Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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Jetzt hatte die Spitze des Zuges den Wüstensaum erreicht, der sich scharf gegen die letzten ärmlichen Kleefelder abzeichnet. Links lag Kafr, das letzte Fellahdörfchen, das, seinen Nachmittagschlummer abschüttelnd, einige Bewegung zeigte, die den zu dieser Tageszeit ungewohnten Gästen galt. Zwei Dinge waren nicht in Ordnung und mußten unverzüglich untersucht werden; so ungefähr lauteten die Telegramme, die verschiedene in den Feldern zerstreuten Weiber in schrillen Trillern ihren im Dorfe schlummernden Männern zusandten: Die üblichen Pyramidenbesucher kommen morgens; was hat diese Gesellschaft so spät am Tage in Kafr zu suchen? Und Pyramidenbesucher bringen keine Kamele aus Kairo; was hat das Tier zu bedeuten? Vier beduinenartige Fellachin von stattlichem Wuchs eilten herbei. Die zwei ersten legten die Arme zutraulich auf den Hals von Thinkers Esel. Die zwei nächsten hatten dieselbe Form des Empfangs Buchwald zugedacht. Als dieser aber mit der geballten Faust kräftig ausholte, wurde die Bedeutung der Pantomime freundlich lachend anerkannt. Doch blieben die vier Männer für die nächsten Stunden ihre treuen Begleiter, während die übrigen Dorfbewohner sich dem Kamel zuwandten und den Dragoman in ein lebhaftes Gespräch verwickelten.

Völlig unbekümmert um die leidenschaftlich erteilten Weisungen seiner arabischen Begleiter ritt Thinker den sandigen Hügel hinan. Er betrat ihm zum erstenmal im Leben, aber Buchwald fühlte sofort, daß sein Freund hier zu Hause war und vertraute blindlings seiner Führung. Jetzt erst, als sie auf der Höhe des Tafellandes angelangt waren, aus dessen sanften Sandwellen da und dort der weißgelbe Kalkfels hervortrat, empfand er die ganze erdrückende Wucht des Bauwerks, von dessen trümmerbedecktem Fuß sie kaum zweihundert Schritte entfernt waren. Thinker stieg vom Esel und machte Anstalt – wie Buchwald fürchtete – eine bis jetzt an dieser Stelle nicht gebräuchliche, halbreligiöse Zeremonie vorzunehmen, die wohl der feierlichen Stimmung, welche ihn beherrschte, einen passenden Ausdruck geben sollte. Der Maler seufzte erleichtert auf, als sich sein Freund eines besseren besann und auf dem nächstgelegenen Felsblock niedersaß. Unverwandt, mit leuchtenden Augen betrachtete er so die abgestumpfte Spitze der Pyramide, zu der die von hier zu übersehende nördliche und östliche Seite des Riesenbaus in zahllosen, rohen Stufen emporführten. Auch Buchwald fühlte in der Stille, die sie umgab, daß dieses Denkmal eine Sprache redete, die man noch heute vernehmen kann, wenn sie auch nicht mehr verstanden wird.

»Sie haben recht, Herr Thinker«, begann er endlich, wie wenn der Doktor etwas gesagt hätte. »Diese Steine sprechen. Mir kommt es vor, als sprächen sie von einer Ahnung, daß das Leben nie aufhöre. Es klingt wie ein Gebet an die Ewigkeit. Die Könige unserer Tage hätten nicht den Mut, sich solche Totenmale aufzustellen. Aber auch die Alten wußten schwerlich, was sie taten, nachdem sie kaum über die Schwelle des menschlichen Wissens und Denkens getreten waren.«

»Glauben Sie«, fragte Thinker leise, »ich würde vor dem Totenmal eines alten Heiden zu knien bereit sein, wie ich es fast getan hätte? Es ist nie und nimmer ein Totenmal. Hier hat das Leben gebaut; ein Leben, das wir allerdings nicht mehr verstehen können. Die Griechen ahnten es noch. Wissen sie, was das rätselhafte Wort Pyramide andeutet? Pyros heißt Weizen, Metron Maß. ›Weizenmaß‹ nannten sie ihr siebentes Weltwunder, ohne zu wissen, was sie damit sagten. Merken Sie etwas?«

Buchwald, den im Gespräch mit seinem Freunde jetzt von Zeit zu Zeit ein ungeduldiger Zorn erfaßte – der Mann war so wunderlich und doch so vernünftig! –, schämte sich nicht, energisch zu versichern, daß er nichts merke. Der Doktor sah ihn traurig an. Dann, mit einem tiefen Seufzer, schlug er vor, einen Ritt über das Pyramidenfeld anzutreten, um einen ersten Überblick zu gewinnen. Damit bestieg er seinen Esel wieder, der in bedächtigen Schrittchen seinen Weg durch die den Boden bedeckenden Felsblöcke, Scherben und Löcher zu suchen begann. In stürmischem Galopp kam nun aber Ibrahim ben Musa angeritten: zuerst, seit Menschengedenken, besteige jeder Fremde, der sich nicht zu alt fühle, den Gipfel der großen Pyramide. Herr Thinker sei nicht zu alt. Der Dragoman erhielt jedoch zu seiner großen Unzufriedenheit Befehl, mit dem Rest der Karawane an der Nordseite der Pyramide zu warten, bis Thinker und Buchwald zurückkehren würden. Er möge sich damit beschäftigen, die Beduinen abzuhalten, dem Umritt zu folgen. Dies war gegen alles Herkommen. Aber Buchwalds energische Befürwortung der Thinkerschen Anweisungen überzeugten den Alten, daß es ratsamer sein dürfte, zu gehorchen. Einige Beruhigung gewährte ihm der Gedanke, daß er für die Rückkehr seiner wunderlichen Herrn ein Mittagessen herrichten werde, das jedenfalls eingenommen werden müsse, ehe man an das Aufschlagen des Lagers gehen könne. Nun erst konnte der beabsichtigte Ritt mit der nötigen Ruhe und Sammlung fortgesetzt werden.

Entlang der Nordseite der Pyramide gegen Westen reitend überschritten sie einen mächtigen Schutthügel, der sich an die Seite des Bauwerks anlehnt. Über demselben konnte man den steinbruchartig zerklüfteten Eingang in das Innere bemerken. An der nordwestlichen Ecke angekommen, suchte Thinker vergeblich nach der im Sand begrabenen Stelle, wo ein Eckstein der verschwundenen äußeren Verschalung in den Felsboden eingesetzt gewesen war. »Hier« erklärte er eifrig, »wird morgen meine Arbeit beginnen, hier und am andern östlichen Ende dieser Grundlinie. Wir müssen diese beiden Endpunkte, die nach früheren Berichten durch zwei Vertiefungen im Felsboden bezeichnet sind, wiederfinden. Dann gilt es, ihre Entfernung voneinander mit mathematischer Genauigkeit festzustellen. Dutzende haben dies schon versucht und jeder hat eine andere Länge gefunden, und doch hängt alles weitere davon ab, diese Aufgabe richtig zu lösen. Hier, im Felsgrund festgelegt, ruht ein Maß verborgen, mit dem der Bau des Weltalls zusammenhängt. Ich wollte, es wäre Ihnen möglich, lieber Buchwald, dieser Tatsache mit etwas weniger zweifelhafter Miene entgegenzusehen. Aber wir müssen Geduld miteinander haben. Ich habe dies längst als die einzig richtige Grundregel im Umgang mit meinen Nebenmenschen, selbst mit den besten, erkannt. Auch Sie werden anders denken, ehe wir dieser heiligen Stätte den Rücken kehren.«

Sie verließen nun die große Pyramide, hinter welcher in einer Entfernung von kaum dreihundert Schritt gegen Südwesten die zweite, die Chefrenpyramide hervortrat. Da sie auf einer etwas höher gelegenen Grundfläche steht, erscheint sie zum mindesten ebenso groß als die erste. Trotzdem behandelte sie Thinker mit auffallender Geringschätzung und verlangte von Buchwald, mit ihm zu fühlen, wie unvergleichlich weniger beachtenswert sie sei. Schon die oberflächlichste Prüfung zeigte, daß über Chefrens Bau nicht derselbe Geist gewaltet habe, der in dem Bau des Cheops zu erkennen sei. Wieder mußte Buchwald gestehen, daß ihm der Sinn für solch feine Unterschiede abgehe. Es schien ihn im Gegenteil die Chefrenpyramide mehr anzuziehen, da ihre Spitze und die glatte Verschalung des Baus an ihrem oberen Drittel noch erhalten war, die man der Cheopspyramide schon vor Jahrhunderten abgestreift hatte.

Eine Viertelstunde lang führte der Weg durch ein wild zerrissenes Feld halb oder ganz in Trümmer liegender Mastabas, wie man die Grabstätten reicher und vornehmer Ägypter aus der Zeit der Pyramidenbauer, d. h. der vierten und fünften Dynastie des alten Reiches nennt. Sie waren alle schon erbrochen und dann wieder verschüttet worden. Da und dort gähnte noch das viereckige Loch eines senkrechten Schachts, durch den man mit Stricken und Leitern in die unterirdischen Grabkammern hätte gelangen können. Da und dort zeigten sich noch die Spuren der Gebetskapelle, die in den Oberbau der Mastaba eingebaut gewesen war. Überall lagen gebleichte Knochen und viertausend Jahre alte Fetzen von Flechtwerk oder Lappen und Tücher umher, in denen die verschwundenen Mumien einer Prinzessin oder eines hohen Staatsrats eingehüllt gewesen waren, um ihnen eine anständige Auferstehung zu sichern.

Nach einer Wendung gen Süden, über sanft ansteigenden Grund, den in allen Richtungen die Reste ähnlicher Grabdenkmale bedecken, standen die beiden Forscher an einer senkrecht abfallenden Felswand, welche nach der nördlichen und westlichen Seite hin die aus dem lebenden Gestein ausgehauene Fläche begrenzt, in deren Mitte die Chefrenpyramide aufsteigt. Durch einen Riß in dem Felsen, der ihnen wohlbekannt schien, kletterten die Esel mit unerwarteter Gewandtheit hinunter. Erst dann konnte man bemerken, daß auch diese Felswand von Zellen und Grabkammern durchbrochen war, deren nicht allzu tiefes Innere mit seinen kühlen Schatten zu kurzer Rast förmlich einlud. Buchwald, dessen Neugier in steigendem Grade erwacht war, je weiter sie in der lautlosen Totenstadt vordrangen und der sich kaum zurückgehalten hatte, in den einen oder andern der pechschwarzen Schachte der Mastabas hinabzuklettern, sprang aus dem Sattel und betrachtete sich das Innere der Kammern. Man konnte durch niedere, schmale Öffnungen bequem eintreten. Im Innern war der Boden von weißem, glänzendem Sand fußtief bedeckt. An den meisten Wänden zeigten sich Spuren hieroglyphischer Inschriften. In zwei der größten Gelasse, ungefähr in der Mitte der westlichen Felswand fand er bildliche Darstellungen, die trotz des weichen Kalksteins, in den sie eingegraben sind, die merkwürdige Klarheit des Ausdrucks und Bestimmtheit der Formen bewahrt hatten, welche man überall an ägyptischen Kunstwerken der ältesten Zeit bewundert. Es war die Darstellung eines Festes, ohne Zweifel eines Hochzeitsfestes, die man dem oder der Toten zur freundlichen Erinnerung an ihr diesseitiges Leben auf die lange Wanderung mitgegeben hatte. In der benachbarten Kammer, in welche man auch unmittelbar durch die durchbrochene Trennungswand gelangen konnte, waren an der einen Wand die Spuren einer Gazellenjagd, an der andern ein Geflügelhof mit militärisch aufmarschierenden Gänsen und Hühnern deutlich zu erkennen. Auch Thinker war etwas zögernd und kopfschüttelnd eingetreten, befreundete sich aber rasch mit den lebenslustigen Bildwerken, mit denen die alten Ägypter ihre Toten zu umgeben pflegten.

»Diese beiden Kammern gehörten sicherlich zusammen«, meinte er nach einigem Studium. »Vielleicht war das Gemach mit der Hochzeit der Frau, das mit den Gazellen und Gänsen dem Mann gewidmet; oder umgekehrt. Wer weiß, wie sich damals das Verhältnis zwischen Mann und Frau gestaltet hatte.«

»Heute sind es jedenfalls zwei vortreffliche Stübchen«, sagte Buchwald, »in denen ein paar Einsiedler kühler und besser aufgehoben wären, als in Zelten.«

»Wahrhaftig, Sie haben recht!« rief der Doktor mit jugendlicher Begeisterung. »Sie sind mein guter Engel, lieber Buchwald! Seit dreißig Jahren war es der Traum meines Lebens, in einer ägyptischen Totenkammer wohnen zu dürfen. Wir wollen keine Minute verlieren, einzuziehen. Ihr Esel scheint mir der jüngere zu sein. Wollen Sie mir den unbezahlbaren Gefallen tun, die Karawane herbeizurufen. Hier wollen wir unsere Hütten bauen oder vielmehr dankbar anerkennen, daß sie vor viertausend Jahren für uns gebaut wurden. Der frühere Besitzer scheint spurlos verschwunden zu sein. Um so besser. Ich werde mich an das Eingangsloch setzen, damit uns niemand diese herrlichen Wohnungen wegschnappt. Sie stammen zwar sichtlich aus den Tagen des Chefren oder seiner Nachfolger, nicht mehr aus der heiligen Zeit der ersten, der großen Pyramide. Aber man muß auch mit Modernerem zufrieden sein, wenn das Wahre, das ganz Alte nicht zu haben ist. Eilen Sie! Hier auf diesem Stein finden Sie mich, wenn Sie wiederkommen. Ein herrliches Plätzchen! Ich sehe gerade noch hinter Chefren die stolze Kante von Cheops gen Himmel steigen. So etwas wie eine Jakobsleiter. Dieser Stein sei mein Stein, für alle Zeiten!«

Buchwald ritt zurück und hatte die Bedenken Ibrahims mit gewohnter Energie in fünf Minuten überwunden, so daß das im spärlichen Schatten eines Felsblocks auf dem Sand ausgebreitete Tischzeug wieder in die Körbe verpackt werden und auf die Wanderschaft gehen konnte. Auch das Kamel geruhte, murrend sich zu erheben und seine Last um einen Kilometer weiter zu tragen. Schwieriger war es, die arabische Gesellschaft zu überreden, daß die zwei Grabkammern zum Hausgebrauch eingerichtet werden sollten. Es sei sicher, erklärte Ibrahim, als berechtigter Wortführer des gesamten Gefolges, einschließlich der Einwohnerschaft von Kafr, die die Karawane hartnäckig begleitete und sich, wenn auch in achtungsvoller Entfernung, um den Eingang der Grabkammern niederließ –, es sei sicher, daß zahllose Afritis und Wüstenteufel diese Kammern besuchen, die Betten umstürzen und jedermann in den Tod erschrecken würden. Auf Thinkers Vermittlungsvorschlag verstand sich endlich Buchwald dazu, Ibrahim zu gestatten, die Zelte in einiger Entfernung auf der Höhe des Tafellandes aufzuschlagen; dort sollten sie der besorgten Dienerschaft zu freier Benutzung überlassen bleiben. Damit war der Friede hergestellt. Man konnte an die Arbeit gehen.

Die beiden Feldbetten wurden auf den dringenden Rat des Dragomans in der Hochzeitskammer aufgestellt, der Teufel wegen, die sich vor zwei Herren doch eher scheuen würden, als wenn sie jeden einzeln in getrennten Kammern erwischten. Er selbst könne unter keinen Umständen in unmittelbarer Nähe schlafen. Herr Buchwald brauche dem Afrit, wenn er etwas auf arabisch sagen sollte, ja keine Antwort zu geben. Er werde das Zelt mit dem Koch und dem Sais teilen; im geräumigeren Herrenzelt könne man dann die Esel sehr gut unterbringen. – Die zweite Kammer wurde durch die Aufstellung des Feldtischchens und der zwei Stühle, – durch die drei stattlichen Koffer der Reisenden, sowie durch den Theodolit- und den Malkasten in einen eleganten Salon umgewandelt, dem das Aufhängen von Thinkers Rasierspiegel – die Messer hatte der Gelehrte allerdings vergessen – einen wohnlichen Charakter verlieh. Nicht weniger geschickt hatte der Koch in einem etwas entfernteren kleinen Loch eine Kohlen- und Speisekammer eingerichtet und vor demselben nach allen Regeln der Kunst einen Kochherd aufgebaut, zu dem er ein Ofenrohr aus Kairo mitgebracht hatte. Auf dem oberen Plateau in der Entfernung von fünfzig Schritt schlug indessen der Sais mit den Eselsjungen, unterstützt von den Ratschlägen der Eingeborenen, die beiden Zelte auf. So konnten schon nach einer Stunde die neuen Höhlenbewohner ihre nachgerade sehr notwendig gewordene erste Mahlzeit vor der Tür ihrer Gräber abhalten und in dieser Weise ihr neues Heim mit hoher Befriedigung einweihen.

Trotz Ibrahims lebhafter Mißbilligung wurden nach Tisch fünf von den acht Eseln und das Kamel nach Kairo zurückgeschickt. Ganz erfolglos dagegen blieb die zum sechstenmal wiederholte Ermahnung, die man an die Einwohner von Kafr richtete, nach ihrem Dorf zurückzukehren, da jetzt wirklich nichts mehr zu sehen sei. Dann, eine Stunde vor Sonnenuntergang, schwangen sich die beiden Anachoreten – wie Buchwald sich und seinen Freund benannte – noch einmal in den Sattel, um ihren Umritt über das Pyramidenfeld zu beenden.

Nur dreihundert Schritte weiter nach Süden stand Menkauras Grab, die kleinste der drei großen Pyramiden. Obgleich kaum halb so hoch als die beiden anderen und mannigfache Spuren vandalischer Mißhandlung aufweisend, war es noch immer ein gewaltiges Bauwerk, das sie, an seiner westlichen Seite hinreitend, umkreisten. Hier, in der südwestlichen Ecke der gewaltigen Gräberstätte des ältesten Memphis, von wo aus sich die einsame Wüste ins Unendliche zu verlieren scheint, stehen in einer Reihe noch drei kleine Pyramiden, ähnlich den dreien, die sich an der Ostseite der Cheopspyramide befinden: namenlose Gräber von großen Prinzen und Fürsten, die heute vergessen sind. Weiter, vorbei an den tief im Sand versteckten Tempelresten vor der Mankaurapyramide, führen die Spuren eines uralten Steindamms nach Osten, der dazu gedient hatte, die Blöcke von den Steinbrüchen am jenseitigen Nilufer nach den Baustellen der südlicheren Pyramiden zu bringen. Links von diesem Wege fällt der steinige Grund in Form einer Felswand plötzlich ab. Auch sie ist von zahlreichen Grabhöhlen durchbrochen, deren Wände teilweise von Hieroglyphen und bildlichen Darstellungen bedeckt sind. Noch etwas weiter nördlich, im Sand fast völlig begraben, liegen die Reste des Tempels vor der Chefrenpyramide. Von dort, abermals nach Osten sich wendend, fand Thinker nicht ohne einige Mühe den gähnenden Schacht von ›Campbells Grab‹, der größten und eigentümlichsten offenen Grabstätte des ganzen Pyramidenfeldes. Der törichte Name stammt von einem englischen Konsul in Kairo, der an der Aufdeckung des Denkmals im Jahre 1837 beteiligt gewesen war. Ein weiterer Schacht, annähernd neun Meter im Geviert, von glatten, senkrechten Felswänden gebildet, zeigt heute in einer Tiefe von sechzehn Metern den mit Wüstensand gefüllten Grund, aus dem heraus der schwarzgrüne Kopf eines Mumiensarges stumm und starr in das offene Blau des Himmels emporblickt. Rings um diesen Schacht, ein zweites größeres Quadrat bildend, führt eine gewaltige Grube, mit ebenfalls senkrechten Wänden und von einer Tiefe, daß ihr Boden bei Hochwasser vom Nil überschwemmt werden könnte, wenn eine tunnelartige Verbindung mit der Sohle des Niltals hergestellt wäre. Es würde dann das eigentliche Grab auf einer kleinen künstlichen Insel stehen und in eigentümlicher Weise mit der Beschreibung übereinstimmen, die Herodot vom Grab des Cheops gibt. Lange stand der Doktor schweigend am Rand dieses Schachtes, in dessen jetzt halbdunkle Tiefe man nicht ohne hohe Leitern hätte gelangen können.

»Ich weiß«, sagte er endlich, »die sogenannten Gelehrten unserer Zeit, die Ägyptologen, sind anderer Ansicht. Aber wie leicht ist es, in diese Felswände, hunderte von Jahren später, Inschriften einzumeißeln, die alle Zeitrechnung in Verwirrung bringen müssen. Die einzige Hieroglypheninschrift, die heute die große Pyramide befleckt, stammt von Ihrem Lepsius, der, wie es den Anschein hat, seine Persönlichkeit und die seines Fürsten an dem Bau des großen Hirtenkönigs zu verewigen hofft. Wer weiß, ob es ihm nicht gelingt. In dreitausend Jahren finden die sogenannten Gelehrten einer kommenden Kultur vielleicht die Inschriften dieser Größen von heute, und flugs werden sie sich beweisen, daß unzweifelhaft ein Berliner die größte Pyramide gebaut habe. Das ist der gewöhnliche Lauf der Dinge. Früher hieß es: wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun. Wir sind weiter gekommen: wenn die Könige bauen, setzen sich die Kärrner in ihre Tempel!«

Der Doktor sprach mit einer Entrüstung, die Buchwald in Erstaunen setzte. Er fuhr fort:

»So ist es ohne Zweifel auch mit diesem Grab gegangen. Hier schläft Cheops und kein anderer; hier ruht das göttliche Werkzeug, das die große Pyramide schuf, im Schatten des wunderbarsten Werkes, das je von Menschenhänden gebaut wurde.«

»Aber«, wagte der Maler einzuwenden, »man glaubt doch allgemein, daß Cheops in seiner Pyramide begraben liegt und weiß, daß er sie zu diesem Zweck erbaut hat.«

»Weiß man das? Man glaubt allgemein!« rief der Doktor bitter. »Haben Sie noch nie bemerkt, daß die größten Lügen am allgemeinsten geglaubt werden? Man lärmt und posaunt, man schreit und schreibt und daraus entsteht der Glaube der Welt. Sehen Sie hinab in diesen Schacht. Sehen Sie das ernste starre Antlitz, daß seit Jahrtausenden vorwurfsvoll, aber stumm gen Himmel sieht. Dort unten liegt die Wahrheit. Das ist Cheops.«

Er gab seinem Esel ein paar heftige Stöße mit dem sporenlosen Stiefel und ritt weiter. Über der Kante des nächsten Sandhügels ragte der Kopf der Sphinx hervor, vor der sie nach wenigen Minuten abstiegen. Der aus dem lebendigen Felsen gehauene Riesenleib, den man vor Jahrzehnten ausgegraben hatte, war bis an die Schultern wieder im Sande versunken. Ernst und schweigend sah das verstümmelte Angesicht dieses Wächters des Totenfeldes nach Morgen, wo jetzt, in mächtigem Bogen, der Schatten des Abendhimmels heraufzog, unter dem noch die kahlen Berge von Tura, jenseits des Niltals in feurigem Rot erglühten. Das gewaltige Monument der grauesten Vorzeit erschien dem Maler eindrucksvoller als alles, was er heute gesehen hatte. Er erwartete bei seinem Freunde einen neuen Ausbruch geheimnisvoller Begeisterung. Aber er täuschte sich. Thinker sah den starren Kopf neugierig, aber ohne jede Ehrerbietung von allen Seiten an. Dann sagte er, mit müder Stimme:

»Wahrhaftig, ein trauriges Götzenbild; wie jedes andere Machwerk dieser Art, das aus den Verirrungen der Menschheit hervorging. Ja, ja! ein würdiger Wachposten für dieses Totenfeld von Priestern und Königen mit ihrem eitlen weltlichen Treiben, dem sie umsonst den Stempel der Ewigkeiten aufzudrücken suchten. Ist es nicht fast unbegreiflich, daß auf diesem selben Felde auch das Göttliche stehen muß, das nie stirbt und daß dieser stumpfe Koloß sich breit davor hinsetzt, als müßte er bewachen, was niemand zerstören kann?«

»Lieber Herr Thinker«, begann jetzt auch Buchwald, dessen Gewissen nicht länger schweigen wollte: »darf ich in aller Bescheidenheit gestehen, daß ich kein Wort von allem verstehe, was Sie mir sagen. Ich bin ein schlichter Maler. Mir scheint diese Sphinx und alles um sie her ein wundervolles Bild von Tod und Unsterblichkeit, ganz abgesehen von dem indigoblauen Schatten, den sie in den goldgelben Sand wirft. Ich wollte nur, ich hätte den Mut ihn wiederzugeben, wie ich ihn sehe, aber das kommt vielleicht noch. Und dann das duftige Niltal und die rotglühenden Wüstenberge dort drüben, und die Pyramiden, die uns von hinten fast erdrücken mit ihrem lichtflimmernden Dunkel. Herrgott, ist das alles schön!«

Thinker seufzte: »Und hinter all dieser Schönheit liegt so viel, das Sie nicht sehen!«

Wieder bestieg er seinen Esel, drehte dessen Kopf nach Westen, und ritt der untergehenden Sonne entgegen, die die ganze Welt von Pyramiden, Mastabas und Felsengräbern in flimmernden Goldduft hüllte. –

Die Dämmerung war angebrochen, als sie ihre Lagerstätte wieder erreichten. In dem einen der Gräber brannte Licht. Ibrahim und seine Leute hatten die Zeit benutzt, um die häusliche Einrichtung der beiden Kammern in löblicher Weise zu vervollständigen. Ein Wasserfilter stand vor dem Eingang der ›Jagdstube‹ und tropfte schon. Für die Namen der Kammern hatte Buchwald mit Beziehung auf die Wandgemälde rasch gesorgt. Im Innern derselben lagen Strohmatten und auf diesen ein paar Polster und Teppiche. Auf dem Tisch standen unter der Laterne, die aufgehängt war, eine Teekanne und zwei Teetassen. In der ›Hochzeitskammer‹ waren die Betten aufgemacht. Hier und da huschte eine Fledermaus in harmloser Ängstlichkeit pfeilschnell durch das Dunkel. Solch gewalttätige Besucher hatte sie noch nie erlebt.

Für Troglodyten ließ der Tee, dem eine Büchse von konserviertem Rheinsalm den nötigen Halt gab, nichts zu wünschen übrig. Mit schmunzelnder Bescheidenheit nahmen Dragoman und Koch Thinkers Lobsprüche entgegen. Dann brachten sie Teppiche und Polster ins Freie und breiteten sie auf den Felsplatten aus, die das Dach der Grabhöhlen bildeten. Hier legten sich die beiden Einsiedler nieder, um nach der Hitze des ereignisvollen Tages noch ein Stündchen zu verplaudern. Der Mond, eine liegende Sichel, stand fast im Zenit, so hell, daß man die beschatteten Teile seiner Kugelform sehen konnte, die Sterne begannen in ihrer ganzen Pracht aus dem schwärzlichen Blau des Firmaments hervorzubrechen. In matter, gelblicher Dämmerung lag die Welt ringsumher. Sie machte den Eindruck eines Traumes, und nur die zwei dreieckigen Riesenflächen, die in unmittelbarer Nähe zum Himmel stiegen und gespenstische Reflexe des Abendhimmels zurückwarfen, schienen eine fast erdrückende Wirklichkeit zu sein. Buchwald fühlte jetzt erst, in welch fremder Welt er sich bewegte; der Länge nach ausgestreckt, mit der rechten Hand im warmen, zarten Wüstensand spielend, ließ er sich gehen, wohin sie ihn führte. Thinker saß neben ihm, aufrecht, den Blick auf seine Pyramide gerichtet, die, von der Chefrens fast verdeckt, nur zu einem Viertel hinter derselben hervorsah. – Die Dienerschaft hatte sich in die Zelte zurückgezogen, wo sie noch Besuche aus Kafr empfing. Doch nur von Zeit zu Zeit hörte man leises, fernes Gemurmel. Sonst war es todesstill.

»Ich bin froh«, begann der Doktor nach langem Schweigen, »daß wir eine Lagerstätte nicht unmittelbar unter der Cheopspyramide gefunden haben. Allzu nahe könnte ich sie nicht ertragen. Hier können wir plaudern.«

Buchwald schwieg. Er dachte heute zum erstenmal seit längerer Zeit an sein großes Bild, und wie er die hundert Eindrücke des Tages hineinarbeiten könnte.

»Habe ich Sie vielleicht gekränkt, lieber Buchwald«, fuhr der Doktor fort, sich zu ihm wendend. »Ich vergesse alle Augenblicke, daß wir uns in der Hauptsache noch nicht verstehen, nicht verstehen können und daß Ihnen meine Gedanken vielleicht etwas wunderlich vorkommen mögen. Wir müssen noch eine kurze Zeit Geduld miteinander haben.«

Mit Freuden. Bist du nicht ihr Onkel?! dachte Buchwald, mit einem Gefühl, über das er zu anderen Zeiten laut gelacht hätte. Aber er blieb noch immer stumm. Die reine Luft der Wüste war wie Balsam, das bloße Atmen ein Genuß, dem er sich am liebsten ungestört hingegeben hätte.

»Und wir müssen uns verstehen! Ich habe Sie zu lieb gewonnen und kann Sie nicht loslassen!« fuhr Thinker eindringlich fort. »Wollen Sie mich anhören?«

»Gewiß, herzlich gern«, antwortete Buchwald endlich, »wenn Sie mich nicht geradezu zwingen, zu allem ja zu sagen.«

»Ich weiß, was Sie zwingen wird«, sagte Thinker leis.

Buchwald lachte nun wirklich, ein halb schwermütiges, halb fröhliches Lachen. ›Guter, alter Freund, ich weiß es auch; du aber hast keine Ahnung davon‹, sagte er zu sich selbst. Dann flogen seine Gedanken nach Kairo: ›Ob sie wohl zurückgekommen ist? Ben Thinker, der andere Onkel, wurde ja fast stündlich erwartet. Ob sie sich je begegnen würden? Ob es nicht eine verrückte Torheit gewesen war, in die Wüste zu fliehen, wie ein Anachoret aus der ersten Christenzeit.‹ Er empfand es jetzt tief: dazu war er kaum reif.

»Sie sinnen darüber nach«, hub Joe Thinker zuversichtlich an, »was vor den andern Pyramiden, die uns hier umgeben, an dieser ältesten so wunderbares sein soll. Daß sie ein paar Dutzend Fuß höher ist als die zweite kann uns nicht in dieser Weise ergreifen. Auch ihre Beziehungen zur Zahl Pi, von denen ich Ihnen in Schubra sprach, so rätselhaft und einzig sie sein mögen, sind kein genügender Grund für die Verehrung, mit der sie uns erfüllt. Merkwürdig, fast unheimlich merkwürdig sind dagegen die zahllosen Anzeichen, daß dieses Bauwerk aus einem andern Geist hervorging, als alles andere, das uns hier umgibt. Überall auf unserem Umritt sahen wir die Spuren eines phantastischen Heidentums, die Hieroglyphen einer Priesterkaste, welche die Menschen von Täuschung zu Täuschung führte. In und an der großen Pyramide ist nicht ein Fleckchen von all dem: kein Götterbild, kein Zeichen, kein Wort, das sie mit dem Wahnglauben der alten Ägypter in Verbindung brächte. Rein steht sie da, scheinbar stumm und wortlos und doch die größte unter allen, und die beredteste.

Auch das ist merkwürdig: In allen Nachrichten, die uns die Vergangenheit überliefert hat, wird sie als das älteste Bauwerk ihrer Art bezeichnet, und nichts fand sich bis jetzt, das diese Tatsache erschüttert hätte. Gewiß, sie ist auch zeitlich die erste Pyramide, die als Riesenmarkstein an die Schwelle der Menschengeschichte gestellt wurde. Zeigt irgendwo sonst die Entwicklung der Baukunst eine ähnliche Erscheinung? Langsam, in zahllosen, ungeschlachten Versuchen, wachsen die Formen der Tempel und Paläste von Indien und Mexiko, von Griechenland und Rom herauf, erst nach Jahrhunderten, in leicht zu verfolgenden Stufen erreichen sie ihre Vollkommenheit, soweit sie derselben fähig sind. Hier steht das Gewaltigste, das Vollkommenste unvermittelt, wie aus dem Nichts geboren vor uns, und alles was nachfolgt, wird schlechter, unbedeutender, nichtssagender in Plan und Ausführung. Chefrens Pyramide steht der uralten am nächsten, aber sie schon ist kleinlicher und weniger vollkommen. Dann kommt Menkaura und stellt einen aufgeblasenen Zwerg an die Seite der zwei Riesen. Was aber nun folgte, läßt sich gar nicht vergleichen mit dem Wunderbau aus der Heroenzeit.

Sie haben lange herumgeraten und herumgedoktert, die französischen Gelehrten zu Anfang des Jahrhunderts, und nach ihnen Doktoren aus aller Welt, bis sie in den Hieroglyphen lesen konnten, welch große Kinder diese Lügenschreiber in Stein gewesen sind. Sie raten und dozieren sich noch immer von einem Mißverständnis ins andere. Ist es zu verwundern, wenn wir Nachgeborene ein Jahrhundert länger ratlos vor der Riesenschrift stehen, die dort drüben im Mondschein glänzt und im Innern der Pyramide eingebaut ist, greifbar, unzerstörbar und doch so, daß sie seit Jahrtausenden niemand ahnte. Ähnlich der Schrift, die in flimmernden Punkten den Nachthimmel über uns bedeckt und die heute noch kein Mensch zu entziffern vermag. Wir armen Erdenwürmchen wissen ja nicht einmal, daß es eine Schrift ist, die das Hallelujah der Gottheit verewigt, ganz – fast ganz wie es in der Pyramide geschieht. Es waren zwei verschiedene Griffel, dort oben und hier unten. Es ist dieselbe Hand, die sie führte, und wunderbar über alles: es ist derselbe Geist, der aus den Sternen und aus den Steinen spricht.

Sie haßten den Erbauer der Cheopspyramide, die alten Ägypter. Das sagt uns Herodot und alle andern Überlieferungen. Nichts ist wahrscheinlicher; nichts bestätigt mehr, was wir heute fühlen. Das Volk, das vor Krokodilen und Katzen auf den Knien lag, mußte ihn hassen. Denn er kannte die Wahrheit, und verkündigte sie in unzerstörbaren Felsblöcken denen, die seine Schrift zu lesen vermögen. Und einiges, nicht alles, weit nicht alles, haben wir entziffert, lieber Freund!«

Thinker, der bis hierher leise wie mit sich selbst gesprochen hatte, wandte sich plötzlich mit fast zitternder Stimme an den Maler, den die Erregung des Doktors zur Aufmerksamkeit zwang. Jene geheimnisvolle Kraft, die in einer Überzeugung liegt, packte auch ihn, fühlbar.

»Darf ich Ihnen, in der Stille dieser Nacht, angesichts des Riesenwerks, das Sie mit mir verehren, einiges daraus vorlesen?« fragte Thinker.

»In diesem Halbdunkel?« rief Buchwald erschrocken, aber so sanft als möglich. »Lieber Herr Thinker – Ihre Augen!« –

»Nicht aus Büchern!« sagte der Doktor rasch und fast verächtlich; »aus der Schrift die dort drüben, schwarz und schweigend gen Himmel ragt. Darf ich?«

»Lesen Sie!« rief Buchwald, dem es nie schwergefallen war, auf alle Phantastereien einzugehen, denen er begegnen mochte.

»Aber Sie müssen den Kopf zusammennehmen«, sagte Thinker sich aufrichtend. Er hatte während der letzten Viertelstunde flach auf dem Rücken gelegen und in den Sternenhimmel hineingesprochen.

»Das hätte ich kaum vermutet«, versetzte Buchwald und fühlte, wie ihm die Selbstironie wieder zu Kopf stieg; auch wie nötig dies war.

»Wehe dem Mann, der im Chor der Spötter sitzt«, rief Thinker; doch lächelte er dabei freundlich. »Ich habe auch das ertragen lernen. Es war nicht die leichteste der Prüfungen, die mir meine Forschungen auferlegten. Jetzt aber tun Sie, was ich Sie zu tun heiße: Nehmen Sie die doppelte Länge der Seite der Pyramide, oder, was das gleiche ist, den Umfang eines Kreises, dessen Halbmesser der Höhe der Pyramide gleichkommt. Teilen Sie diesen Umfang in 356,26 Teile, genau in so viele Teile, als das irdische Sonnenjahr Tage hat, so haben Sie die Länge des Pyramidenmeters, des Maßes, auf das alle Abmessungen im Innern und Äußeren der Pyramide begründet sind. Der Pyramide und des Weltgebäudes! Denn zunächst, um in unserer Nähe anzufangen, ist der Pyramidenmeter genau der fünfhunderttausendste Teil der Polarachse der Erde. Soll ich Ihnen die ans wunderbare grenzende Genauigkeit dieser Angabe, soweit sie die neuesten astronomischen Forschungen zu bestätigen vermögen, im einzelnen nachweisen? O daß wir meinen Freund Piazzi Smyth hier hätten!«

»Nein, nein!« bat Buchwald. »Ich glaube es. Ich glaube alles, was Sie mir in diesen ungeheuren Zahlen sagen.«

»Fünfhunderttausend Pyramidenmeter ist also die Länge der Polarachse unserer Erde. Fünf ist nämlich die heilige Zahl, die sich durch den ganzen Pyramidenbau zieht«, sagte Thinker feierlich.

»Ich erinnere mich!« fiel Buchwald eifrig ein. »Die fünf Weiber im Boot zu Gise und die fünf« – er stockte weislich. Es wollte sich, dem Ernst des Doktors gegenüber, nicht gut machen, der fünf Esel zu gedenken, auf die sein Freund bei der Überfahrt selbst hingewiesen hatte. Es hätte nichts geschadet, denn der Gelehrte fuhr unbeirrt und erfreut über die selbsttätige Aufmerksamkeit seines Schülers eifrig fort:

»Wieviel Spitzen hat die Pyramide? – Sie zaudern? – Fünf! Vier an den Ecken ihrer Grundfläche und eine, die wichtigste: die Spitze oder Ecke, die gen Himmel sieht. Seit Menschengedenken ist vier die Zahl alles Irdischen, Geschaffenen; eins, die heilige Einheit aber, die Zahl, der Name Gottes, des Einen. So deckt schon die äußere Form der Pyramide alles was ist: Gott und Welt. – Ich weiß, Sie denken, das sind symbolische Spielereien. Leugnen Sie nicht! Ich verzeihe Ihnen. – Aber ist nicht alles um uns her Symbol und Gleichnis?

Unsere Feinde sind allzu geneigt, der Tatsache keine große Bedeutung beizulegen, daß die Pyramide mit ihren vier Seiten genau nach den vier Himmelsgegenden gestellt ist. Schon uralte Völker hatten ja einen annähernden Begriff von Süd und Nord, Ost und West. Eine Genauigkeit aber, wie sie in diesem riesigen Bauwerk vor uns steht, die nach den heutigen Messungen – und wer weiß, wie falsch sie sind – nur eine Abweichung von vier Minuten vermuten läßt, war für jene Zeiten eine einfach unbegreifliche Leistung. Weit erstaunlicher aber ist ein Winkel, der im Innern der Pyramide zur Darstellung kommt, das ich hier ungern heute schon erwähnen muß. Ein sonst unerklärlicher Kanal führt von der sogenannten Königskammer durch das ganze fest gelagerte Mauerwerk des Baus in genau nördlicher Richtung nach oben und zwar unter einem Neigungswinkel von dreißig Grad, soweit die bis jetzt bekannten Messungen zuverlässige sind. Dreißig Grad aber ist der Breitengrad des Punktes der Erde, auf dem die Pyramide steht, oder war es vielmehr mit absoluter Genauigkeit zur Zeit ihrer Erbauung, wenn man die kosmischen Änderungen in Betracht zieht, welche die genauesten modernen Beobachtungen der letzten hundert Jahre mit Sicherheit ergeben haben. All das war in diesem Felsenbau eingeschrieben, Tausende von Jahren, ehe das weiseste Volk des Altertums eine Ahnung von der Kugelgestalt der Erde oder gar von der Ekliptik der Erdbahn hatte. Und gerade an dieser Stelle unter dem dreißigsten Grad mußte die Pyramide erbaut werden, dem wichtigsten der bewohnten Erde, weil hier die Lebensbedingungen die günstigsten sind, die sie dem Menschen bietet, weil deshalb auf dieser Linie naturgemäß der Mittelpunkt, der Schwerpunkt des Menschengeschlechts zu suchen ist, soweit es sich auf dem Erdball verbreitet hat.«

Buchwald stöhnte.

»Lieber Herr Doktor«, sagte er demütig, »ich gebe mir alle Mühe, Ihnen zu folgen, aber bedenken Sie, mit wem Sie sprechen, sonst erleben wir noch ein Unglück. Das alles interessiert mich in hohem Grade, mein Kopf aber brennt schon jetzt wie Feuer. Fühlen Sie!«

»Glauben sie, der meine habe nicht gebrannt, seit zwanzig Jahren?« fragte Thinker mit zorniger Geringschätzung. »Wir müssen die Wahrheit hören, auch wenn sie uns wehe tut, und wir sind nicht die ersten, die um der Wahrheit willen leiden. Und hier, angesichts des stummen Zeugen dort drüben tut sie nicht weh. Es ist eine geheiligte Stätte für unsere kleine Erde, wie für das Weltall. Hier berühren sich die Weltteile, die der Menschheit ihre Geschichte gaben. Sie wissen jetzt, daß wir genau im geographischen Mittelpunkt der bewohnten Erde, im Schwerpunkt der gesamten Menschheit stehen? Wählte der alte königliche Werkmeister seinen Bauplatz nicht auch in dieser Hinsicht mit unerklärlicher Weisheit?

Und mit welchen Maßen er arbeitete! Teilen Sie den Pyramidenmeter, der, wie Sie jetzt wissen, das Sonnenjahr verkörpert, in fünf mal fünf, das heißt fünfundzwanzig Teile, so erhalten Sie den Pyramidenzoll. Die Polarachse der Erde mißt fünfhundert Millionen Pyramidenzoll. Dagegen beträgt die mittlere Entfernung der Erde von der Sonne genau tausend Millionen mal die Höhe unserer Pyramide. Tausend Millionen ist zehn hoch neun – (10 9 ) – zwei Zahlen, die in dem Winkel des diagonalen Querschnitts der Pyramide angegeben sind. Es haben nämlich der Sinus und Cosinus dieses Winkels genau das Verhältnis von zehn zu neun.«

Der Maler sprang auf:

»Das geht zu weit, Doktor! Das geht wahrhaftig zu weit!«

»Gewiß; hier berühren wir die Sterne«, sagte Thinker mild. »Warum sollten wir es nicht tun, wenn uns dort drüben in greifbarer Form der Weg gewiesen wird und seit viertausend Jahren gewiesen war. Es geschah nicht um eines Spiels willen. Wir sind zu großen Dingen berufen, wenn wir nur die Augen öffnen wollen.

»Aber es geht zu weit«, rief Buchwald laut klagend. »Es ist spät. Der Mond geht unter. Es wird bald stockfinstere Nacht sein. Ich bitte Sie, Doktor, ziehen wir uns in unsere Gräber zurück. Auch Sie brauchen Ruhe, wenn sie morgen den Theodolit richtig einstellen wollen.«

»Ich glaube, Sie haben recht!« sagte Thinker mit nüchterner, plötzlich völlig veränderter Stimme und folgte Buchwald geduldig, der rasch die Teppiche zusammenraffte und über den mondbestrahlten Sand der Felswand zuschritt, an der sie zu ihrer Höhlenwohnung hinabkletterten.

Kurz danach war der Doktor in der Tiefe der Totenkammer spur- und lautlos verschwunden. Durch die türlose Öffnung und ein viereckiges Loch über derselben, das bei Tage treffliche Dienste als Fenster leistete, fiel der matte Glanz der mondbeschienenen Chefrenpyramide in die Kammern; ließ aber die hintere Hälfte des Gemachs in wohltuender, pechschwarzer Finsternis. Thinker schlief nach wenigen Minuten, als habe er nie ein anderes Schlafgemach besessen. Buchwald fand die ersten Stunden im Grabe, das eben doch nicht sein eigenes war, weniger behaglich. War es die aufregende Gehirnarbeit, die ihm der Doktor zugemutet hatte, war es der leise Mumiengeruch, der alles durchdrang, oder gar das Hochzeitsfest an der Wand, die seine Bettstelle berührte: wunderliche, phantastische Gedanken wollten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen, bis er im Geist an seinem Pyramidenbild zu malen begann und das starre, unerbittliche Felsendreieck sich nach und nach mit Lotosblumen, mit Schilf und Mimosen bedeckte. Etwas später machte der alte Pharao, der Pyramidenbauer, seiner herrlichen Tochter Platz, die den kleinen Moses auf einem englischen Teebrett präsentierte und ein indisches Aussehen annahm, wie die Palmgruppe, hinter der die Pyramide verschwunden war.


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