Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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13. Kapitel
Die feindlichen Brüder

Als sie aus der kleinen Felskluft heraustreten, durch welche man von der Höhe, auf der die Cheopspyramide steht, zu den Höhlenwohnungen hinabsteigt, war es ringsum Grabesstille. Buchwald wurde es fast bange. Hatten die feurigen alten Herren sich bis zur völligen Vernichtung bekriegt oder waren beide nach entgegengesetzten Himmelsrichtungen entflohen, um den schrecklichsten Folgen eines Bruderzwistes zu entgehen? Als er den Eingang zum Jägergrab zu Gesicht bekam, konnte er sich wenigstens hierüber beruhigt fühlen. Sie kehrten sich zwar den Rücken, aber sie befanden sich noch zur Stelle und waren scheinbar wohlauf. Ben saß an dem wieder aufgerichteten Tischchen im Schatten der Felswand und schrieb oder skizzierte mit einem Eifer, den ihm Buchwald für jede sitzende Beschäftigung kaum zugetraut hätte. Joe lag in seiner Lieblingsstellung mit zurückgelegtem Kopf auf seinem Stein und betrachtete die Spitze der großen Pyramide. Er sah die Ankommenden nicht, obgleich sie unmittelbar auf ihn zugingen. Erst der laute Ausruf der leicht erregbaren Gouvernante, die hinter Sakuntala aus der Felsspalte trat – »Gott sei Dank, wir kommen noch rechtzeitig!« – brachte eine müde Bewegung in die fast leblose Gestalt auf dem Steinblock, während sich Ben noch immer nicht stören ließ.

»Hoho, kommt ihr endlich?« sagte der Doktor, mit einem erzwungenen Versuch, seine Gäste heiter zu empfangen. »Wir haben euch seit einer Stunde erwartet.«

»Aber wir sind kaum so lange fortgewesen«, meinte Fräulein Schütz, »und Sie haben viel versäumt, Herr Joe. Es ist prachtvoll auf der Spitze und hochinteressant. Was alles uns diese Wüste zu sagen hat, wenn man sie von oben betrachtet!«

»Wir haben uns hier unten ebenfalls nicht gelangweilt«, sagte Ben Thinker, mit den Augen zwinkernd, indem er sich von seinem Stuhl erhob und Sakuntala zuwandte. »Dein Onkel Joe hat mich auch auf Spitzen herumgeführt, Kundel, und weiß das so interessant zu machen, daß wir noch ganz erschöpft sind.«

»Davon hatte ich schon öfter Gelegenheit, mich zu überzeugen«, fiel Buchwald lustig ein, in der Hoffnung, etwas zur Erheiterung der Gesellschaft beitragen zu können, während der Doktor sich verlegen abwandte und mit seinem Stock Hieroglyphen in den Sand schrieb.

»Sie auch?« fragte Ben unschuldig. »Na, lebhaft ist mein Bruder Joe von Kindesbeinen an gewesen. Wir unterhielten uns, wie in alten Zeiten; nicht wahr Joe?«

»Allerdings«, versetzte der Bruder, zögernd und etwas kleinlaut. »Wir unterhielten uns. Dein Onkel Ben suchte mir einen seiner Pläne zu erklären, die von jeher meine Verwunderung erregt haben. Ich war kaum imstande, ihm zu folgen.«

»Verwunderung!« rief Ben vorwurfsvoll. Dann, nach einer längeren, peinlichen Pause fuhr er fort: »Es wäre nicht gerade nötig gewesen, sie in dieser Weise auszudrücken. Dies war einmal eine wertvolle Zeichnung.«

Er deutete auf zahllose kleine Papierstückchen, deren Weiß grell vom braunen Sandboden abstach.

»Nein!« gab Joe zu, indem er versuchte, nach der entgegengesetzten Seite zu sehen. »Aber wenn Sie wüßten, Herr Buchwald, was mein unglückseliger Bruder mir vorschlug! Wir besprachen uns bis dahin in durchaus passenderweise.«

»Das heißt – nimm mir's nicht übel, Joe –, du erzähltest mir Dinge, die – die –«

»Sprich dich aus, Ben! Du siehst, ich bin völlig ruhig.«

»Und ich hörte dir geduldig zu«, fuhr der jüngere Bruder etwas lebhafter fort, »obgleich mir's manchmal zumute war als unterhielten wir uns in einem – es muß heraus – in einem Irrenhaus.«

»Es ist hart«, sagte der Doktor traurig, »aber ich werde nie vergessen, daß wir in einer Wiege lagen. Es mag dir unbegreiflicherweise alles Verständnis für Dinge abgehen, die über dem Horizont unserer öden, materiellen Zeit liegen. Trotzdem dürftest du in deinen Ausdrücken etwas zurückhaltender sein, angesichts des größten Denkmals aller Zeiten. Ich mute dir wahrhaftig nicht zu viel zu, Ben, wenn ich dich darum bitte; schon der Jugend wegen, die uns aufmerksam zuhört, wie ich bemerke. Verlassen wir dieses Thema. Es kann dir nur peinlich sein, an deine Unfähigkeit erinnert zu werden, die Bedeutung dieses Riesenwerks zu würdigen.«

»Ich bin völlig mit dir einverstanden, Joe; verlassen wir diesen widerwärtigen Gegenstand. Daß deine Pyramide als das nutzloseste Gebäude auf dem ganzen Erdenrund noch immer hier steht, gibst du mir ja im großen Ganzen zu.«

»Das nutzloseste Gebäude! Ich hätte dies zugegeben?« fuhr der Doktor auf. »O ihr himmlischen Heerscharen! Welche Prüfung uns ein leiblicher Bruder sein kann, mit dem wir so gern in Friede und Eintracht lebten.«

»Na, wir sind ja einträchtig! Die Zahl π, die ich so hoch verehre wie du, braucht deshalb nicht in einem Steinklumpen verewigt zu sein. Sie existierte, ehe die Welt war, und wird sie überleben, wie die Wahrheit, daß zwei mal zwei vier ausmacht. Darüber können sich nur Gelehrte von deinem Schlag wundern, die jede Wahrheit mit Entzücken erfüllt, wenn sie nur in Schutt und Moder gefunden wird. Daß ein Freund von dir sie gerade hier fand, ist allerdings bemerkenswert. Ich hätte es euch beiden nicht zugetraut.«

»Mußt du in diesem Ton sprechen?« fragte der Doktor vorwurfsvoll.

»Na, warum nicht? Sind wir nicht Brüder und dazu auf die Welt gekommen, uns in aller Liebe die Wahrheit zu sagen? Das ist brüderlich, hoffe ich.«

»Gewiß; und ich selbst will nichts anderes, so sauer du mir es auch machst. – Wie oft hat unser heimgegangener Vater uns jene schlichte Weisheit, jene klare durchsichtige Schönheit der Alten an hundert klassischen Beispielen nachgewiesen. Erinnert dich dieses älteste Denkmal der Vorzeit, vor dem wir stehen, nicht an die unvergeßliche Jugend der Menschheit, in der ihr den Sinn für das Gute, Wahre und Schöne über alles ging und eine schaffende Kraft war, wie seitdem nie mehr.«

»Da wären wir ja wieder im Zug, Joe«, lachte Ben gezwungen. »Immer zu. Es ist mir weniger beängstigend als deine Pyramidenrechnungen.«

Damit setzte er sich wieder vor dem Tischchen nieder, ergriff einen Bleistift und vertiefte sich in ostentativer Weise in seine Skizze, indem er den Rücken krümmte wie ein Kater, der einem erbarmungslosen Regenschauer entgegensieht, vor dem er sich nicht zu retten weiß. Joe trat festen Schritts auf ihn zu, und stützte sich auf die Rückenlehne seines Stuhls, sichtlich entschlossen, die Vorteile zu benutzen, die ihm die Gegenwart Buchwalds und der Frauen sicherte. Der Maler sah voraus, daß ein Kampf aufs neue entbrennen würde, dessen Ende nicht abzusehen war. Das Klügste schien, sich in Geduld in das Unvermeidliche zu fügen. Er holte deshalb die zwei einzigen noch übrigen Stühle aus der Jägerkammer und winkte dem Sais, der ein Brett aus der Küche herbeischleppte. Rasch war eine prächtige Bank hergestellt, deren Rücklehne die Felswand bildete. Sakuntala, Bertha, Fritschy und er nahmen Platz und saßen in Reih und Glied wie Geschworene, vor denen die Anwälte eines großen Rechtsstreites sich zum erbitterten Wortgefecht rüsteten. Es hatte tatsächlich mit allem Feuer begonnen, ehe die äußere Einrichtung des improvisierten Areopags ganz beendet war. Der Doktor begann mit erkünstelter Ruhe:

»Wozu soll ich dir wiederholen, was du, Ben, so gut weißt, als ich, seit wir es zusammen aus Virgil und Horaz, aus Homer und Sophokles herauslesen? Sooft die Menschen sich wieder aufrafften aus der Roheit ihrer Unkultur, aus dem Sumpf ihrer Verbildung, gingen sie zurück zu den alten Quellen. In ihrem Muttergestein – schwerlöslich, das gebe ich zu – liegen die Ideale, die die Menschheit zu verjüngen, zu vergeistigen vermögen, wenn sie in der groben Sinnenwelt zu versinken droht. Unsere Aufgabe ist und bleibt, uns nach jenen Mustern zu bilden, unsere eigene Jugend, die gar zu gerne altklug tut und gar zu rasch alt wird, in den Gesundbrunnen jener ewigen Jugend zu versenken. Denn damals stand die Menschheit der Natur und die Natur ihrem Schöpfer näher. So müssen jene Zeiten und was sie schufen für immer das Muster bleiben, nach dem wir unser Denken und Fühlen, selbst unser Leben zu gestalten haben, wenn wir gesund und frisch und jung bleiben wollen.«

»Wir sehen das an deinen Gelehrten, deinen Bücherwürmern, deinen Schulmeistern, die ihr Leben lang an dieser Quelle saugen«, brummte Ben, indem er zornige Striche über sein Papier zog. »Willst du meine ehrliche, unverblümte Ansicht wissen? Dein Altertum ist zum Fluch der Menschheit geworden, seitdem ihr sie zwingen wollt, in den besten Jahren des Lebens – nein, das ganze Leben hindurch – den Blick nach rückwärts zu richten, anstatt vorwärts, wie Gott seine Menschen geschaffen hat; in Staub und Moder nach Nahrung zu suchen, anstatt auf der frischen Weide, die uns die Natur alljährlich aufs neue grünen läßt; wiederzukauen, was sie vor tausend Jahren meinetwegen mit Genuß verzehrt haben. Ich bitte dich, Joe, sieh dir doch deine Menschen an, die ausgemergelten, halbblinden, hilflosen Geschöpfe, die in einer Welt von Phantomen leben; wohlgemerkt nicht in der alten Welt, wie sie war – die macht keine Gelehrsamkeit mehr lebendig –, in einer Welt von Puppen, die ihr vor fünfzig Jahren ausgestattet habt mit allem philologischen Kehricht, von dem die Alten selbst keine Ahnung hatten, und die ihr heute behängt mit den Fetzen und Scherben, den Töpfchen und Waffen, die ein unglückseliger Schlammvulkan oder ein Sandsturm für euch zugedeckt hatte. Gut, wenn es euch Spaß macht, tut es. Aber sagt nicht, das sei die Aufgabe der Menschheit. Heißt nicht diesen Trödel und was aus demselben hervorgeht: Bildung. Es ist nichts dergleichen; es ist eitles, nichtiges Zunftwissen. Wir sind geschaffen, in der Richtung zu sehen, in der wir gehen können: vorwärts. In der Zukunft liegt die Aufgabe der Menschheit, nicht in der Vergangenheit.«

Bei aller Verschiedenheit der äußeren Erscheinung trat in der Erregung des Streits eine merkwürdige Ähnlichkeit der Brüder zu Tage. Ihre Leidenschaft, ihre sprudelnden Worte verrieten den gemeinsamen Ursprung. Ben war aufgestanden. Beide rangen einen Augenblick wortlos mit dem Tischchen, das sich unfehlbar wieder auf den Kopf gestellt hätte, wäre Buchwald nicht beigesprungen. Unmöglich aber war ihm, ein beruhigendes Wort einzuschalten, denn Joe benutzte die Atemlosigkeit seines Bruders, der blaurot im Gesicht geworden war, das Heft wieder in die Hand zu bekommen. Mit sichtlicher Willensanstrengung sich zurückhaltend, sagte er energisch, aber ruhiger:

»Du beurteilst die Dinge, die du kennst, Ben. Bei uns in England hat die materielle Entwicklung den Leuten den Kopf verrückt. Die Behaglichkeit des Reichtums, den sie uns gibt, hat uns bestochen. Du solltest die Deutschen sehen, dieses Volk der Denker, der ›Bücherwürmer‹ und ›Schulmeister‹,wenn dir diese Worte Spaß machen. Dort hast du ein Volk, das gelernt hat, in etwas Höherem seine Befriedigung, seinen Stolz zu finden, als in soundsoviel hunderttausend Spindeln, soundsoviel Millionen Zentner Stückkohle. Sie wissen, in welchen Bergwerken die wahren Schätze der Menschheit liegen. Gewiß, es geht nicht ohne Mühe und Entbehrung und Arbeit zu, und mancher bleiche Gelehrte sieht so schlecht aus als der verkümmertste Minenarbeiter und der blutloseste Weber deiner Mache. Aber was hat er dafür ans Tageslicht gebracht, was hat er dafür gesponnen? Keinen Kohlengries, um etwas mehr Dampf zu machen, keinen Kattun für Chinesen!«

»Es ist merkwürdig«, flüsterte Fräulein Schütz, die mit leuchtenden Augen dem Kampf gefolgt war; »wenn Herr Joe spricht, bin ich ganz seiner Ansicht und wenn Herr Ben das Wort hat, bin ich überzeugt, daß er recht haben muß. Zu guter Letzt müssen es doch die Deutschen gewinnen, hoffe ich!« Doch konnte sie sich weiteren Hoffnungen nicht hingeben, denn Ben, der keine Unterbrechung duldete, schrie wütend:

»Ganz recht! Was hat er gesponnen? Seh dir sie an, wo sie hingeraten sind, mit ihrer Schulmeisterei. Ein Wolkenkuckucksheim haben sie sich aufgebaut, in dem keine Kirchenmaus mehr satt wird. Ihre eigene Sprache – Worte, Worte sind ja das A und O ihres Lebens geworden – haben sie sich verhunzt, hör' ich, daß man eine lateinische Grammatik braucht, um den Satzbau eines waschechten deutschen Juristen und das Kauderwelsch ihrer Philosophen zu begreifen. Ihr Stolz soll sein, alles so zu sagen, daß es niemand verstehen kann, der nicht zu ihrer Zunft gehört und ihr engbrüstiges Zunftwissen nennen sie ›allgemeine Bildung‹! Das haben sie so lange ihrem Volk vorgepredigt, ihrer Jugend aufgezwungen, bis es alle Welt um sie her glaubte. Wahnsinn! Wahnsinn! Aber ein Wahnsinn, der die ganze Nation erfaßt hat, und der, wie der Hexenglaube erst in ein paar Jahrhunderten als das erkannt werden wird, was er ist. Inzwischen kann das Volk daran zu Grunde gehen, wenn nicht, was wir für deine Freunde hoffen wollen, eine derbe Faust aus der verachteten Wirklichkeit dreinschlägt und das Hirngespinst zerschmettert.«

Es ist vielleicht nützlich, daran zu erinnern, daß diese Wortschlacht im Jahre 1865 geschlagen wurde, gerade zur Zeit, als sich die Faust, die nur wenige ahnten, heimlich zu ballen anfing.

Fräulein Schütz, die ihre Entrüstung kaum mehr bemeistern konnte, war aufgesprungen, um Joe zu Hilfe zu kommen. Es war unnötig. Das Blatt hatte sich zu Ungunsten Bens gewendet. Je heftiger dieser wurde, um so ruhiger wurde sein Gegner.

»Ben! Ben!« sagte er langsam, »Niemand sollte prophezeien, ehe er seiner Sache gewiß ist. Wir sind noch nicht am Ende unserer Tage; auch die Deutschen nicht.«

»Gut; betrachte dir ihren Nachwuchs, ihre Zukunft«, fuhr Ben grimmig fort. »Ich habe meinen Weg hierher durch Deutschland genommen und sah mir die Bürschlein an. In Kassel – oder war es in Stuttgart? – hatte ich das Glück, zu einem Schultest zu kommen, zu einer Preisverteilung, wie mir der Oberkellner unseres Gasthofs sagte, der Englisch sprach wie ein Cockney. Sie marschierten von ihrem Gymnasium nach einem Turnplatz oder Schützenhaus – was weiß ich – kleine, bleiche, altkluge Männchen, denen man ansah, daß sie nichts konnten, weil sie zu viel wußten; jedes dritte Kind mit einer Brille auf dem Näschen. An der Spitze ihre Lehrer, gelehrte Herren ohne Zweifel, voll von Idealen unter den kahlen Schädeln, bebrillt ohne Ausnahme, blinde Blindenführer. Das sind Äußerlichkeiten; selbst die äußere Welt von heute wird nicht mehr von Fleisch und Knochen beherrscht, wirst du am Ende sagen. Und das gehört auch zum Wahnsinn des ganzen Treibens.«

»Bleiben Sie ruhig«, flüsterte Buchwald Fräulein Schütz zu, die abermals aufzuspringen drohte. »Es ist immer unangenehm, aber es ist manchmal gut zu sehen, wie uns andere sehen. Unser Freund ist noch nicht geschlagen.«

»Das sind Äußerlichkeiten!« rief der Doktor gereizt. »Wahr ist es, die Deutschen haben für die Arbeit ihrer Jugend zu bezahlen, für die Jahre, in denen sie sich in die alte Welt der Ideale versenken, in denen ihnen die Klarheit und Schönheit, die uns Rom und Griechenland hinterließ, in Fleisch und Blut übergeführt werden. Aber welcher Gewinn für das ganze übrige Leben, mit der Milch jener herrlichen Zeiten genährt worden zu sein. Du solltest sie kennenlernen, sie hören, wie ihnen die Erinnerung an diese Jugendeindrücke durch das ganze Leben eine Quelle der Zufriedenheit und des Genusses bleibt. Wie das logische Denken der Alten auch sie gelehrt hat, logisch zu denken, daß wir, mit unseren wirren praktischen Instinkten, oft nur staunen müssen.«

»Das Staunen gebe ich zu«, versetzte Ben höhnisch. »Die Zufriedenheit? Den Genuß? – was beweist das? Laß ein Kind in einer kahlen, öden Umgebung aufwachsen: es wird sein Leben lang in einer öden, kahlen Gegend Freude und Genuß finden. Das ist die Wirkung der Jugendeindrücke, die alles verklären, auch den Moder der Vergangenheit. Und dann – wenn ein ganzes Volk durch eine Reihe von Generationen in dieser Richtung irre geht, starr nach rückwärts blickt und darin den Zweck des Lebens sieht: Wie soll es anders werden, wie kann sich der einzelne helfen, wenn er nicht einer deiner Heroen ist, ein Herkules vor dem Augiasstall? Ja, seh dir deine Alten doch einmal näher an! Haben sie nach rückwärts gesehen, obgleich auch hinter ihnen die Geschichte einer Menschheit lag – Kleinasien, Ägypten, Chaldäa. Haben sie, wenn sie schufen, was sie groß machte, kleinasiatische Philologie, ägyptische Philosophie, chaldäische Naturwissenschaft getrieben? Nein, sie lebten in ihrer Gegenwart und schufen für die Zukunft.«

»Die Römer studierten griechisch«, warf Joe lächelnd ein, der darauf lauerte, Ben auf dem Eise ausgleiten zu sehen, auf das er sich etwas leichtfertig begeben hatte.

»Ja, zur Zeit, als sie anfingen, zugrunde zu gehen«, rief Ben. »Wenn deine Deutschen soweit sind –«

»Wüßtest du das alles, Ben«, unterbrach ihn Joe, entschlossen, nichts mehr unwidersprochen über sich ergehen zu lassen, »wüßtest du das alles, wenn du nicht im Hause unseres Vaters den Grund zu der Geistesbildung gelegt hättest, die du heute verhöhnst? Ihr neuen Leute wißt nicht, was ihr uns, den Alten verdankt. Nimm aus dem Leben weg, was du aus dem Vaterhause mitnahmst, wo uns der Geist des Altertums umgab und unsere Kindheit und Jugend verschonte. Was bleibt dir? Welches Leben, wenn das alles vergessen wäre! Von dem sittlichen Gewinn will ich nicht reden, der uns aus der selbstlosen Beschäftigung mit Idealen erwächst. Wenn in der Kindheit die wahre Lebenskraft des Mannes liegt, so liegt in der Jugend der Menschheit die wahre Bildung des Geistes. All eure Erfindungen –«

»Was verstehst du von unseren Erfindungen?« fiel ihm Ben ins Wort. »Hättest du diesen Korkhelm auf dem Kopfe, der deinen heißen Schädel schützt, könntest du deine verwunderlichen Ideen der erstaunten Welt mitteilen, wärest du heute hier am Fuße deiner angebeteten Pyramide ohne unsere Erfindungen? Das ganze Leben, man mag's anpacken wo man will, in seinen kleinsten und in seinen erhabensten Blüten und Früchten, ist unsere Erfindung, Joe! Du selbst –«

»Nein, Ben, das geht zu weit!« rief Joe und der Anflug eines selten durchbrechenden Humors verklärte für einen Augenblick die bleichen Züge, denen der leidenschaftliche Streit einen bitteren Ausdruck gegeben hatte. »Erfunden habt ihr mich nicht. Ich glaube vielmehr, ein geistiges Produkt jener ältesten, ehrwürdigsten Zeit zu sein, die selbst hinter den klassischen Jahrhunderten der Griechen liegt. Du machst dir keinen Begriff, wie wohltuend mir dieser Gedanke ist und wie traurig ich bin, einen solchen Bruder mein nennen zu müssen.«

»Genau meine Gefühle, Joe! Aber es wird dir nicht gelingen, den siegreichen Gang deiner eigenen Zeit aufzuhalten; sicherlich nicht mit Phantastereien, wie sie deine Geistesrichtung zu Tage fördert. Deine Pyramide ist da und ist ein großes und gewaltiges Bauwerk, das dem alten Cheops alle Ehre macht. Du siehst, ich mache dir jedes vernunftgemäße Zugeständnis. Unsere Aufgabe aber ist es, sie für unsere Zeiten nutzbar zu machen. Und du solltest dich freuen, daß es mir gelungen ist, den Weg zu entdecken, wie dies geschehen kann. Die Sache treibt mich schon seit Jahren um. Erst aber seitdem ich die Verhältnisse an Ort und Stelle näher kennen lernte, ist mir völlig klar geworden, daß ich einer unerklärlichen Inspiration einen großen, unserer Zeit würdigen Plan verdanke.«

»Aber laß dich doch wenigstens belehren, lieber Ben! Suche mich ruhig anzuhören«, bat der Doktor klagend. »Ich will ja selbst nichts anderes, als diesen wunderbaren Bau für die Gegenwart und für alle Zukunft nutzbar machen. Dieser Augenblicks- und Nützlichkeitsgedanke ist eine niedere Auffassung dessen, was ich für die Wahrheit halte, aber ich will sie dir zu lieb gelten lassen. Die Pyramide ist die Verkörperung eines idealen Maßsystems, das uns für alle Zeiten über die Irrtümer und Zufälligkeiten unserer landesläufigen Meßkunst hinaushebt. Du weißt, so gut wie ich, wie die Franzosen zu ihrem Meter gekommen sind. Sie beanspruchen mit ihrer gewohnten Selbstgefälligkeit eine wissenschaftliche Grundlage für ihr System. Ihr Meter soll der Teil eines Erdmeridians, ihr Meter, eine gerade Linie, wohlgemerkt eine gerade Linie, soll der Teil eines Kreisumfangs sein. Ist das Wissenschaft? In der Pyramide hast du eine unanfechtbare, wissenschaftliche Grundlage: die geradlinige Länge der Polarachse der Erde. Ich habe mir's angelegen sein lassen, unser eigenes Maßsystem durch die Geschichte des englischen Volks zu verfolgen. Es ist ein trauriges Bild von Unregelmäßigkeiten und Vernachlässigung, und doch ist es dem Pyramidenmaße näher verwandt, als das den menschlichen Irrtum systematisierende, atheistische Franzosenmaß. Unsere Vaterlandsliebe muß uns zwingen, die Pyramide mit ihren metrischen Offenbarungen hochzuhalten, und vor jeder Entweihung zu schützen. Wenn ich dir wiederhole, daß der Pyramidenzoll nur um ein Tausendstel von unserem guten, alten, englischen Zoll abweicht, der unsern Urvätern auf die Völkerwanderung mitgegeben wurde und im Laufe der Jahrhunderte recht wohl ein Tausendstel geschwunden sein kann, daß wir also in der Pyramide das Urmaß der höchstentwickelten Menschenrasse verkörpert und aufbewahrt sehen: kannst du daran denken, dieses Denkmal einer kosmischen Offenbarung anzutasten?«

»Joe, wenn du nicht mein Bruder wärest« – versetzte der Jüngere, nun ebenfalls in einem elegischen Ton verfallend, »oder vielmehr, wenn ich dich nicht von Kindesbeinen an kennen würde, hättest du mich heute überzeugt, daß du völlig verrückt geworden bist. Nimm mir's nicht übel: Das sind Lächerlichkeiten, die nur in einem Gehirn entstehen können, dessen Tätigkeit zu lange auf einen Punkt gerichtet war. – Ähnliche Erscheinungen sind ja unter deinen Freunden des Altertums nicht selten. Sie sind an sich harmlos; aber sie können gefährlich werden. Für dich sind sie gefährlich geworden. Selbst wenn ein unerhörter Zufall es so gefügt hätte, daß einige deiner Beobachtungen zutreffen – ich gestehe, die Geschichte mit dem π intrigiert mich –.«

»Gott sei Dank, ein Lichtblick!« schaltete Joe ein.

»Selbst wenn sie richtig wäre, was wäre dabei viel zu verehren, wie du es uns zumutest. Sein Maßstab ist so gut wie ein anderer. Nicht das Maß hat irgendwelche Bedeutung, sondern das Ding, das wir messen, nicht die Form und Größe ist das Wesentliche, sondern der Stoff, die Materie. –«

»O Ben, nicht das Ding, nicht der Stoff, nicht die Materie ist das Bleibende. In der Form, im Maß liegt Gedanke und Geist. Darin liegt auch die Bedeutung der Pyramide und dessen, was sie uns sagt.«

»Meinetwegen; das ist mir zu hoch«, sagte Ben verächtlich. »Ich habe im Sinn für meine Mitmenschen zu arbeiten, nicht indem ich die Elle verherrliche – ich glaube, das ist das Vorrecht der Schneider –, sondern indem ich den Stoff bilde, die Dinge zu nützlichen Zwecken zusammenfüge. Weiß der Himmel, sogar die Schneider tun das! Daß die Pyramide seit viertausend Jahren zu nichts nütze war, als den Leuten die Köpfe zu verdrehen oder sie mit blödsinnigem Staunen zu erfüllen, mußt du einsehen. Das soll nun anders werden. Ich möchte dich wirklich bitten, etwas geduldiger zuzuhören, als es dir bisher möglich war, wenn ich Herrn Buchwald meinen Plan kurz entwickle. – Sie sehen dieses Blatt. Ich kann nicht zeichnen, und mein Bruder hat mir das Original leider zerrissen. Aber Sie werden mich verstehen. Die Sache ist überaus einfach.«

Die vier Geschworenen erhoben sich einmütig von ihrer Bank in der Hoffnung, daß die Sitzung nun bald ihr Ende erreicht haben müsse und betrachteten die Zeichnung, deren kräftige, aber etwas wirre Striche an verschiedenen Stellen in einem Loch endeten, ein Beweis, mit welcher Energie Ben Thinker seine Gedanken zu Papier gebracht hatte. Buchwalds und Fritschys Mienen drückten Zweifel und Bedenken aus. Fräulein Schütz begrüßte den Plan mit der freudigen Zustimmung vollen Verständnisses. Sakuntala wandte sich ihrem Onkel Joe zu, dem sie freundliche Worte der Beruhigung zuflüsterte, denn er sah tief betrübt zu Boden und schien kaum fähig, seiner Bewegung Herr zu werden. Ben dagegen fuhr im Ton triumphierender Überzeugung fort:

»Sie sehen hier den Nil in seinem Lauf von Süd nach Nord. Dieser – dieses Loch ist Kairo. Etwas weiter unten spaltet sich der Fluß in den Damiette- und Rosettaarm; bei dieser Spaltung liegt Kaliub und beginnt das Delta. Weiter oben ist Gise mit unseren Pyramiden. Sie sehen diese Dreieckchen! Etwas oberhalb liegt die Flußinsel Thirse, die den Nil ebenfalls in zwei Arme spaltet. Bei Kaliub bauten die Franzosen ihr verunglücktes Stauwerk. Es ist mir völlig klar geworden, weshalb dieses anspruchsvolle Machwerk, dem ein vortrefflicher Gedanke zu Grunde lag, nichts taugt. Es ist auf verhältnismäßig neuangeschwemmtem Boden erbaut. Die Spitze eines Deltas ist immer und überall neuangeschwemmter Boden, auf dem sich nichts Feststehendes bauen läßt. So wurde es auch dem Nil leicht, die mangelhaft ausgeführten Fundamente der Barrage zu unterspülen. Sie hätte viel weiter oben, auf altem Grund und Boden gebaut werden sollen; die Spitze der Insel Thirse zum Beispiel wäre ein geeigneter Punkt gewesen. Hier muß sie angelegt werden.«

»Aber wie kommen Sie mit dem dort aufgestauten Wasser ins Delta«, fragte Buchwald, der einen regen Ortssinn besaß: »Sie müßten den Rosetta- oder den Damiettearm des Nils kreuzen.«

»Das«, sagte Ben eifrig, »das ist ein Detail, über das ich mich später aussprechen werde. Verlassen sie sich darauf. Ich komme hinüber. Kein großer Gedanke würde zur Tat werden, wenn man sich bei jedem Detail aufhielte. Also: Ich komme hinüber. Die Verlegung der Barrage von Kaliub nach der Insel Thirse aber ist eine bloße Geldfrage. Allerdings – sie gab mir reichlich zu denken. Man muß mit den Verhältnissen rechnen, in Geldsachen.«

»Ganz hast du den Kopf doch noch nicht verloren, Ben!« unterbrach ihn der Doktor mit Bitterkeit.

»Das eben ist dein Unglück, Joe, wie du sogleich sehen wirst«, versetzte der andere mit höhnischer Überlegenheit. »Hätte man mit einem völligen Neubau zu tun, wäre alles Erforderliche erst zu beschaffen, so würden die beträchtlichen Kosten selbst die Regierung eines Vizekönigs wie Ismael Pascha abhalten, an die Aufgabe heranzutreten. Wir begegnen aber gerade an dieser Stelle einem Glücksfall, ich möchte fast sagen, einer Fügung der Vorsehung. Das gesamte Baumaterial ist vorhanden, wie es wohl niemals in der Kulturgeschichte der Menschheit bereit lag. Jeder Block dieser Cheopspyramide wird noch zur Fruchtbarkeit, zur Wiedererstehung Ägyptens beitragen. Ich werde dieses nutzloseste Werk, das je die Menschen geschaffen haben, zum Nützlichsten umgestalten, das die Welt je gesehen hat. Millionen Menschen sollen noch auf den halbverdorrten Flächen dort unten wohnen und satt werden und sollen meinethalben dem alten, von meinem Bruder Joe abgöttisch verehrten Pharao dafür danken, daß er vor Jahrtausenden die nötigen Steinblöcke für das Bauwerk zusammengeschleppt und wie in einem großen Magazin aufgestapelt hat. Nun endlich kommen vernünftige Menschen, die sie zu gebrauchen wissen. Klingt das wie Wahnsinn? Hand aufs Herz, Joe!«

»Es klingt wie Gotteslästerung«, stöhnte der Doktor, auf seinen Stein niedersinkend. »Der Gedanke, dieses hehre Bauwerk zu vernichten, um ein Stauwehr daraus zu machen, ist Blasphemie. Natürlich hast du keine Ahnung davon, was uns eine heilige Kunst aus der Zeit, in der es noch Offenbarungen gab, in diesem Bau überlieferte. Die großartigen Zahlen- und Maßverhältnisse wagst du nicht zu leugnen. Aber du weißt nichts von den Aufschlüssen über die Menschengeschichte, von ihren Uranfängen bis auf unsere Tage, von den rätselhaften, prophetischen Angaben, deren unzerstörbare Steinschrift nur darauf wartet, entziffert zu werden. Ich getraute mir nicht, hier davon zu sprechen, denn ich weiß, daß mein eigener Bruder leider Gottes im Rat der Spötter sitzt. Nun aber, nachdem du deinen ganzen, abscheulichen Plan enthüllt hast, darf ich nicht länger zögern, dich auf alles hinzuweisen, was deine Absicht zum Verbrechen stempelt. Hast du dich nie gefragt, wer diesen Bau nach der Eingebung und unter der Leitung des Allerhöchsten aufgeführt hat? Die alten Ägypter spielten mit dem Namen Cheops, Sufu, Chufu und ähnlichem. Der König war nicht ihres Volkes, erzählen sie; er zwang sie unter seinen erhabenen Willen, und sie haßten ihn. Alte Überlieferungen, von denen in verworrener Weise Manetho berichtet, sprechen von einem uralten Hirtenkönig Philitis, der den Pharao Cheops beeinflußte. Es kann sich nicht um die Hyksos handeln, die ein weit späteres, entartetes Geschlecht gewesen sind. Alle Berechnungen, die uns die Pyramide selbst an die Hand gibt, deuten darauf hin, daß dieser geheimnisvolle König ein Zeitgenosse Abrahams war, ein Kind jener Zeit, in der die Offenbarungen Gottes über dem Erdball schwebten und wie ein leuchtender Meteor alles erhellten, das Unerschaffene wie das Geschaffene. Wie dem Stammvater des Volkes Israel ein Blick in die Geheimnisse der übersinnlichen Welt vergönnt ward, so wurde seinem Freund und Bruder im Lande Misr die Weisheit geoffenbart, die im Geschaffenen liegt, und er legte sie nieder in diesem Bauwerk, das du – du – du Mißgeburt eines Geschlechts von Pygmäen, zu zerstören gedenkst.«

Joe Thinker hatte schließlich ganz leise gesprochen, aber mit einer Leidenschaftlichkeit, die seinen ganzen Körper durchbebte, so daß ihn die Frauen erschrocken ansahen und selbst Buchwald besorgt wurde. Der Doktor war auf seinen Stein zurückgesunken, während Sakuntala ihre Hand auf seine Stirne legte, auf der große Schweißtropfen standen. Eine längere, peinliche Pause war eingetreten, in der beide Brüder sich sichtlich bemühten, die nötige Ruhe wiederzugewinnen.

»Du sprachst natürlich bildlich, Joe; ich weiß, du sprachst bildlich«, begann endlich Ben, in versöhnlicherem Ton, aber mit ungewohntem Ernst. »Wenn ich es nun auch für meine heilige Pflicht hielte, zu tun, was Millionen armer Mitmenschen zufrieden und glücklich machen müßte; was ich einer Eingebung verdanke, die mich vor Jahresfrist zweitausend Meilen von hier überfiel? Ich bin kein Melchisedek zweifellos; ich brauche deshalb noch keine Mißgeburt zu sein. Aber, daß ich Eingebungen habe, in meiner Art, darüber bin ich nicht im geringsten Zweifel, Inspirationen, wie jeder Erfinder. Wir mögen nach deiner Ansicht Zwerge sein; aber wir sind die Propheten unserer Zeit, und niemand hat das Recht, sein Pfund zu vergraben, es mag noch so klein sein. Wir haben unser Dasein erhalten, um diese Erde fruchtbar zu machen und über sie zu herrschen, dafür zu sorgen, daß sie die Menschheit nähert und daß die Menschheit das Glück des Lebens genießt, nicht um im toten Moder zu graben wie blinde Maulwürfe. Ich weiß, was mir in diesen Jahren meines Lebens zu tun bestimmt ist, und – bei Gott! – ich werde es tun.«

»Du wirst es nie fertigbringen«, seufzte der Doktor kaum hörbar. »Du weißt nicht, wie lächerlich dein Größenwahn diesem Werk gegenüber erscheint.«

»Was das betrifft«, lächelte Ben, »so weißt du nicht, wer für mich arbeitet. Die Sprengstoffe von heute, die Maschinen, die Kräne, die Hebewerke, die Schienengeleise unserer Zeit sind alle meine Bundesgenossen, sobald ich die Berechtigung erhalte, das große Werk zu beginnen. Die Zustimmung des hierzulande allmächtigen Vizekönigs ist allerdings unumgänglich notwendig. Dann aber machen wir in wenigen Tagen, was früher Jahrzehnte gekostet hätte. Was gilts, in drei Jahren siehst du das hellste Sonnenlicht in deiner Königskammer? Du solltest mir dankbar sein, Joe. Wer weiß, was wir dabei noch finden werden.«

»Niemals wirst du die Erlaubnis erhalten; niemals wirst du beginnen!« rief der Doktor, mit erneuter Kraft, denn Buchwald und Fräulein Schütz hatten ihm, wie einem erschöpften Preisfechter, ein Glas Wein gereicht. »Über diesem Bau walten höhere Mächte als dein Dynamit und dein Dampfkran. Und was ich tun kann, dich vor dir selbst und deinem Verbrechen zu schützen, das soll geschehen. Aber immer klarer wird mir, daß eine wirksame Wache über den heiligen Bau gesetzt werden muß, die deinen und ähnliche Anschläge im Keim zu ersticken weiß. Dafür laß mich sorgen.«

»Zwinge mich nicht, Joe, dich samt deinen Wachen in den Nil zu schieben«, versetzte Ben eindringlich. »Es ist alles zu lächerlich, was du sagst. Niemand wird für deine Hirngespinste einen Finger rühren. Sei vernünftig. Vereinige dich mit mir. Alles, was im Innern gefunden wird, sei es Wissenschaft oder Offenbarung oder Kunst oder ganz gemeine Schätze aus Gold und Silber, all das soll dein sein, soweit ich es bestimmen kann. Aber der Vizekönig muß in wenigen Wochen überzeugt werden, daß er sein Ägypten verdoppeln kann, wenn er mir freie Hand läßt, und daß ich seinem Finanzminister Millionen in die Kasse schwemmen werde. Er soll ein schlauer Kopf sein. Es ist undenkbar, daß er zaudern wird.«

»Wir werden ja sehen!« lachte Joe, den die Verzweiflung boshaft machte. »Zum Glück habe ich einen Freund in Schubra, durch dessen Vermittlung ich ohne Schwierigkeit eine Audienz bei Halim Pascha, dem Onkel des Vizekönigs erhalten kann. Auf diese Weise gewinne ich wohl auch das Ohr des jüngsten Pharao und dann habe ich keine Sorge mehr.«

»Du sprichst von Herrn Eyth in Schubra«, höhnte Ben. »Den kannte ich vor dir. Er ist Ingenieur, und wie mir scheint, ein nicht ganz unverständiger Mensch. Das liegt in seinem Beruf. Alle Ingenieure müssen auf meiner Seite stehen. Wenn er mich nicht selbst zum Vizekönig führt und sich an die Spitze meines Unternehmens zu stellen sucht, ist er nicht der Mann, für den ich ihn halte.«

»Ich fürchte, du hast dich hier, wie schon so manchmal übel verrechnet«, spottete Joe in einem für ihn völlig unnatürlichen Ton. »Ich weiß, Herr Eyth hat mehr Sinn, mehr Ehrfurcht vor den Denkmälern des Altertums, von der inneren Bedeutung der Pyramide nicht zu sprechen, um je seine Hand zu einem solchen Werk des Vandalismus zu bieten. Ich glaube man kann Ingenieur sein und braucht deshalb doch noch kein Barbar zu sein. Auf Eyth kann ich mich verlassen. Er sagte mir, er wäre selbst mitgegangen, um sich an meinen Vermessungsarbeiten zu beteiligen, wenn ihm zur Zeit seine Dampfpumpen nicht allzu viel Sorge machten.«

»Die ich alle überflüssig machen werde«, fiel Ben ein, »wenn wir das System selbsttätiger Bewässerung ausgeführt haben, wozu uns diese Pyramide das Material liefern wird. Das weiß er so gut wie ich, und muß sich mit mir vereinigen, wenn er das Gewissen eines Technikers im Leibe hat.«

»Und wenn er das Gewissen eines gebildeten, für das Höhere empfänglichen Menschen besitzt, wofür ich einige Anhaltspunkte habe«, brauste der Doktor wieder auf, »so wirst du auch bei ihm auf einen entrüsteten Widerstand stoßen. O Ben! Ben! Daß ich dich an fast heiliger Stätte so weit verirrt wiederfinden muß!«

»Donnerwetter, tue jeder seine Pflicht, wie er sie versteht«, schrie Ben in neuerwachtem Zorn. »Wer Herr bleibt, hat recht gehabt. Das sagt mir mein Gewissen und danach will ich handeln, wenn auch mein leibhaftiger Bruder darüber –«

»Vortrefflich, vortrefflich!« rief Joe, seinen Gegner überschreiend. »Das ist der Ton, in dem Kain und Abel sich unterhielten, ehe sie übereinander herfielen. Du hast es nicht anders gewollt, Ben. Du wirst deinen entsetzlichen Plan nie ausführen, und wenn dir das Herz darüber bräche.«

Ben hatte sich während des letzten Teils der Unterhaltung in herausfordernder Weise auf das Feldtischchen gesetzt, die zusammengerollte Skizze seines Stauwerks wie einen Feldherrnstab in der Luft geschwungen und auf seinen Bruder herabgesprochen. Jetzt sprang er von seinem gefährlich hohen Sitz herab. Das mannigfach gefährdete Tischchen fiel nun wirklich zum zweitenmal um und nahm, die Beine gen Himmel erhebend, aufs neue seine Lieblingsstellung ein.

»Die Esel! Wo sind die Esel?« schrie Ben in die Wüste hinaus, indem er sich zornig abwandte. »Was nützt ein Wortgefecht mit dir, Joe? Nichts. Das weiß ich aus unserer Jugendzeit. Du willst das letzte Wort haben. Meine Sache ist's, zu handeln. Wenn ich dich recht verstand, prophezeihst du aus deinen Steinen heraus, daß das Ende der Welt nicht mehr fern sein kann. Wie wär's, wenn sich deine Zeichen etwas anders deuten ließen? Hat das alte Dreieck vielleicht sein eigenes Ende geweissagt? Dann wäre schließlich doch etwas richtig an deiner Zeichendeuterei. Gib mir die Hand, alter Querkopf. Es wird ungemütlich in der Abendluft. Aber ich möchte nicht im Zorn von dir scheiden. Hand her, ehe wir handgemein werden.«

Der Doktor hatte sich ebenfalls von seinem Stein erhoben. Ein tief schmerzlicher Zug spielte um seine Lippen. Er rang die langen Hände, daß die Knochen krachten und ging dem Höhleneingang zu.

»Es ist mir nicht möglich, Ben«, murmelte er kaum hörbar, bückte sich und verschwand unter dem Felsentor des Jägergrabs.

»Auch gut!« sagte Ben, ihm halb verwundert, halb empört nachsehend. »So muß es eben ausgekochten werden auf dem Felde der harten Tatsachen. An mir soll es nicht fehlen, Joe. Wo sind die Esel?«

Bens Dragoman telegraphierte der grauen Gruppe, die vor den Zelten im Sande lag, mit erhobenen Armen in die Hände klatschend, worauf fünf Esel und ebensoviele schreiende Eselsjungen in wildem Galopp herankamen. Rasch waren Sättel und Zügel in Ordnung gebracht. Ben Thinker benutzte seines Bruders Stein, um aufzusteigen und gab demselben einen mürrischen Fußtritt. Fritschy hatte Fräulein Schütz in den Sattel gehoben. Auch der Dragoman saß schon würdevoll, nach Araberart fast auf dem Schwanzansatz seines Tierchens. Nur Sakuntala fehlte noch. Sie war ihrem Onkel Joe gefolgt, denn es schien ihr unmöglich, ihn zu verlassen, ohne ein Wort der Beruhigung, der Versöhnung mit ihm gewechselt zu haben. Aber sie trat allein, ohne ein Lächeln, wieder aus der Höhle.

»Ich muß es Ihnen überlassen, meinen guten Onkel zu trösten«, sagte sie zu Buchwald, der ihr in den Sattel half.

»Glauben sie, ein armer Sterblicher werde erreichen, was einem Friedensengel nicht gelang«, antwortete der Maler. »Ich fürchte, auf diesem alten Totenfelde, das nicht zum ersten Male zum Schlachtfelde geworden ist, werden wir umsonst mit unsern Palmen winken.«

»Dann ist es nur gut, daß man sich auch auf andern als ägyptischen Feldern begegnen kann.«

»Sie haben recht. Die Welt ist klein. Wer weiß, ob wir uns nicht auf indischen wiedersehen werden.«

Buchwalds Blicke hatten sich verdüstert; Sakuntalas Augen leuchteten auf, und doch hatten beide auf einen Augenblick ganz dasselbe gesehen.

Ben Thinker ritt mit Fräulein Schütz und Fritschy schon dreißig Schritte entfernt der Felskluft zu, trotzig und hoch aufgerichtet auf seinem Esel sitzend. Seine breite, stämmige Gestalt hatte auch von hinten gesehen wenig Versöhnliches.

»Kundel, Kundel!« rief er, sich umwendend, indem er lachend seinen Ärger niederkämpfte; »keine Pyramidenschwärmereien! Du weißt, bis zum ersten Oktober gehörst du mir und der Zukunft. Wenn dich die bösen Buben locken –«

Sakuntalas Eselsjunge gab seinem Tier einen Schlag, so daß es seinen Gefährten mit plötzlich erwachtem Eifer nachtrabte. Zwei Minuten später war die ganze Gesellschaft durch die Felsspalte verschwunden.

Als sich Buchwald umwandte, stand Joe Thinker unter dem Eingang der Grabhöhle.

»Ich hätte ihm gerne die Hand gereicht«, sagte er düster. »Es war kein brüderlicher Abschied.« Dann, nach einer längeren Pause fuhr er wie im Selbstgespräch fort: »Aber es ist vielleicht besser so. Es gibt Pflichten, die über brüderliche Gefühle Herr werden müssen. – Ich danke Ihnen, Herr Buchwald, daß Sie in dieser Stunde der Trübsal bei mir ausgehalten haben. Ich habe allerdings nichts anderes von Ihnen erwartet. – Himmlische Heerscharen! Das war der Tag, nach dem ich mich seit zehn Jahren gesehnt habe!«

»Nehmen sie die Sache nicht zu tragisch, lieber Herr Thinker«, bat der Maler, indem er das teilnahmsvolle Feldtischchen wieder aufstellte, »Sie haben es gewiß schon hundertmal erlebt, wie verschieden die Auffassungen wackrer Leute in den ernstesten Dingen sind. Die Welt geht deshalb nicht aus den Fugen.«

»Nicht zu tragisch!« rief der Doktor mit neuerwachender Erregung. »Halten sie, was wir hier hören mußten, für eine akademische Diskussion? Haben Sie nicht den Eindruck gewonnen, daß es sich um einen Kampf mit offenen Messern, um ein Ringen auf Leben und Tod handelt? Den Gedanken, daß die Pyramide vielleicht ihr eigenes Ende vorhergesagt haben könnte, hätte ich meinem Bruder nicht zugetraut. Er ist Wahnsinn, aber er beweist, daß es ihm bitterernst ist mit seinem entsetzlichen Plan. Gut, gut! Auch mir ist es bitterernst. Wir stehen jetzt vor der Frage, wie und wo wir die schneidendsten Waffen herbeischaffen.«

»Sie werden in einigen Tagen ruhiger über die ganze Sache denken«, tröstete der Maler.

»Und mittlerweile legt er seine Minen und setzt ein Dutzend Zündfäden in Brand, um uns alle in die Luft zu sprengen. Sie kennen meinen Bruder nicht. Wenn er ein Ziel im Auge hat, stürmt er drauf los wie einer unserer kleinen zottigen Hochlandstiere und erreicht es, oder liegt stöhnend im ersten, besten Graben. Gott geb's! Aber auch daraus macht er sich nicht viel. Es ist ein unheimlicher Mensch, in diesem Zustand.«

»Ohne das Gleichnis weiter verfolgen zu wollen«, lachte Buchwald, in der Hoffnung, der Sache eine heitere Seite abzugewinnen – »haben Sie in Schottland nicht auch ein Sprichwort, das andeutet, daß es unter Umständen das beste ist, jungen Stieren Gelegenheit zu geben, sich die Hörner abzulaufen?«

»Einen hübschen Gebrauch würde er davon machen«, entgegnete Joe ängstlich. »Es sollte mich nicht wundern, wenn er morgen zu unseren Freund nach Schubra stürmt, übermorgen beim Vizekönig vorspricht und in drei Tagen einer Regierungskommission seinen Vortrag über die billigste Art und Weise hält, das älteste Bauwerk der Welt dem Erdboden gleichzumachen. So sind diese Leute. Geht es nicht mit Pulver und Dampf, so phantasieren sie von Elektrizität, wie wenn ihnen Gott der Herr seine Blitze mit Gebrauchsanweisung in die Hand gedrückt hätte. Ein entsetzliches Volk.«

»Aber was ist gegen solch gefährliche Menschen zu machen?« fragte Buchwald, selbst etwas hoffnungslos dreinblickend.

»Wir müssen uns aufraffen«, antwortete der Doktor sich in die Höhe richtend und die Fäuste ballend. »Wir müssen von ihnen lernen, zu unserer Verteidigung sie anzugreifen. Die Vernunft, die Sittlichkeit, das menschliche Gewissen ist auf unserer Seite; aber wir müssen uns entschließen, für die höchsten Güter in der niederen Welt der Materie zu kämpfen. Morgen, in aller Frühe, wird unser Feldlager abgebrochen, so schmerzlich nur der übereilte Abschied wird. Aber wir kommen ja wieder; wir kommen hundertmal wieder. Unsere Studien haben wir erst begonnen. Vor allem müssen wir uns den Rücken decken, und das kann nur in Kairo geschehen. Sie sind, wenn ich sie recht verstand, ein Jugendfreund des Ingenieurs zu Schubra, auf dessen Hilfe mein unglückseliger Bruder rechnet. Wir werden ihm zuvorkommen. Auch unser Konsul kann jetzt nicht mehr müßig zusehen. Vielleicht kann Herr O'Donald nützlich sein. Er kennt Nebenwege, die rascher zum Ziel führen als die breite Straße. Wir machen alles mobil, was den geringsten Einfluß in Ägypten verspricht. Und wenn ich dann die günstigste Gelegenheit gefunden habe, Ismael Pascha, dem Vizekönig, den Sachverhalt vorzulegen, wenn ich dem hochintelligenten Herrn zeige, welch unermeßlichen Schatz sein Land birgt, wenn ich ihm beweise, daß es seine Herrscherpflicht ist, diesen Schatz zu bewahren wie seinen Augapfel – glauben Sie nicht auch, daß wir dann die Treibereien des Feindes verlachen können?«

Er warf sich auf seinen Stein und betrachtete die Pyramide mit leuchtenden Augen, während eine fiebrige Röte auf seinen Wangen aufstieg. Dann fuhr er leiser fort: »Mein altes, ehrwürdiges Denkmal einer vieltausendjährigen Offenbarung! Sie werden keinen Stein von deinem Gipfel lösen. Ich werde über dir wachen wie der älteste Pyramidenwächter dort drüben, bis ich, wie er, mich in den Felshöhlen an deinem Fuße begraben lassen darf. Nach mir werden andere kommen, Tausende, Tausende, die an die Wahrheit glauben, welche du birgst. Sie werden fortfahren, dich zu schützen. Sei ruhig, in deiner ewigen Ruhe. Es hat keine Not.«

Er sank zurück, wie von krankhafter Erregung geschüttelt. Buchwald hielt es fürs beste, den inneren Sturm ohne ein Wort vorüberbrausen zu lassen. Er trat in das Jägergrab, um ein Chininpulver zu holen und den Sais wenn möglich noch in der Nacht nach Kairo zu schicken. Dieser sollte so schnell als möglich die Lastesel und das Kamel herbeischaffen. Ihr fünfzehntägiger Aufenthalt am Fuß der Pyramiden war zu Ende.


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