Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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1. Teil

Wasser

        Vom Himmel kommst du; aus der Erde Tiefen,
Gesegnet Element, quillst du empor.
Kristallhell brichst du aus der Felsen Tor,
Und perlst hernieder, wenn die Gletscher triefen.

Dann, wo erstarrt einst tote Wüsten schliefen,
Regt sich das Leben; grünt und blüht's hervor.
Und Leben – Leben schlägt an Aug' und Ohr:
Das Wunderkind, das deine Kräfte riefen.

Doch wenn die schweren, gelben Fluten schwellen,
Stürzt auch der Tod auf deinen Sturmeswellen
Laut jauchzend übers Land, das du verschlingst. –

Gesegnet Element, lehr uns verstehen:
In Tod und Leben, Wachsen und Vergehen
Liegt erst der ganze Segen, den du bringst.


1. Kapitel
Am Nil

»Hydor men ariston!« rief ich in verzeihlicher Erregung, als mir plötzlich ein dreißig Zentimeter dicker Strahl gelben Nilwassers aus der Rohrmündung entgegenschoß, in deren schwarzen, gurgelnden Schlund ich eine Minute lang sorglich geblickt hatte. Wild sprudelnd füllte die sehnlich erwartete Flut eine Holzrinne, welche sie dem Kanal zwischen zwei frisch aufgeworfenen Erddämmen hinter der Lokomobile zuführte.

»Was?« schrie Fritschy, den Anlaßhebel der Maschine in der Hand, mit dem ganzen verschmierten Gesicht lachend, über das die Schweißtropfen niederrannen. Er glaubte, einen arabischen Befehl nicht richtig gehört zu haben.

»Hydor –!« doch ich faßte mich und winkte dem Mann, der auf der andern Seite des sausenden Maschinenriemens doch nichts verstehen konnte, daß alles in Ordnung sei. Es schickte sich nicht, den Kopf zu verlieren und den Ruf orientalischer Gelassenheit, den ich mühsam zu erwerben begann, leichtfertig aufs Spiel zu setzen. So drängte ich die Erinnerung an halbvergessene Schulzeiten, die mit dem Wasser und der Freude am gelungenen Werk plötzlich aufgestiegen waren, gewaltsam zurück und schraubte mit der Miene selbstverständlicher Gleichgültigkeit die Stopfbüchse der Kreiselpumpe fester, die zu tropfen anfing. Innerlich aber fuhr ich fort, den alten Pindar zu preisen, dessen Verse zweitausend Jahre lang frisch geblieben waren, und mir entgegenbrausten, als hätte er sie gestern gedichtet. Wasser ist das Beste: hurra!

Solch erfrischende Augenblicke kommen nicht alle Tage, aber wenn sie kommen, bezahlen sie für Wochen und Monate afrikanischer Hitze. Wir waren in Thalia, einem Fellahdörfchen am Rosettaarm des Nils zehn Stunden Wegs unterhalb Kairo, dem Mittelpunkt eines der größeren Güter Halim Paschas. Ich hatte hier im Laufe der vergangenen Woche die zweite Zentrifugalpumpe aufgestellt, die sich meines Wissens im Lande der Pharaonen befand, und zwar nach einem Plan, mit dem eine große Schwierigkeit ägyptischer Verhältnisse überwunden zu sein schien. Die erste der damals neuen Wasserhebemaschinen dieser Gattung stand am Nilufer bei Schubra auf mächtigen, senkrecht eingerammten Pfählen, die gewissenhaft nach den ausgesandten Zeichnungen eingerammt waren, ebenso gewissenhaft aber alle vierzehn Tage umfielen, denn die Pumpe selbst saugte den Sand weg, der sie tragen sollte. Schwere und teure Fundierungsarbeiten gestatteten die Verhältnisse aus örtlichen und zeitlichen Gründen nicht. Es war ein Jammer, und nichts wollte helfen. In Thalia hatte ich nun auf die steilgeneigte Böschung des Nilufers, in der Richtung von oben nach unten, zwei gewaltige Balken niederlegen lassen, auf denen die Pumpe je nach dem Wasserstand des Nils in jeder Höhe angeschraubt werden konnte. So ließ sie sich leicht dem Fallen und Steigen des Stromes anpassen und hatte dabei stets trockenen, festen Grund für ihre Auflagerung unter sich: eine Aufstellungsweise, die später im ganzen Land üblich wurde, hier aber das Licht der Welt erblickt hat. – Man weiß bei solchen Neuerungen, so einfach sie scheinen mögen, nie, ob nicht ein boshafter Kobold das Gelingen im letzten Augenblick zu hintertreiben vermag; und die Zeit für Versuche war knapp, denn die Baumwollpflänzchen in den benachbarten Feldern hingen schon sterbend die Köpfe. So war mir das ›Hydor men ariston‹ aus dem Herzen, in dem es seit Jahrzehnten verborgen gelegen hatte, mit dem Wasser in den Kopf gestiegen und herausgesprudelt, ohne mein Wissen und Wollen.

Die modernen Musen, wenn es solche gibt, werden mir allerdings den Anfang dieser Geschichte so wenig verzeihen, als die alten. Jene riechen kopfschüttelnd den altertümelnden Moder, diese naserümpfend die giftigen Schimmelpilze unserer Tage. Doch es ist mir und ihnen nicht zu helfen. Ich erzähle, was ich sah und hörte, wie es unter demselben Himmel seinerzeit der wackere Herodot zu tun pflegte. So fing meine Geschichte an und so wird sie, fürchte ich, auch weitergehen. Niemand braucht heutzutag den Herodot zu lesen, der keine Lust dazu hat; desgleichen andere Bücher.

Es war eine erregte Gruppe, auf welche das rotgelbe Licht der Abendsonne fiel, die als glühender Ball über den Hügeln der Wüste am andern Ufer des Stromes hing. Die buntgemalte englische Lokomobile, die in stürmischer Geschäftigkeit ihr Schwungrad drehte, funkelte und blitzte wie ein lebendiges Wesen, und schickte fröhlich summend eine Säule schneeweißen Rauchs und Dampfes in den tiefblauen Himmel hinauf. Rings um sie her, so nahe als sie zu kommen wagten, standen wohl hundert schwarzbraune Fellachin mit vorgestreckten Hälsen und freudig grinsenden Gesichtern, still noch, etwas erschreckt von dem Wunder, das vor ihren Augen geschah. In der Ferne, entlang dem Nilufer, riefen sich Weiber, ließen ihre Wasserkrüge stehen, um schneller laufen zu können und stießen von Zeit zu Zeit einen jener schrillen Freudentriller aus, als ging's zu einer ihrer Hochzeiten. Kleine nackte Jungen erfaßten die praktische Seite der Sache, und hüpften wie Frösche in den sich füllenden Kanal, der die dickgelbe Wassermasse dem nächsten Felde zuführte. Einer der Saise›Sais‹ nennt man die Hausdiener, welche für Pferde und Esel zu sorgen haben. Beim Ausreiten oder Ausfahren rennen sie als Läufer, mit großen Stöcken bewaffnet, vor den Pferden her. Im Hause werden sie auch zu andern Dienstleistungen gebraucht. Vornehme Personen lassen sich häufig von zwei Saisen begleiten. des Dorfschechs machte mit seinem langen Amtsstock vergebliche Versuche, die noch losen, frisch aufgeschütteten Kanaldämme zu verteidigen. War ein Junge gezwungen, die Flucht zu ergreifen, so warfen sich in kleiner Entfernung sechs andere jauchzend in den reißenden Bach. Das war etwas anderes als die müd dahinrieselnden Wässerchen, die von den Schaduffs›Schaduff‹ ist die landesübliche von Hand betriebene Schöpfvorrichtung, mittels welcher das Wasser in mit Lehm gedichteten Strohkörbchen aus Fluß oder Kanal auf das höher gelegene Land geschleudert wird. nach den Feldern sickerten! Selbst die Ochsen an den besten Sakien›Sakie‹ ist eine meist von Büffeln in Bewegung gesetzte Vorrichtung, welche das Wasser aus dem Nil oder aus Brunnenschächten mittels einer endlosen Kette irdener Töpfe hebt. konnten nicht daran denken, einen ähnlichen Strom auf das durstige Land zu gießen. Noch vor einer halben Stunde hatten zwei Burschen, dreißig Schritte von uns, schläfrig singend, ihre an Stricken hängenden Strohkörbchen geschwungen und das Wasser von Stufe zu Stufe in höher gelegene Gräben geschleudert. »Ja Salaam!«›Ja Salaam!‹ Der gewöhnliche Ausruf der Fellachin bei jeder Art von Erregung; wörtlich: ›o Friede!‹ schrien beide, als sich die Maschine zu drehen anfing, warfen ihre Körbe, die seit etlichen Jahrhunderten an derselben Stelle geschwungen worden waren, in die Luft und standen andächtig vor der Mündung des Druckrohrs, das mit ruhiger, stetiger Gewalt das Wasser jetzt wie einen starren Körper aus gelbgrünlichem Glas auswarf. Und wie wenn die Nachricht bis an die fernsten Enden des Gutes durch die Luft geflogen wäre: An seinen fünfzehn Sakien, die sich durch den langen heißen Tag stöhnend gedreht, und das lebenbringende Naß in tönernen Krügen langsam und feierlich aus der Tiefe gewunden hatten, standen wie auf ein verabredetes Zeichen dreißig Ochsen stille, und die fünfzehn dazugehörigen Jungen merkten es nicht. Denn sie liefen schreiend der Stelle zu, wo Rauch und Dampf gen Himmel stiegen und ein fränkisches Ding aus Eisen Wasser spie wie ein Afrit.Afrit, ist ein Gespenst, ein Geist, ähnlich dem germanischen Nix und Kobold. Alles Wunderbare, alles was sie erschreckt, schreiben Fellachin ohne weiteres einem Afrit zu. Die Ochsen aber sahen sich an. Dreitausend Jahre waren sie im Kreise herumgelaufen; sollte das jetzt wirklich aufhören? Ja Salaam!

Doch alle Aufregung, die dieses weltgeschichtliche Ereignis in Thalia hervorrief, vermochte nicht die ruhige Würde des älteren Fellahs zu stören, der in jenen abgelegenen Landesteilen auch äußerlich den Typus bewahrt hat, welchen uns die tausendjährigen Gräber seiner Vorfahren zeigen. Nicht bloß Leid und Elend, auch Glück und Freude, die der Himmel schickt, trägt er mit einer Ergebung, die uns erregbarere Europäer oft genug beschämt. Voran Ali el Hagar, der weißbärtige, grünbeturbante Schech des Dorfs. Er stand, das Kinn auf seinen Stock gestützt, vor der Pumpe, ein mildes Lächeln auf den nicht unfeinen Zügen, und wartete auf den Kaffee, den sein zweiter Sais zur Feier des Ereignisses zu bereiten bemüht war. Dieser hatte das erforderliche Feuer in dem noch trockenen Kanalbett angefacht und war von der Wasserflut überrascht worden, die niemand erwartet hatte. Dadurch war eine Verzögerung eingetreten, bis ein neuer fliegender Herd aufgebaut und in Tätigkeit gesetzt werden konnte. Fritschy seinerseits, angesteckt von der Erregung, die in der Luft lag, warf eine Schaufel voll Kohle nach der andern in die Feuerbüchse; die Maschine summte und sauste immer eifriger in der Lust ihrer ersten Pflichterfüllung, und ich selbst stand stillvergnügt vor dem übervollen Trog, dem entlang das Wasser nach dem Kanal schoß, wo es ruhiger seinen Weg zum Felde fortsetzte.

Plötzlich kamen von dort her Laute des Schreckens, heftiges, mehrstimmiges Schreien. In wilden Sätzen, sein blaues Hemd unwürdig hoch geschürzt, nahte sich ein brüllender Mann. Schon aus weiter Ferne rief er den Schech um Hilfe und Allah um Erbarmen an; doch war es unmöglich, zu verstehen, um was es sich handele. Mein Dragoman befand sich, wie gewöhnlich, wenn er am nötigsten war, in Beratungen mit dem Koch verwickelt auf dem Dampfer. Fritschy, dessen ›Vulgär‹-Arabisch vulgärer, aber leistungsfähiger war als das meine, schmunzelte zufriedener als je, und warf drei weitere Kohlenschaufeln in den Kessel. Er ahnte wohl, was kommen mußte. Die Maschine spie Feuer und Dampf und die Pumpe schien ihr Saugventil ausspeien zu wollen. Der Kanal, soweit man ihn sehen konnte, war bis an den Rand mit Wasser gefüllt, das mit plötzlich beschleunigter Geschwindigkeit den fernen Baumwollfeldern zueilte.

Mit flehenden Gebärden drang der Fellahbote, mit zornigen Ausrufen der Schech auf den boshaft tauben Maschinisten ein, der, sichtlich um sie zu ärgern, mit gutem Elsässer Deutsch alle arabischen Beschwörungen siegreich abschlug. Auch die Volksmenge wurde jetzt unruhig. Ein Dutzend Leute, mit den unvermeidlichen Hacken und Strohkörben des Fellahs bewaffnet, liefen schreiend und gestikulierend dem Kanal entlang. Sie füllten im Laufe ihre Körbchen mit Erde, und der Schech – jetzt auch er in flehendem Tone – wandte sich an mich:

»Halt, beim Allbarmherzigen, halt! Merkst du nicht, o Baschmahandi, daß wir ersaufen? Die Dämme dort draußen sind gerissen, die Erde schwimmt fort, das Feld steht unter Wasser! Zehn Fadan Baumwolle gehen zu Grunde. Halt, o Baschmahandi. Ein Teufel ist in deiner Pumpe und wird uns alle ersäufen.«

Fritschy, vom bösen Gewissen leicht berührt, gehorchte meinem scharfen »Stop!« mit militärischer Promptheit. Der Schech, den seine würdevolle Ruhe in dieser Krisis verlassen hatte, denn er glaubte kaum mehr, von irdischen Mächten umgeben zu sein, stieß einen tiefen Seufzer aus, sah gen Himmel und sprach feierlich:»Allah sei gepriesen, der dir den Verstand gegeben hat, o Baschmahandi!«

Dann betrachtete er mißtrauisch die Maschine, welche, vom Schwungrad getrieben, noch ein paar behagliche Umdrehungen machte, während der Strom, den die Pumpe ausspie, plötzlich verschwunden war, und das Wasser im Steigrohr gurgelnd zurücksank. Man konnte jetzt in der plötzlich eingetretenen Stille das Sieden im Kessel hören.

»Gott sei Dank, daß du Verstand hast!« wiederholte der wackre Nasir> von Thalia, indem er dicht an mich herantrat, um mir mit einem Seitenblick auf Fritschy ins Ohr zu flüstern: »Er hätte uns alle ersäuft, dein Vekil!›Vekil‹ heißt ein Stellvertreter; gewöhnlich eine sehr wichtige Persönlichkeit. Er ist ein Narr!«

»Er ist ein braver Mann, o Schech«, antwortete ich ernst; »aber du hast ihn in den letzten vier Wochen, seitdem er in Thalia ist, fast verhungern lassen, wie ich höre. Dein Brot war hart und deine Hühner hatten nur Federn und Knochen. Deshalb versteht er nicht mehr, was du ihm sagst.«

»Der Allwissende weiß es: ich habe ihn behandelt wie meinen Bruder!« begann der Alte mit erhobenen Armen.

»Der Allgerechte bestraft, wen er will!« unterbrach ich ihn, im funkelnagelneuesten Arabisch, das ich erst gestern meinem Dragoman abgerungen hatte.

»Ist ein Mensch nicht der Sohn eines Hundes, der mit unreinen Tieren zusammenlebt? Würdest du es glauben: er ist der Bruder von Schweinen!« flüsterte der Schech vorwurfsvoll.

Dann warf er einen scheuen Blick auf die Pumpe, sichtlich befürchtend, daß sie plötzlich wieder Wasser speien könnte. Die wütend abblasenden Sicherheitsventile der Maschine erfüllten ihn mit einer Angst, die er kaum zu verbergen vermochte. Trotzdem entfernte er sich langsam, in gekränktem Schweigen, während die beiden bestockten Saise, den halbfertigen Kaffee im Stich lassend, durch den immer neugieriger andrängenden Fellahhaufen eine Gasse hieben.

»Machen Sie alles zurecht für die Nacht, Fritschy!« sagte ich zu meinem Maschinisten, »oder sehen Sie, daß der lange Achmed dies tut. Er mag als Heizer hier bleiben; er versteht das Geschäft so weit. Lassen Sie ihn morgen mit dem Wasserpumpen anfangen, sobald der Schech seine Kanaldämme wieder aufgebaut hat. Kommen sie auf den Dampfer, sobald Sie zunacht gegessen haben, oder vorher, wenn Ihre Küche leer sein sollte. Wir wollen zu Ehren des Tages die letzte Flasche öffnen, die ich an Bord habe. Sie stammt aus Ihrer Heimat.«

Fritschy war Elsässer und Frankreich zu jener Zeit noch sein Vaterland. Man wußte es nicht besser. – Dann ging auch ich.

 

Mein Dampfer lag hundert Schritte flußabwärts in einer kleinen Bucht des Stroms, dicht am Ufer, das hier überall aus einer Höhe von fünf bis sechs Metern steil nach dem Flußbett abfällt. Oben am Rand dieses Absturzes standen drei mächtige Sykomoren, hinter deren dunklen Zweigen das Weiß der kleinen Moschee des Dorfes mit ihrem verbogenen Minarett hervorschimmerte: ein Bildchen, das sich in Ägypten hundertmal wiederholt, immer aber denselben freundlich-friedlichen Eindruck macht. Ich hatte mir vor drei Tagen diesen Landungsplatz ausgesucht und freute mich allabendlich an der feierlichen Stille, in der der zweifelhafte Heilige schlummerte, dessen Gebeine dort oben unter der halbzerfallenen Kuppel ruhten. Müde, aber leidlich zufrieden mit mir und der Welt kletterte ich auch jetzt an dem fast senkrechten Ufer hinunter. Es war ein glühend heißer Tag gewesen. Am Morgen hatte ein tüchtiger Chamsin›Chamsin‹ heißt in Ägypten der Wind, der in Italien Scirocco genannt wird. die ganze Landschaft in seine gelben Sandwirbel gehüllt, die wie in Schlachtordnung aus der nahen Wüste über den Nil herübertrieben. Nun war es besser. Man spürte von Zeit zu Zeit einen kühlen Hauch von Norden, der in sanften aber scharf getrennten Stößen den Glutwind kreuzte, der von West nach Ost zog. So konnte man auf eine erträglichere Nacht hoffen als die gestrige. Doch war auch die Erregung, mit der ich vor einer Stunde mit dem alten Pindar das Wasser des heiligen Nils begrüßt hatte, schnell verduftet. Das Leben eines Baschmahandis im Delta hat Augenblicke von längerer Dauer, die nicht ohne Mühsal sind.

Im Vorderteil des niedlichen Bootes, das den poetischen Namen ›Schech en nar‹, zu deutsch Feuerschech führte und mir seit zwei Jahren oft genug als Wohn- und Schlafstätte gedient hatte, war mein Koch Mansur, ein Nubier, und der fette Dragoman Abu Sa, Kopte seines Stamms, flüsternd damit beschäftigt, eine Sardinenbüchse zu zertrümmern, während der Reis des Schiffs, von oben herab, durch seine Ratschläge das schwierige Werk förderte. Das geeignete Messer für die Operation war soeben über Bord gefallen, was mir erst zu gelegenerer Stunde mitgeteilt werden sollte. Abu Sa war bei solchen Gelegenheiten stets hilfsbereit. Er fühlte sich verpflichtet, die Oberleitung meiner wandernden Haushaltung in die Hand zu nehmen. Durfte er doch erwarten, daß auch für ihn ein Fischlein oder zwei abfielen, wenn die Büchse glücklich geöffnet war. Ich war's zufrieden. Wären nur seine Finger, die allzuoft als Gabel dienten, etwas weniger braun gewesen.

Im Heck des Schiffs, unter einem luftigen Zeltdach, pflegte ich zu hausen. Dort lagen auf den im Halbkreis angebrachten Bänken etwas abgebrauchte Kissen und Polster, die zwar eine erhebliche Menge Wüstenstaub eingezogen hatten, trotzdem aber ein verhältnismäßig behagliches Lager abgaben. Ich warf sie ein paarmal hin und her, meinen abendlichen Tee erwartend, und machte mir's so bequem, als es gehen wollte. Nach zwei Jahren ägyptischen Lebens versteht man sich auf diese Kunst.

Zwei Jahre waren es schon! Wie die Zeit fliegt in diesem Lande, in dem man auf Schritt und Tritt nach Jahrtausenden rechnet! Der Zufall wollte es, daß ich damals fast gleichzeitig mit dem Vizekönig Ismael Pascha, der von seiner Investitur und seinem ersten Besuch in Konstantinopel zurückkam, in Alexandrien ans Land stieg mit der Absicht, es nach wenigen Wochen wieder zu verlassen. Dies kam aber anders: Der Orient mit seinem Fatum griff zum erstenmal in mein junges Leben, und tat einen guten Griff. Ein paar Tage vor meiner Abreise nach Suez wurde klar, daß es mir bestimmt war, auf unbestimmte Zeiten, zunächst auf vier Jahre, in Ägypten zu bleiben und ursprüngliche indische Pläne und Verpflichtungen über Bord zu werfen. Den Interessen der Dampfkultur, denen ich seit einigen Jahren schon in England Leib und Leben geweiht hatte, konnte ich vorläufig am Nil besser dienen, als am Ganges. Doch dies ist eine Geschichte, die nicht hierher gehört, wenn es mir auch Vergnügen machte, auf zerrissenen arabischen Kamelstaschen ausgestreckt sie heute wieder einmal in Gedanken zu durchleben. Hatte sie doch ein phantastisches Märchen meiner Jugendjahre in harte, greifbare Wirklichkeit umgewandelt, und mir das Land der Pharaonen zur halben Heimat gemacht.

Seit jener Zeit stand ich im Dienste Halim Paschas. Er war der Onkel des neuen Vizekönigs, der jüngste der Söhne Mohamed Alis, der voraussichtliche Thronfolger; damals auch der größte Grundbesitzer des Landes und der einzige der königlichen Paschas, der sich mit Lust und Liebe um seinen Grundbesitz kümmerte. Durch ihn war der erste ägyptische Dampfpflug in Schubra in Tätigkeit gekommen und es war zunächst meine Aufgabe geworden, für die weitere Entwicklung der Dampfkultur am Nil zu sorgen. Ein halbes Jahr später wurde ich Baschmahandi, d. h. Oberingenieur sämtlicher Besitzungen des Paschas, die vom Fuß der Syenitberge Edfus in Oberägypten bis in die Sümpfe des Deltas bei Damiette über das Land zerstreut lagen und im Sturmschritt unserer Zeit einem großartigen Aufschwung entgegengeführt werden sollten. Der Baumwollanbau lieferte in jenen Jahren während des Bürgerkriegs in den Vereinigten Staaten glänzende Erträge und verschaffte scheinbar ohne Schwierigkeit die gewaltigen Geldmittel, welche zunächst erforderlich waren, um die Landwirtschaft Ägyptens den neuen Verhältnissen anzupassen. Das ganze Land schien von einem wilden Fortschrittsdrang ergriffen zu sein; nirgends aber war derselbe in so verständiger, zielbewußter Weise zur Tat geworden, als auf Halim Paschas Gütern. Es war eine Freude, mitten in diesem Getriebe zu stehen.

Schubra, ein Dörfchen vier Kilometer von Kairo, war der Wohnsitz Halims, dessen Vater einen Palast am Ufer des Nils gebaut hatte, der den Mittelpunkt eines großen Gutes bildete. Dort pflegte der greise Despot seine eigenen landwirtschaftlichen Versuche anzustellen. Ich wohnte wenige hundert Schritte davon in einem Gartenhaus, das einst für eine Molkereianstalt erbaut worden war, umgeben von einem Wald von Orangenbäumen, Dattelpalmen und Tamarisken. Aber ich war selten zu Hause. Mein unruhiger Beruf führte mich in die abgelegensten Teile des Landes, und alle Mittel der Fortbewegung, allerdings häufig nicht die behaglichsten, standen mir jederzeit zur Verfügung. Unter anderen auch das kleine Dampfschiff, auf dem ich wochenlang halb im Freien hauste, denn so niedlich es gebaut war und so tapfer seine kleine Maschine jede Strömung des Flusses überwand, es hatte eine Puppenstube statt der Kajüte und war ursprünglich nur für kurze Vergnügungsfahrten bestimmt gewesen.

Wichtiger fast als die Dampfpflügerei, die mich im ersten Jahr völlig in Anspruch genommen hatte, wurde mir im zweiten die Aufgabe der Bewässerung des Landes, das in immer größerer Ausdehnung der Kultur gewonnen werden sollte. Die Einrichtungen hierfür, die seit tausend Jahren genügt hatten, wollten nirgends mehr ausreichen. Wasser ist die Frage aller Fragen Ägyptens, und auch für sie suchte unsere Zeit neue Lösungen. In Schubra, nicht weit von meinem Hause, stand die erste größere Dampfpumpe des Landes, die noch aus Abbas-Paschas Zeiten stammte. Überall entlang dem Nil begannen Schornsteine aus dem Boden zu wachsen. Man sprach schon von vier-, sechshundertpferdigen Pumpen. Der Vizekönig hatte eine ganze Anzahl derartiger Maschinen für Mittelägypten bestellt. Hier bot sich ein reiches Feld auch für neues Schaffen. Die schweren Pumpenanlagen verschlangen Millionen. Ihre Fundamente in dem grundlosen Sand des beständig wechselnden Strombettes, die ausgedehnten Kanalanlagen zur Verteilung des Wassers über große Flächen waren schwere Nachteile des Systems, nach dem man in der Not des Augenblicks greifen mußte. Ich hatte dies im Norden bei Teranis und im Süden zu El Mutana selbst erfahren, und drängte auf kleine, leicht versetzbare Anlagen, wofür die Zentrifugalpumpe, die im Anfang der sechziger Jahre noch wenig verbreitet und am Nil völlig unbekannt war, der richtige Typus schien. So kam die erste Maschine dieser Gattung nach Schubra, die zweite nach Thalia und ich sah im Geiste schon Hunderte entlang den Ufern des Stroms und tausende in den alten Brunnenschächten der Sakien, von denen fünfzigtausend über das Delta verbreitet sind. – Mein Tee schmeckte wohl ein wenig nach Nilwasser und die Sardinen waren übel zerrissen aus ihrer Büchse gekommen. Aber eine Lebensaufgabe wie diese hätte Schlimmeres erträglich gemacht, und ich war noch jung genug, an Zukunftsbilder zu glauben und mich von ängstlichen Zweifeln nicht beirren zu lassen.

Allerdings war es eine uralte Aufgabe, die schon vor viertausend Jahren manchem klugen Pharao das heiße Blut in den Kopf getrieben haben mochte, wie mir in diesem Augenblick. Damals waren die Ingenieure noch Könige, wie es auch heute nur recht und billig wäre, und regierten Land und Wasser mit autokratischer Gewalt. Welches Geschlecht, wenn man bedenkt, mit welchen Mitteln sie ihre Welt schufen! Eine Übersetzung des ältesten Baedekers, den ein gewisser Herodot herausgegeben hatte, begleitete mich auf allen Kreuz- und Querfahrten zwischen Assuan und Alexandrien. Da Fritschy mich warten ließ und mein Tee sich bereits dem Ende zuneigte, schlug ich ihn auch jetzt auf. Es war ein allabendlicher Genuß, mir einzubilden, daß ich heute wieder in die Fußstapfen des klugen, wenn auch etwas vertrauensseligen Weltreisenden getreten war, die ich fast täglich in dieser oder jener kleinen Einzelheit meiner Erlebnisse zu erkennen glaubte. In Alexandrien und Kairo sind diese Spuren allerdings etwas verwischt. In Thalia, in Schirbin, in Kaffr Schech, Punkte, die der neue Baedeker als nicht lohnend übergeht, sind sie noch deutlich im harten Nilschlamm zu sehen, der nach Jahrtausenden der alte geblieben ist.

Das halbzerfetzte Bändchen öffnete sich von selbst an einer wohlbekannten Stelle. Dies hatte seinen guten Grund: die Seite war abgegriffener als alle andern. Sie hatte mich hypnotisiert, seitdem ich die erste Tonne Nilwasser auf das steinharte Land fließen sah, das meine Dampfpflüge aufbrechen sollten. Und so las ich, schon halb im Mondschein, vielleicht zum zehnten Male:

›Wiewohl das Labyrinth ein wahres Wunder ist, so stellt sich uns doch der in seiner Nähe befindliche Mörissee als ein noch größeres dar. Denn sein Umfang ist 3600 Stadien, genau so groß als die ganze Meeresküste Ägyptens. Der See erstreckt sich von Norden nach Süden und hat eine größte Tiefe von 50 Klaftern. Daß er von Händen gegraben ist, läßt sich leicht erkennen. Denn in seiner Mitte stehen zwei Pyramiden, die eine Höhe von 50 Klafter über und 50 Klafter unter dem Wasser haben. Das Wasser im See kommt nicht aus der Erde, die Gegend ist dort ganz wasserarm, sondern wird mittels eines Kanals aus dem Nil hineingeleitet. Sechs Monate im Jahr fließt es in den Nil. Wenn es herausfließt, so bringt die Fischerei während der sechs Monate jeden Tag ein Silbertalent in den königlichen Schatz; wenn das Wasser in den See hineinfließt, so beträgt der Gewinn nur zwanzig Minen.‹

Ganz hatte der gute Herodot den Zweck und Sinn des Riesenwerks zwar nicht erfaßt. Trotzdem konnte er die gewaltigste Bewässerungsanlage, die die Welt je gesehen hat, nicht klarer und überzeugender beschreiben. Nicht um Fische handelte es sich, sondern um die Fruchtbarkeit des gesegnetsten Stückchens Erde der alten Welt. Der Mörissee war der Riesenbehälter, in dem bei hohem Nilstande die überschüssigen Wasser aufgestaut wurden, um sich in der trockenen Jahreszeit befruchtend über Mittel- und Unterägypten zu ergießen. Was waren unsere Pumpen von heute, selbst wenn sie in etlichen Jahren von Tausenden von Pferdekräften in Bewegung gesetzt würden, gegen ein solches Werk? Was muß der Stolz des alten Möris gewesen sein, als sein See zum erstenmal Millionen Tonnen Wasser über das durstige Land fluten ließ, verglichen mit der Freude, die mir vor einer Stunde eine zwölfpferdige Zentrifuge gemacht hat? Wir Jungen fühlen uns so gern als Riesen. Sind wir, im Lauf der Jahrtausende, doch am Ende nur großfühlende Zwerge geworden?

Es wurde zu dunkel. Ich klappte das Buch mit einem Gemisch von Ärger und Bewunderung zu, warf mich wieder auf den Divan zurück und lauschte auf das Plätschern der Nilwellen, die in ruhelosem Takt gegen die Seiten des Bootes schlugen. Oft war's wie ein Flüstern, wie Geplauder, oft wie ein ärgerlicher Ausruf, dann wieder, als erzählten sie sich eine alte, lange Geschichte. Ich verstand sie in der Stille der sinkenden Nacht. Zwerge, du und deine Genossen! murmelte es aus dem Wasser. Vor viertausend Jahren ließen sie uns nicht ins Meer entwischen, wie ihr es tut. Damals mußten wir Kanäle füllen, jahraus, jahrein; Felder bewässern, Mais und Getreide tränken. Pumpt nur! Pumpt nur; wir spüren es kaum. Heute sind wir frei und ziehen, wohin es uns zieht. Pumpt nur, pumpt nur, Zwerge!


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