungrig wie wir. Thinker, der wie abwesend bald den Nil, bald den Horizont betrachtet hatte, raffte sich zusammen und übernahm die Rolle des gastfreundlichen Wirts. Bis zu einem gewissen Grade war er hierzu berechtigt, denn außer meinem Schaf konnte ich zu dem unerwarteten Festmahl so viel wie nichts beisteuern. Wenige Minuten später saßen wir auf anständigen Stühlen à la franca um einen Tisch, der in Deutschland, Frankreich oder England nicht einladender hätte ausgestattet sein können.

Die Suppe war ein Meisterstück meines Kochs. Er verstand dies; denn er hatte vor Jahren als Küchenjunge eine Nilfahrt mit einem schwäbischen Geologen gemacht. Der Dragoman der Dahabie hatte in unserer Abwesenheit einen Nilfisch gefangen und der jenseitige Koch schien, was Fische anbelangt, auf der Höhe moderner Zivilisation zu stehen. Vielleicht ist bei dieser begeisterten Schilderung in Betracht zu ziehen, daß wir drei Semi-Eingeborenen, der Inspektor, Fritschy und ich, durch bittere Erfahrung in unseren kulinarischen Ansprüchen etwas herabgestimmt waren, und daß die ganze Gesellschaft trotz der Hitze mit einem gesunden, nordländischen Hunger Platz genommen hatte. Der Hammelbraten war kein Southdown, aber auch ein Deltaschaf, das seine Jugend in ägyptischem Klee zugebracht hat, kann sich sehen, oder vielmehr schmecken lassen. Zum Schluß überraschte uns ein süßes arabisches Gericht, aus Reis und geheimnisvollen Kräutern, das Fräulein Schütz – sie hatte zur Vorsicht im Baedeker nachgeschlagen – an die Glanzzeit der zwölften Dynastie erinnerte, unter der Ägypten den Höhepunkt alter Kultur und raffinierten Lebensgenusses erreicht haben soll. Dazu kamen ein paar Flaschen kühlen Rheinweins. Ben Thinkers Dahabie schien unerschöpflich in allem, was das Leben lebenswert macht. Die so hergestellte Verbindung des alten, treuherzigen Vaters Rhein mit dem noch älteren, geheimnisvollen Nil hatte einen ganz besonderen Reiz, dem sich Monsieur Marie willenlos hingab, der sogar auf Miss Thinkers eigentümlich dunkeln Wangen ein zartes Rot hervorzauberte, das sich wie der Duft auf einem Pfirsich ausnahm. Sie sprach nicht viel, aber sie war eines jener seltenen Wesen, die mit einem Wort mehr zu sagen wissen, als andere mit stundenlangen Vorträgen. Hierin haben Altstimmen einen schwer erklärlichen Vorteil. Fräulein Schütz mochte noch so viel plaudern, man fühlte, Fräulein Thinker sagte mehr, wenn sie ihre wundervoll gezeichneten Lippen nur bewegte.

Als zum endgültigen Abschluß materieller Genüsse Orangen, Mandeln und Datteln erschienen, waren wir alle in bester Stimmung, zufrieden mit dem Lauf der Welt, seit der Nil an diesem gesegneten Land zu bauen begonnen hatte, und ergeben in alles, was die Zukunft bringen mochte, sogar in die Mittagshitze der Gegenwart. Die Damen zogen sich nach englischer Weise zurück, um für eine halbe Stunde die wohlverdiente Ruhe aufzusuchen. Fritschy seufzte auf, wie wenn er einer großen Gefahr entronnen wäre, und seufzte dann noch einmal, wie wenn er sie zurückwünschte. Thinker setzte sich in nachdenklichem Halbschlummer in einem Schaukelstuhl zurecht, was ihn jedoch nicht abhielt, fast lauernd den Barrageinspektor im Auge zu behalten. Bei diesem zeigte sich das Unglaubliche: daß er noch gesprächiger wurde, als vor dem Essen. Was unter solchen Umständen unvermeidlich ist, geschah auch ihm: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. In einem wunderbaren Gemisch von Französisch, Englisch, Italienisch, Griechisch, Arabisch und Türkisch – ja einige deutsche Worte suchte er mir zu Ehren einzuflechten – erzählte er Thinker, der nicht einen Satz davon verstehen konnte, die Geschichte seines Lebens, die, wie er feierlich versicherte – gleichbedeutend sei mit der Geschichte der Barrage von Kaliub. Wie viel Zigaretten diese Erzählung kostete, soll hier nicht erörtert werden, so verführerisch es ist, die fortlaufende, hochdramatische Pantomime zu schildern, mit welcher das Rollen, Anzünden, Anrauchen und Wegwerfen der zierlichen Glimmstengel den Bericht des alten Herrn begleitete. Ebensowenig ist es möglich, den Bericht in seiner ursprünglichen Form wiederzugeben, die ihren Reiz nicht allein der ungekünstelten Mischung von sechs Sprachen verdankte, sondern auch den uralten Kampf zwischen Morgen- und Abendland, der uns unter diesem Himmelsstrich fast stündlich entgegentritt, den Gegensatz zwischen Ergebung und Tatkraft, zwischen der phlegmatischen Würde des Halbtürken und der Ruhelosigkeit halbfranzösischer Amour propre zum Ausdruck brachte.

»Mougel! Sie kennen Mougel?« begann er, und warf zornig die erste Zigarette über Bord, die er soeben gedreht hatte, um uns, wie er meinte, ›in aller Ruhe‹ die erbetene Geschichte zu erzählen. »Der größte Mann des Jahrhunderts! Ich bin stolz, ihm gedient zu haben; stolz, meine Herrn! Ich war seine rechte Hand. Ich kannte ihn, als er in Ägypten ankam und in den Dienst des Vizekönigs trat, als bescheidener Assistent mit Linant; nicht unter Linant, mit Linant! Er war arm. Das Genie ist meist arm. Und ich – ich war schon zu Anfang seiner glänzenden Laufbahn seine rechte Hand, das heißt – um mich rückhaltlos auszusprechen – sozusagen –«

Dem Erzähler wurde sichtlich etwas unbehaglich zumute. Er tat einen kräftigen Zug aus seinem Weinglas, dann begann er aufs neue:

»Messieurs, die Mehrzahl der Menschen beginnt das Leben klein, sehr klein. Dies ist keine Schande; es ist das Gesetz der Natur. Ich schäme mich dessen nicht; im Gegenteil. Wenn ich sage, ich war von Anfang an Mougels rechte Hand, so wollte ich damit andeuten, ich war Chef seines Haushalts, seiner – seiner Küche. – Das heißt, anfangs war ich das allerdings nicht. Ich hatte klein zu beginnen, wie er und war ein Junge von fünfzehn Jahren, als ich mit einem englischen Lord von Chios, meiner Heimat, in Alexandrien ankam. Nur wenige Tage später verließ ich meinen Engländer, der mich nicht zu würdigen wußte, – ein Nationalfehler dieses überschätzten Volkes – ah! Pardon, Monsieur Thinker, mille pardons! – und nur wenige Monate später war ich Mougels Chef – chef de cuisine

Dies war überstanden. Iskander war Koch bei Mougel Bey gewesen. Es war ihm nicht ganz leicht geworden, uns dies mitzuteilen.

»Sie haben den Vorzug, Grieche zu sein, Iskander Effendi«, sagte ich höflich. »Monsieur Marie ist wohl ihr Familienname. Er klingt eigentümlich; mehr französisch als griechisch.«

»Ich bin stolz darauf«, erwiderte der Inspektor. »Es ist mein Familienname. Ich habe ihn Herrn Mougel zu Ehren angenommen und bin stolz darauf!«

Zu einer weiteren Erklärung ließ er sich nicht bewegen. Erst auf Umwegen erfuhr ich später von Fritschy, der es von einem Cafétier in der Esbekie hatte: Mougel habe anfänglich eine französische Köchin gehabt und sei an ihren Namen so gewöhnt gewesen, daß er fortfuhr, auch dem Küchenjungen ›Marie‹ zu rufen, als jene ihr Schicksal einem Haarkräusler in Alexandrien anvertraut hatte, und dieser in die verantwortliche Stellung eines Kochs aufgerückt war. Daraus entstand im Laufe der Zeit der neue Familienname. – Nun aber konnte die Geschichte mit vollen Segeln dahingleiten, wobei nicht zu vergessen ist, daß die französische Flagge lustig über ihr flatterte. Zum drittenmal hub Monsieur Marie an:

»Der große Kaiser Napoleon, meine Herren, ist der Vater des Gedankens der Barrage. Kein Zweifel! Dann kam der große Vizekönig, Mohamed Ali, und griff die Idee auf. Auch er war der Vater des Gedankens. Zwei Väter. Nichts Ungewöhnliches im Orient, meine Herrn! Als die schweren Kriegszeiten vorüber waren, dachte der geniale alte Herr daran, das ruinierte Land wieder aufzubauen. Der Machmudiekanal wurde gegraben und führte Wasser und Verkehr nach Alexandrien. Nun sollte die Bewässerung des Deltas an die Reihe kommen und Linant Bey erhielt den Auftrag, Pläne auszuarbeiten. Damals konnte mittels der Sakien und der meist trockenliegenden alten Kanäle eine Viertelmillion Fedan bebaut und bewässert werden. Die Barrage sollte die Möglichkeit schaffen, von den vorhandenen dreieinhalb Millionen wenigstens eine Million das ganze Jahr hindurch ohne Schöpfwerke oder Pumpen mit fließendem Wasser zu versorgen. Der Grundgedanke war, durch die Stauung der beiden Nilarme an der Spitze des Deltas das Niveau des Stroms dauernd so hoch zu halten, daß drei neue Hauptkanäle, die in die Oberfläche des Kulturlandes einzuschneiden waren, fortwährend mit Wasser versehen würden und es den drei Hauptprovinzen des Deltas, Behera, Manufie und Tscharkie zuführen könnten. Linant Beys erster Entwurf wurde 1834 fertig und einer Kommission von sieben Arabern, fünf Franzosen und zwei Engländern vorgelegt. Es waren aber nur ein Araber und ein Engländer für den Plan zu gewinnen. Wir waren damals noch zu klein und Linant nicht unser Freund. Aber wir wuchsen und 1842 bekamen wir den Auftrag, einen neuen Plan auszuarbeiten. Herr Mougel arbeitete Tag und Nacht. Wir arbeiteten beide Tag und Nacht. Ich konnte nicht genug Kaffee brauen. – Dann kam ein Kampf, als wären die alten Kriegszeiten wieder zurückgekehrt, heiß und bitter. Linant oder Mougel; Mougel oder Linant; das war die Parole. Der große Pascha aber sah zu, sechs Monate lang, und sagte kein Wort. Mougels Plan war der, die beiden Nilarme unterhalb der Deltaspitze durch zwei Stauwerke mit beweglichen Falltoren und den nötigen Schleusen für die Schiffahrt zu sperren. Linant wollte einen ähnlichen Bau weiter unten auf dem trockenen Lande des Deltas ausführen und dann den Nil in einem neu zu grabenden Bett durch die so aufgeführte Barrage leiten. Das war der Unterschied. Mougels Plan war natürlicher, einfacher, billiger; nicht wahr? Aber was will das heißen in Ägypten? Linant war schon längst Bey und der oberste Baschmahandi Seiner Hoheit; wir waren damals kaum mehr als kleine Effendis. Linant Bey war ein reicher Mann und wir waren arm. Der große Pascha schwieg. Die Pläne wurden nach Paris geschickt, und von den ersten Autoritäten geprüft. Mein armer Herr wollte verzweifeln; ich aber sprach: Vertraue auf Gott!

Eines Tages kamen wir in unserer Dahabie von Kaliub herauf, wo wir zum zehntenmal das Flußbett untersucht hatten, und mußten schon nachmittags in Schubra anlegen, des schlechten Windes wegen. Dort war der neue Palast des Vizekönigs gerade fertig geworden; der hohe Herr bewohnte ihn seit wenigen Tagen und alles war noch in großer Unordnung. Da sah er uns aus den Fenstern und ließ Herrn Mougel sagen, er werde in der Abendkühle auf das Boot kommen und das Abendbrot bei ihm nehmen. Ich zitterte; Mougel aber sagte: Vertraue auf Gott, Marie, und mache deine Pastete à l'anglaise mit Kognak, fine Champagne, – Sie wissen, meine Herren, plum pouding. Ich hatte ihn bei meinem Lord kennen gelernt und Mougel liebte ihn, obgleich wir sonst die Engländer nicht liebten – pardon, Monsieur Thinker, mille pardons!

Dann geschah das Unerhörte: der große Pascha betrat unsere Dahabie, ließ Polster und Kissen bringen und Schibuks und rauchte mit Mougel, als wären sie zwei Brüder. Die Barragepläne wurden herbeigebracht. Sie waren den Tag zuvor aus Paris zurückgekommen; aber die Gelehrten, wie sie's zu machen lieben, hatten nicht ja und nicht nein gesagt. Der Pascha ließ sich alles noch einmal erklären, stundenlang. Er nickte wohl mit dem Kopf, aber er schwieg. Hierauf kam mein Plumpoudain, und als ich den Kognak vor seinen Augen anzündete, lächelte er zum erstenmal. Dann aß er, zweimal, dreimal und ehe er aufstand, um sein Abendgebet zu verrichten, sprach er zu Herrn Mougel: ›Dein Abendbrot hat mir das Herz erwärmt; es brennt wie süßes Feuer. Mougel Effendi, heute bist du Bey geworden; und beim Allmächtigen und Allweisen, dein Plan soll ausgeführt werden.‹ Ich stand drei Schritte von ihm, als er das sagte und die Reste meines Plumpoudain rauchten noch. Es ist nicht ruhmsüchtige Eitelkeit, wenn ich sage, daß ich die Nilbarrage zur Ausführung gebracht habe. Ich bin heute ein unglücklicher, alter Mann. Aber das ist der Stolz meines Lebens. Drei Schritte von mir gab er den Befehl; der Pudding war noch nicht kalt!

Dann gings ans Drängen. Im folgenden Jahr wurde, zuerst mit der Rosettabrücke, der Bau begonnen. Das Land der Deltaspitze ist frisch aufgeschwemmter Nilschlamm von geringer Festigkeit; das Flußbett und der Untergrund, so tief man auch bohren mag, feiner Sand, flüssig wie Wasser. Auch hat der Querschnitt des Stroms an der Stelle, wo das Stauwerk erbaut werden mußte, eine ganz mißliche Form: Gegen das westliche Ufer ragten Sandbänke vier Meter hoch über das Niederwasser des Stroms hervor; am östlichen ist die Tiefe des Wassers über zwanzig Meter. Dort mußte ein vierzig Meter breiter Graben ausgehoben, hier ein Damm aus Steinblöcken und Geröll aufgeschüttet werden, um ein gleichförmiges waagerechtes Bett für das Zementfundament der Brücke zu gewinnen. Dieses sollte von einem durchlaufenden Betonblock von drei komma fünf Meter Dicke und dreiunddreißig Meter Breite gebildet werden, der, von Ufer zu Ufer eine Länge von über fünfhundert Meter erhalten mußte. An diesem Block, welcher an Ort und Stelle aufgebaut werden mußte, konnte natürlich nur bei niederstem Nilstand gearbeitet werden. Es handelte sich darum, in drei Monaten täglich zweitausendsiebenhundert Kubikmeter Beton in den Nil zu schütten. Wer es nicht mit angesehen hat, macht sich keinen Begriff von dieser Aufgabe. Eines der größten Bauwerke ähnlicher Art war bis zur Zeit der Hafendamm von Aberdeen gewesen, sagten uns die Engländer, die unseren Mut bewunderten. Dort wurden neunzehntausendachthundert Kubikmeter in einem Jahr, somit täglich im Durchschnitt sechzig bis siebzig Kubikmeter versenkt! Schon das Ausheben des Grabens zwischen den Spundwänden und Schutzdämmen am westlichen Ufer machte unsägliche Schwierigkeiten. Unter dem Druck der Seitendämme quoll der Sand wie Wasser aus dem Grund herauf, je mehr man davon wegnahm. Auch der Damm aus Bruchsteinen, mit dem der tiefste Teil des Flußbettes am Ostende ausgefüllt werden mußte, verschlang in rätselhafterweise Hunderte von Kubikmetern Füllmasse, wie wenn die Erde ein bodenloses Faß wäre. Dabei war das schlimmste Hindernis, die größte Gefahr Seine Hoheit, der Vizekönig selbst, der jede Woche, jeden Tag von Schubra herunterkam und trieb und trieb, als ob die Hölle hinter ihm wäre. Kein Plumpudding lockte ihm jetzt ein Lächeln mehr ab. Ob die Arbeit gut oder schlecht ausgeführt war, ob sie Zeit zum Trocknen oder Zeit zum Wasseranziehen brauchte, es gab kein Zaudern, kein Halten mehr. Vorwärts! Vorwärts! Das Schrecklichste war das Frühjahr '47, in dem in den drei Monaten des niedersten Wasserstandes April, Mai und Juni das Zementbett gelegt werden mußte. Alles war für die Riesenarbeit vorbereitet, doch der Nil fiel langsamer als gewöhnlich; zwei kostbare Wochen gingen verloren. Endlich konnte man beginnen. Hunderte und Hunderte von Arbeitern schütteten von Gerüsten den an den Ufern aufgehäuften Beton in die Grube, welche die Spundwände einschlossen, aber nach wenigen Tagen war ersichtlich, daß die tägliche Leistung nicht entfernt das erreichte, was zur rechtzeitigen Fertigstellung des Blocks nötig war. Der Pascha schäumte; Mougel zitterte vor Wut und Kummer. Ich war längst nicht mehr Koch, sondern Mougels Vekil und Dragoman. Aber ich kochte wieder Plumpudding, in der Hoffnung, die hohen Herren zu besänftigen. Ich mußte ihn selbst essen. Mougel sagte fast weinend, daß er mit dieser Zahl von Fellachin nicht zu Ende komme. Bei Allah! schrie der Pascha, du sollst haben was du verlangst. Hunderttausend; sprich! Aber wenn das Zementbett Mitte Juni nicht fertig ist und der Nil zu steigen anfängt, so leg ich dir den Kopf vor die Füße, und wenn ganz Europa Zeter schreit. Warum mußte mich Gott mit Blindheit schlagen, daß ich Linants Plan verwarf? Sprich, Sohn eines Hundes: wieviel? – Mougel verlangte fünfzehntausend Mann, und hundert berittene Boten flogen nach allen Seiten, um die Dorfbewohner im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometer zusammenzutreiben. Sie kamen, singend, heulend, einige in Ketten schon am folgenden Morgen, – nicht fünfzehntausend aber doch achttausend – und als man sie auf den Gerüsten verteilte und die Bewegung der Tausende von wandelnden Strohkörbchen begann, da war für zweitausend Mann kein Platz mehr, um auch nur zu stehen. Wie sich das zeigte, hatte ich zum zweitenmal die Ehre und das Unglück, drei Schritte von Seiner Königlichen Hoheit entfernt zu stehen. Er erhob plötzlich den Krückstock, mit dem er in seinem Alter zu gehen pflegte und schlug mich über die linke Schulter, daß mein Schlüsselbein zerbrach. Die Ehre ist groß; bedenken Sie: der größte Pascha des Jahrhunderts! Ich werde das nie vergessen. Aber das Bein ist heute noch krumm. Fühlen Sie!«

Mit einem Gemisch von Stolz und Wehmut schlüpfte Iskander zur Hälfte aus seinem Stambulrock, und lud mich ein, den Sachverhalt zu bestätigen. Das historische Schlüsselbein war in der Tat krumm. Dann wischte er sich den endlich ausgebrochenen Schweiß von der Stirne und fuhr fort:

»Mougel wollte zweimal desertieren, aber der Pascha ließ uns bewachen wie Haremsdamen, und die Arbeiten nahmen ihren Fortgang. Als im Juni der Nil zu steigen anfing, hatten wir noch das Werk von vierzehn Tagen vor uns. Es wurde weiter gearbeitet. Die berechnete Menge Zement liegt im Nil. Ob alles am richtigen Platz liegt, weiß Allah. Er regiert die Wasser, daß sie steigen zu ihrer Zeit; er ist auch Herr des Zements. Dies sagte ich zu Nasir Ali Bey, dem Adjutanten des Vizekönigs, den er alle Morgen heruntersandte, um uns seiner Ungnade zu versichern. Der Bey war ein gläubiger Moslem, wie sein Herr, dem er alles wörtlich mitteilte, was er an der Barrage hörte. Wir hatten darauf einige Tage Ruhe.

Im folgenden Jahre wurde mit dem Oberbau begonnen. Das Treiben nahm kein Ende. Mohamed Ali fühlte, daß die Tage seines Leibes gezählt waren, und noch rascher brach sein Geist zusammen. Wir hatten dafür zu büßen, denn er wollte die Barrage fertig sehen, ehe er das Paradies betrat, das Gott für geisteskranke Paschas zubereitet hat. Sie können sich denken, wie gearbeitet wurde. Ein Wunder wäre es gewesen, wenn die Hälfte nicht eingefallen wäre, fast ehe sie aufgebaut war, hätte nicht mit einemmal das Interesse des Vizekönigs eine andere Richtung eingeschlagen. Er beschäftigte sich nun mit Baumwollkultur in Schubra und dem Zuckerrohr um Minie. Man konnte den Oberbau der Brücke fertigstellen, ohne mit ungebrannten Backsteinen und mit halbgelöschtem Kalk rechnen zu müssen. Sie sehen, was wir hinstellten. Splendid! Magnifik! Nicht wahr? Im Jahre '50 waren an diesem Bau, der jetzt vor uns steht wie ein schlummerndes altägyptisches Weltwunder, acht fünfundzwanzigpferdige Dampfbagger in Tätigkeit, des weiteren zwei Dampf- und sechs Handpeilkatzen, vier Dampfmaschinen zum Kalkmischen, zwei fünfzigpferdige Dampfmaschinen und sechzehn Mühlen zum Zementmahlen; vier Dampfmaschinen zum Backsteinformen und zwei für die Taucherglocken, daneben zwölftausend Soldaten, dreitausend Matrosen, zweitausend Fellahtaglöhner, vierhundert Zimmerleute, sechshundert Maurer, und so weiter. Was das ›Undsoweiter‹ an Kohle, Bauholz, Schreibmaterial und anderen Nebendingen verschlang, davon kann man sich schwer eine Vorstellung machen. Ich weiß es, denn ich hatte die Buchführung über diesen Teil des Unternehmens zu leiten und trug die schwere Verantwortung, welche damit zusammenhing. Damals schon waren fünfzig Millionen Francs verausgabt und ein Glück, eine gnädige Fügung Allahs konnte man es nennen, daß der greise Vizekönig in den letzten Jahren seines Lebens nicht mehr imstande war, den schwierigen Berechnungen und Zusammenstellungen zu folgen, welche ich und einige andere allmonatlich auszuarbeiten gezwungen waren. Alles schien sich aufs beste gestalten zu wollen, seitdem wir etwas mehr Ruhe hatten. Wenn ich dann abends die meilenlange Werkstätte überblickte, auf der Tausende von Arbeitern wimmelten und der Dampf aus zweiundzwanzig Dampfmaschinen gen Himmel stieg und ich bedachte, daß, genaugenommen, ich die Ursache dieses Triumphs der Zivilisation und des Fortschritts war – Sie haben nicht vergessen, meine Herren, auf welche Weise der Vizekönig veranlaßt wurde, den entscheidenden Entschluß zu fassen – da hob sich meine Brust in berechtigtem Selbstgefühl und ich wußte, daß ich mit gutem Gewissen von den Früchten genießen durfte, welche ein solches Werk dem darbenden Volk versprach. Ja, meine Herren, wie Sie mich hier sehen – damals war ich auf dem geraden Weg, ein wohlhabender, ein reicher Mann zu werden. Hatte ich nicht das Recht, meine Verdienste, die von andere verkannt wurden, entsprechend zu belohnen? Und zögerte ich, es zu tun? Nein, zweimal nein. Und dennoch! Mon dieu, mon dieu! – was ist geblieben? Ein gebrochenes Schlüsselbein! – ein armer Mann!« –

Der alte Sünder, den ich nur zu gut verstand, wischte sich eine Träne aus den Augen, erhob sein Glas, und leerte es, seine ganze Männlichkeit zusammenraffend, auf unsere Gesundheit. Dann fuhr er fort:

»Ibrahim Pascha hatte noch vor dem Tode Mohamed Alis die Regierung übernommen und starb, um sie Abbas Pascha zu übergeben. Beide kümmerten sich wenig um unser Werk, das nun rasch seiner Vollendung entgegenging. Der zweifache Brückenbau war fertig. Die eisernen Falltore wurden eingesetzt. Da kam endlich der große Tag des ersten Versuchs. Der neue Vizekönig und sein Hof, ganz Kairo und halb Europa pilgerten nach Kaliub, um dem Feste der Zivilisation, dem Triumph Mougels beizuwohnen. Mich nannten nur wenige, doch ich wußte, welcher Anteil an dieser Siegesfeier mir gebührte. Das genügte. Die Sperrtore zwischen den Pfeilern wurden niedergelassen. Es war eine mühevolle und gefährliche Arbeit, da die hierfür bestimmte Maschinerie nicht fertig war, und nie fertig geworden ist. Ein paar hundert Fellachin bleiben in einem solchen Falle die zuverlässigste Maschine. Man fing am östlichen Ende der Rossettabrücke an. Fünf, sechs, zehn Tore fielen nieder. Hinter denselben fing der Nil an zu steigen und durch die noch offenen Durchlässe stürzte das Wasser mit wachsender Gewalt. Mougel, die Schar seiner Beamten hinter ihm her, kommandierte wie ein Feldherr. Auf jedem dritten Pfeiler stand eine Vedette, um die Befehle weiter zu senden. So beherrschte er eine Schlachtlinie von einem halben Kilometer. Abbas Pascha, der all diese Dinge, die der Stolz seines Großvaters gewesen waren, haßte wie Teufelswerk, stand mit zwei Ulemas und seinen Adjutanten zehn Schritte von dem Oberingenieur, und beobachtete mit lauerndem Blick, wie Mougel bleicher und bleicher wurde. Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen, wenn ich mich diesmal auch wohl hütete, den hohen Herren zu nahe zu kommen. Langsam, aber sichtlich stieg der Nil hinter dem Stauwerk einen halben, einen Meter. Man sah die Wasserfläche gegen Kairo in unruhiger Verwirrung hin- und herfluten. Es war ihr, seit die Welt steht, solch ein Hindernis noch nie in den Weg getreten. Zwanzig Tore waren jetzt ganz, sechsunddreißig gegen das Westende der Barrage zur Hälfte geschlossen. Da war plötzlich ein Laufen und Rennen auf der Brücke. Mougel, der aussah, als wüßte er nicht mehr, was geschah, deutete mit zitternder Hand flußabwärts. Dort, fünfzig Meter von der Brücke, auf der ruhigen Wasserfläche hinter den geschlossenen Toren, an drei, vier, an immer mehr Stellen entstand eine lebhafte Bewegung. Das Wasser wallte auf, fußhoch. Es hatte den Anschein, als ob hundert Quellen im Flußbett entstanden wären und sprudelnd nach oben drängten. Auch der Pascha beobachtete die Erscheinung, drehte sich dann plötzlich um und lief – lief – lief im Sturmschritt, die Ulemas, die Adjutanten hinterher, nach dem Brückenende und nach seinem Dampfboot, das ohne einen Augenblick zu zögern vom Lande abstieß und in der Richtung nach Kairo davonfuhr.

Wir standen ratlos auf der Brücke: Die Beys und kleinen Paschas, die Gesandten und Konsuln mit ihren Damen, die ganze Stadtgesellschaft Kairos und Alexandriens, welche die Festlichkeit herbeigelockt hatte. Niemand verstand, was geschehen war, außer Mougel und seine Ingenieure. Er befahl, fast schluchzend, die Tore wieder zu öffnen; was mit Mühe und Not geschah. Der Nil hinter der Barrage sank rasch auf einen halben Meter, und das Wallen, das wir gesehen hatten, hörte auf. Dann ging auch Mougel nach seiner Dahabie und legte sich zu Bett. Die feine Festtafel, die auf dem Oberdeck des Boots aufgestellt war, wurde von Dorfschechs und hungrigen Effendis gestürmt. Ich mußte es mit ansehen, wie die köstlichsten Leckerbissen von Schiffern und Fellahjungen verschlungen wurden. Es war, als ob an diesem Tag alles zu Grunde gehen sollte.

Und was war geschehen? Was hatte das alles zu bedeuten? Mon dieu. Sie wissen es ja. Weiter nichts, als daß das Wasser unter dem Druck, den die Stauung hervorruft, die kleinen Ritzen, Löcher und Kanäle in und unter dem Zementfundament entdeckt hatte, unter den eisernen Falltoren durchsickerte und nach kurzer Zeit in armdicken Strömen seinen Weg fand. Wo dann das Zementlager aufhörte, wallte es frech und fröhlich in die Höhe und zeigte, wie wenig es von unserem Prachtbau inkommodiert wurde. Wenn dies so fortging, mußte man befürchten, daß die Kanäle weiter und weiter ausgespült würden und daß das ganze Stauwerk schließlich zusammenstürzen und den Nil hinab gespült werden könnte.

Aber es kam noch schlimmer. Als Abbas Pascha von all dem des weiteren hörte, hatte er einen seiner Wutausbrüche und befahl, alle Bücher und Rechnungen, die sich auf die Barrage bezogen, streng zu prüfen. Torheit! Konnte das die Kanäle verstopfen oder die Fundamente befestigen, die viele Meter tief unter Wasser auseinanderrissen? Hundert Schreiber fielen über uns her: eine Schar von Eseln und Linant-Bey, zu seiner Schande muß es gesagt sein, Linant-Bey übernahm die Leitung des Rudels. Es gibt schlechte Menschen auf der Welt, meine Herren! Leute, denen man im Glück Gutes getan hat, schämen sich nicht, uns im Unglück die Haut über die Ohren zu ziehen. Sie schämten sich nicht, auch meine Bücher zu untersuchen, die ›Varia‹, welche ich gewissenhaft ausgegeben und verrechnet hatte, zu prüfen. Natürlich verstanden sie von allem so viel als ein taubes Krokodil, und es war nicht möglich, sie aufzuklären. Zu dumm, zu dumm! Meine Berufung auf Mohamed Ali, auf meine Verdienste, auf mein Schlüsselbein, auf meine erprobte Rechtlichkeit – es half alles nichts. Der große Pascha war tot, und mein Schlüsselbein geheilt. So nahmen sie mir das kleine Vermögen, das ich mühevoll erworben hatte und da saß ich, an der Barrage, der ich die schönsten Jahre meines Lebens gewidmet hatte, ein Bettler – schlimmer als ein Bettler –: ein Spitzbube. Man hieß mich einen Spitzbuben; man behandelte mich wie einen gemeinen Dieb! Allah straft, wen er will. Herr Mougel war krank. Ihn ließ man in Ruhe.

Als er nach einem Jahr wieder gesund wurde, begann man an der Barrage zu doktern; aber es half wenig oder nichts. Schiffsladungen von Zement, von Kiesel und Sand wurden vor der Brücke versenkt. Sie sollten die Löcher im Fundament verstopfen, aber sie wurden durchgerissen, so oft man versuchte, das Stauwerk wieder in Tätigkeit zu setzen. Eine Reparatur im Großen, einen halben Neubau zu unternehmen, um das Übel an der Wurzel zu packen: dazu hatte weder Abbas noch sein Nachfolger Said-Pascha Geld und Lust. Von Zeit zu Zeit schickten sie eine Kommission, um die Schäden zu betrachten. Diese berichtete dann, daß die von der vorigen Kommission empfohlenen Maßregeln nicht ausgeführt worden seien, empfahlen sie aufs neue und einige mehr, und reisten wieder ab. Mougel will nichts mehr von seinem Lebenswerk wissen, bezieht seine Pension als Bey und ruht in Paris von seinen Sorgen aus. Durch seine Vermittlung wurde ich zum Brücken- und Schleuseninspektor ernannt. Es ist besser als nichts. Ich habe ihm verziehen.«

Bitterer Gram kämpfte in den Zügen Maries mit der Ergebung eines Weltweisen, während er zusah, wie Thinker die Gläser aufs neue füllte.

»Ja, Barrageinspektor!« begann er nach einer Pause wieder. »Ein schweres, jämmerliches, verantwortliches Amt, bei dem man keinen Morgen sicher ist, ob der Grund, auf dem es steht, nicht über Nacht davongeschwemmt worden ist. Ich habe strenge Weisung, die Stauhöhe nicht über eineinhalb Meter anwachsen zu lassen, und ich muß diesem Befehl gehorchen, solange mir mein Leben lieb ist. Das gibt genug schlaflose Nächte und ruhelose Tage; denn der Nil ist nicht mein Freund und tut, was ihm beliebt. Bis heute steht die Barrage noch, dank meiner Fürsorge. Statt der acht Monate nützt sie dem Land wenigstens sechs Wochen und füllt so lange die drei Kanäle des Deltas mit dem Wasser, das sie hebt. Der Wert hiervon berechnet sich für die ägyptische Landwirtschaft immerhin auf jährlich drei Millionen Francs. Wäre die Ausführung gelungen, wie sie geplant war, so hätte das in acht Monaten gehobene Wasser einen Wert von fünfzig Millionen gehabt. Und wenn hohe Herrschaften hierherkommen, um das weltberühmte Stauwerk zu besichtigen, so sehen sie gewöhnlich mich an, als ob ich an der Differenz schuld wäre. Ich! Das arme Ich! Welch ein Schicksal!«

Er stand plötzlich auf, wie übermannt von seinen Gefühlen. Es war in der Tat Zeit, die Sitzung aufzuheben. Thinker, der längst aus seinem Halbschlummer erwacht war und zuletzt mit gespannter Aufmerksamkeit und mit dem Entschluß, unverzüglich Französisch zu lernen, zugehört hatte, drückte ihm warm die Hand und sah mich fragend an. Ich nickte. Gleich darauf glänzte der Schein von Gold zwischen den Fingern der beiden Herren. Der Kummer in Iskanders Zügen vertiefte sich um mehrere Grade, nachdem, rasch wie ein Blitz, ein freudiges Aufleuchten über sie hingeflogen war. Wie die zwei Napoleon in seinen Taschen verschwanden, ist mir heute noch ein Rätsel. Sie waren wie weggeblasen. Niemand hätte dem würdigen Greis eine derartige Taschenspielergewandtheit zugetraut. Ob sie von Chios stammte, ob Ägypten seine Leute soweit auszubilden vermag? Spätere Erfahrungen belehrten mich, daß beides gleich möglich ist.

Auch die Damen waren wieder erschienen und hatten sich mit Fritschy auf den Weg gemacht, um auf dem Dampfer dem Wölfchen einen Besuch abzustatten. Fräulein Schütz interessierte sich ungemein für kleine Wölfe und merkwürdigerweise interessierte sich das Wölfchen kaum weniger für Fräulein Schütz. Es zeigte, was bis jetzt noch nie gesehen worden war, Zeichen unverkennbarer Angst. War es der große Palmblattfächer, mit dem sie das Tierchen scherzhaft bedrohte, war es das Klingeln und Blitzen ihrer Chatelaine, die aus einer alten Ritterburg zu stammen schien, war es am Ende die Lorgnette, die ihr ein überaus strenges und würdiges Aussehen gab: Das sonst so freche kleine Geschöpf verkroch sich unter der Bank und winselte zornig. Der Monteur aber warf einen Blick aufmerksamer, fast ängstlicher Verehrung auf das kleine Fräulein. Da ich gerade vom Oberdeck der Dahabie über das Geländer gebeugt auf die Gruppe herabsah, ohne bemerkt zu werden, war mein warnendes »Fritschy! Fritschy!« von durchschlagender Wirkung. Er sah entsetzt auf und erschrak heftig. Dann zog er den zischenden Wolf rücksichtslos unter der Bank hervor und schüttelte ihn. Auch Miss Thinker sah auf, und ein mißbilligender Blick traf mich aus ihren dunkelblauen Augen. Das rettete Fritschy vor weiteren unpassenden Scherzen.

Ich wandte mich zu Ben Thinker, der sich hilflos unter dem Redeschwall des abschiednehmenden Iskander nach mir umsah und sagte ihm, daß es Zeit sei, an die Fortsetzung der Fahrt nach Kairo zu denken. Da sich, wie gewöhnlich um diese Stunde, der Wind gedreht hatte und uns entgegenblies, so sei ich gern bereit, die Dahabie im Schlepp bis Schubra mitzunehmen. Von dort könne er entweder mit dem Abendwind noch leicht nach Bulak, der Landungsstelle für Kairo kommen, wenn er auf sein Patentsteuersegel so lange verzichten wolle, oder mit zu beschaffenden Eseln direkt nach Shepheards Hotel reiten und die Dahabie nachkommen lassen. Mein wohlgemeinter Vorschlag fand jedoch keinen Anklang. Thinker wurde geheimnisvoll, nahm mich auf die Seite und versicherte warm, er verdanke mir die interessanteste Bekanntschaft seines Lebens. Ich deutete erstaunt und fragend auf Iskander, der jetzt den Damen vom Dampfer auf die Dahabia zurückhalf. »Nein, die Barrage!« rief er entrüstet. »Und was mehr ist, ich bin nicht imstande, mich so rasch von ihr zu trennen. Fahren Sie mit Gott, Herr Eyth. Ich werde hier bleiben, einen Tag, zwei Tage, wer weiß. Vielleicht kann ich Ihnen eines Tages mitteilen, was mich fesselt.«

»Sie sind ihr eigener Herr, Mister Thinker«, sagte ich höflich. »Ich hätte Sie gerne den Gefahren ihres Patentsteuersegels entzogen, schon um der Damen willen. Aber Sie wissen ohne Zweifel am besten, welche Pläne Sie verfolgen.«

»Wir dürfen dies wohl annehmen«, antwortete er mit überlegenem aber gutmütigem Lächeln. »Vielleicht kommt der Tag, an dem sogar Sie so denken werden. Überlassen Sie mich meinem Schicksal. Einen Dienst, einen unbezahlbaren Dienst könnten Sie mir allerdings noch erweisen. Lassen Sie mir Ihren Herrn Fritschy auf zwei oder drei Tage hier.«

»Aber wozu?«

»Als Assistenten, als technisches Faktotum, als Dragoman. Er versteht Herrn Marie, Fräulein Schütz versteht ihn, ich verstehe Fräulein Schütz. Er ist gerade der Mann, den ich brauche. Ich muß einige Abmessungen vornehmen; ich muß dieses Bauwerk in seiner ganzen Bedeutung kennenlernen. Ich muß wissen, wie die Franzosen dazu kamen, eine solche Torheit in die Welt zu setzen. Und dabei muß mir Iskander zur Seite stehen und Herr Fritschy muß meinen Umgang mit Iskander vermitteln. Sie sehen, wie das alles ineinander greift. Was verlangen Sie? Ich kaufe Fritschy. Ich zahle, was Sie verlangen.«

Ich lachte: »Zu verkaufen ist Fritschy nicht; aber einrichten läßt sich die Sache vielleicht.«

Wir riefen ihn herbei und machten ihn mit dem Vorschlag bekannt. Wenn er zwei Tage später nach Kairo komme, meinte ich, so sei unserem Zweck, seiner Begegnung mit dem Verwalter von El Mutana, noch immer gedient. Vielleicht sei Monier sogar noch nicht einmal in Kairo. Ich habe nichts dagegen, wenn es ihm Spaß mache, Herrn Thinker zu unterstützen. Fräulein Schütz, die die Oberleitung über den Haushalt auf der Dahabie zu führen schien, bemerkte zuvorkommend, daß noch eine kleine Kajüte auf dem Boot leerstehe. Der Monteur sah mich angstvoll an. Ich suchte ihn aufzurichten: »Den Kopf wird's nicht kosten, Fritschy!«

»Es ist mir nicht so sehr um den Kopf« sagte er mit erzwungenem Lächeln.

»Also! Nach dem, was Sie mir gestern erzählt haben, sind Ihre übrigen Organe gesund und widerstandsfähig. Ich würde es wagen.«

»Ach Sie – Sie haben gut reden!«

Doch ein paar weitere ermutigende Worte brachten ihn zum Entschluß. Er erklärte sich bereit, das Schicksal der Dahabie auf ein paar Tage zu teilen, wenn ich ihm den kleinen Wolf so lange wieder leihen wolle. Er könne ohne wenigstens einen seiner Freunde aus der Tierwelt nicht gut existieren. Auch hierüber beruhigt, machte er sich mit Eifer an seine neue Lebensaufgabe. In fünf Minuten war sein Handkoffer, dessen schwarzer, borstiger Pelzüberzug die russische Herkunft verriet und sich in der Sonnenglut eines ägyptischen Nachmittags wunderlich ausnahm, von dem einen nach dem andere Boot gebracht. Die Mannschaften beider Schiffe, die auf dem Vorderteil der Dahabie brüderlich beisammen saßen, klaubten sich auseinander; der kleine Dampfer stieß ein paar unternehmende Rauchwolken aus, die Taue, die uns zusammenhielten, wurden gelöst; die Räder rührten sich.

»Auf Wiedersehen in Kairo!« Ein fröhliches Händeschütteln rings herum, ein Sprung und der Abschied, kurz und heiter nach englischer Art, lag hinter uns. Wir trieben schon fast mitten im Strom, als ich Thinker mir nachrufen hörte und mit Mühe einige abgerissene Worte verstand: »Dank – Rettung – Schiffbruch – Dank – good bye!« Es war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß er ohne mein Dazwischenkommen meilenweit von hier in einem vertrocknenden Nilarm stecken würde.

Ich blieb noch lange nachdenklich neben dem Steuerrad stehen und sah den Fluß hinunter. Die Barrage zog sich in ihrer ganzen imposanten Länge auseinander, violett gegen den goldenen Hintergrund des Himmels; ein prachtvolles Bild. Auch das Weiß und Grün der Dahabie war zu erkennen, und noch immer flatterte mir ein weißes Taschentuch einen Abschiedsgruß nach. Fräulein Schütz, deren deutsches Herz sich regen mochte, wedelte unermüdlich wie ein weißes Hündchen. Und manchmal erhob sich ein zweites Tuch. Ich konnte mich unmöglich täuschen. Neben Fräulein Schütz stand die größere, zierliche Gestalt Miss Thinkers. Ihre dunkeln, blauen Augen konnte ich natürlich nicht sehen. Doch ja, ich konnte es; sogar ohne Glas. Es war mehr als rätselhaft.


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