Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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5. Kapitel
Im Schatten der Pyramiden

Der ›Feuerschech‹ war flink genug, wenn er nichts zu schleppen hatte. Schon eine Stunde vor Sonnenuntergang plätscherte er an dem himmelblauen Palast von Schubra vorüber, vor uns in der roten Abendglut die Zitadelle und die Minaretts von Kairo, rechts in violettem Schatten die Umrisse der Pyramiden von Gise, links in wohltuendem Grün die steil abfallenden Ufer der Palastgärten Halim Paschas und die trauliche, stets willkommene Anlegestelle des kleinen Dampfers. Ich war wieder einmal daheim, sprang ans Land und überließ es Abu Sa und dem Koch, meine kleine fliegende Haushaltung zusammenzupacken. Behaglich schlenderte ich meinem Hause zu, einem schattigen, gemauerten Kanal entlang, da und dort von einem Fellah oder einem meiner Arbeiter begrüßt, der sich, vom späten Mittagsschlummer erwachend, die Augen rieb, und dann hinter meinem Rücken einen lautlosen aber raschen Trab anschlug, um auf Umwegen die bedrohliche Kunde weiter zu verbreiten, daß der Baschmahandi angekommen sei und da und dort ein etwas schärferes Arbeitstempo wünschenswert sein möchte. Die Botschaft war für heute unnötig. Ich selbst war müde genug und wollte mich noch am Abend für eine Woche oder vierzehn Tage ruhigerer Arbeit in Schubra einrichten.

Mein einstöckiges, aber solid gebautes Haus, das wie sämtliche vizeköniglichen Bauten in Schubra aus Mohamed Alis Zeiten stammte, lag neben einem kleinen Teich, in grünem Dickicht von Sykomoren und Tamarisken, mit der fensterlosen Rückseite unfreundlich gegen Süden nach der Straße hin gekehrt. Die ganze Länge der Vorderseite nahm ein nicht allzu pedantisch gepflegter Garten ein, der eine beträchtliche Tiefe hatte. Von Amts wegen war mir ein Gärtner zugewiesen worden. Sonst wäre er längst eine liebliche Wildnis von Orangen, Kaktusfeigen und Trauben geworden. Fernerstehende Bekannte in Kairo behaupteten trotzdem, dem ganzen Anwesen fehle eine Frau. Sie verstanden weder mich noch den Garten. Seine entzückende Natürlichkeit wäre wahrscheinlich rasch dahingeschwunden, wenn ich auf die Ratschläge gehört hätte, die mir in reichlichem Maße erteilt wurden. Um meinen Freunden nach Möglichkeit entgegenzukommen, hatte ich meinen Gärtner heiraten lassen. Dies schadete nichts.

Der ›Boab‹, der meist schlummernde nubische Türhüter, welcher zur Bewachung meiner verlassenen Häuslichkeit angestellt war, mein Eselsjunge Mustapha, der ihn hierin zu unterstützen pflegte und der erwähnte Gärtner empfingen mich schon vor dem Gartentor in einiger Erregung. Ein fremder Esel sowie eine Droschke versperrten den Weg in bedrohlicher Weise. Es sei Besuch gekommen, wurde mir nach der üblichen freudigen Begrüßung von dem dreistimmigen Chor mitgeteilt.

Dies war nichts Ungewöhnliches. Die Nähe der Landeshauptstadt und die Annehmlichkeiten der damals berühmten Allee, die Schubra mit Kairo verband, brachte mir manchen unerwarteten Gast, den ich meist dankbar willkommen hieß, denn es konnte zuzeiten in meiner grünen Einsamkeit sehr stille werden. Ich wollte wissen, wo sich der Besuch befände, um meine Gastfreundschaft an den Mann bringen zu können.

Der Herr des Esels sei im hintersten Teil des Gartens und sitze mit einem Schreibebuch auf dem Boden, wurde mir mit geheimnisvoller Miene mitgeteilt. Er schien dem Trio eine höchst bedenkliche Erscheinung zu sein. Die andere zwei Herren, die Herren der Droschke, seien im Salon und warteten, da man wußte, daß ich kommen werde.

»Aber«, sagte ich etwas erstaunt, »ich habe den Schlüssel des Salons in der Tasche!«

»Ja, Salaam!« rief der Boab, bemüht, mich zu beruhigen, »sie sind durchs Fenster eingestiegen. Es war sehr heiß hier außen, und das Fenster war glücklicherweise offen.«

Dies war neu. Ich muß ein etwas bedenkliches Gesicht gemacht haben, denn der Gärtner kam seinem Freund, dem Boab, lebhaft zu Hilfe.

»Malisch! Es tut nichts, o Herr«, begütigte er, »der eine ist dein Freund O'Donald von der Handelsgesellschaft. Er weiß den Weg und wir haben ihm eine Flasche von dem Wein hineingereicht, den er liebt.«

Ich hatte von jeher eine sentimentale Bewunderung für arabische Gastfreundschaft gehegt. Meine Leute sollten mich nicht beschämen.

»Ihr seid vortreffliche Menschen und musterhafte Hauswächter«, sagte ich deshalb und ging etwas rascher in das Vor- und Speisezimmer, das durch eine offene Glastür mit dem Garten in unmittelbarer Verbindung stand, um die legitime Tür des Salons aufzuschließen und mich von meinen Gästen empfangen zu lassen. Ehe ich jedoch den Schlüssel aus der Tasche zog, begrüßten mich die Klänge meines Pianos, eines guten deutschen Instruments, das ich mir, ein Jahr zuvor, in einer besonders trostbedürftigen Zeit aus der Heimat verschrieben hatte. Seitdem war ihm schon so manches kleine Abenteuer zugestoßen, daß ich mich kaum gewundert hätte, wenn es darauf verfallen wäre, in dem verschlossenen Zimmer auch einmal für sich allein zu musizieren. Es spielte langsam, aber sehr bestimmt, taktfest und streng einstimmig den Trauermarsch aus Händels Saul. Dies war das einzige Stück, das mein Freund O'Donald, allerdings nur mit einem Finger zu spielen vermochte, und das er unaufgefordert vortrug, wo sich irgend eine Gelegenheit dazu bot. Wie und wo er sich diese seinem Talent entsprechende Kunstfertigkeit erworben hatte, ist eine Geschichte, die leider nicht hierher gehört. Ich drehte rasch den Schlüssel und öffnete die Tür.

Der kleine, sonnenverbrannte Herr in seinem schneeweißen Anzug saß in der Tat vor dem Piano, den runden Kopf mit seinen überaus kurz geschorenen schwarzen Haaren liebevoll über die Tasten gebeugt und ließ sich nicht stören. Ein Erdbeben hätte dies nicht vermocht, ehe der Marsch zu Ende war. In der andern Ecke des Zimmers saß auf dem Divan ein großer magerer Mann in schwarzem Anzug, erhob sich zur Hälfte und starrte mich mit dunklen glänzenden Augen an, indem er mir zugleich ein Zeichen gab – halb verlegene Entschuldigung, halb dringende Bitte – den Künstler nicht zu stören. Sie waren offenbar beide entzückt von dem in Ägypten immerhin ungewöhnlichen Genuß, wie es nur Musikenthusiasten englischer Abkunft zu sein vermögen. Ich schlich mich auf den Zehen hinter O'Donald und wartete bis der letzte Ton mit großer Kraft und Befriedigung angeschlagen war, schlug ihn dann aber nicht minder kräftig auf die Schulter. Er drehte sich samt dem Musikstuhl langsam um und sagte zutraulich: »Wissen Sie, das war wieder einmal nicht schlecht!« Dann begrüßten wir uns.

Bekanntlich versteht man bei Vorstellungen auch in Deutschland den Namen dessen nie, den man soeben mit so großem Vergnügen kennenzulernen die Ehre hat. Bei Vorstellungen nach englischer Art ist dies noch zehnmal schlimmer, weil es der britische Anstand verlangt, dreiviertel aller Silben zu verschlucken und den kümmerlichen Rest möglichst unhörbar zu lispeln. Ich war deshalb doppelt erfreut, ziemlich klar darüber zu sein, daß mir O'Donald einen Herrn Joseph Finke – den Reverend Doktor Finke – gebracht hatte, welcher dringend wünschte, mich als einen in Ägypten ansässigen und ortskundigen Mann kennenzulernen, der als Ingenieur sich gewiß eingehend mit den berühmten Bauwerken des Pharaonenlandes zu beschäftigen pflege.

›Dr. Finke‹ klang gut deutsch, und manches andere in der Erscheinung und dem Benehmen des Herrn hätte diesen Eindruck bestärken können. Doch fehlte zum deutschen Doktor die Brille und verschiedene Kleinigkeiten von ähnlicher Bedeutung. Zum Beispiel war der Herr, wenn auch unpassend für das ägyptische Klima, in seinem dunkeln Salonanzug überaus sorgfältig gekleidet. Das feingeschnittene Gesicht war etwas bleich, und zwei glänzende schwarze Augen gaben ihm ein eigentümlich fremdartiges, wie abwesendes Leben, denn sie schienen, wenn er sie aufschlug, weit in die Ferne zu sehen. Um die dünnen Lippen spielte ein gewinnendes, halb trauriges Lächeln, als ob er beständig jemanden überreden wollte, den er lieb hatte, der aber auf ganz falschen Wegen ging. Manchmal konnte man auch eine gewisse Hilflosigkeit in den Zügen lesen, die im nächsten Augenblick wieder einem entschlossenen, fast begeisterten Ausdruck wich. Sein Mienenspiel sagte dann mit merkwürdiger Deutlichkeit: Ich weiß zwar nicht aus noch ein, aber das macht nichts. Ich bin meiner Sache sicher: es wird alles werden, wie es werden muß. Im übrigen war es eine etwas ungelenke hagere Gestalt, die, als er wieder auf dem Divan niedersaß, das glattrasierte Kinn seinen Knien gefährlich nahebrachte.

»Der Herr Doktor ist mit Empfehlungsbriefen unseres Londoner Geschäftshauses vorgestern hier angekommen«, begann O'Donald zu erklären. »Briefe erster Klasse!« fügte er leise, mit halb zugekniffenen Augen bei, womit er mir einen Wink hinter Finkes Rücken geben wollte. Dann fuhr er laut fort: »Er reist zu seinem Vergnügen alten Denkmälern nach – ich wollte, wir hätten es auch so gut, Eyth – und hat ganz wunderbare Ideen mitgebracht, die kein Mensch versteht. Sie verzeihen, Herr Doktor, aber Sie müssen mir schon erlauben, Herrn Eyth in unserer hierzulande üblichen Sprache aufzuklären. Da dachte ich gleich, dies sei etwas für unsern Freund in Schubra. Sie wissen, Herr Doktor, die etwas gebildeteren Deutschen sind auch alle halb verrückt.«

Da hierbei der Doktor nervös in die Höhe fuhr und O'Donald und mich erstaunt und verlegen ansah, fügte der etwas allzu humorvolle Prokurist der Ägyptischen Handelsgesellschaft rasch hinzu, indem er dem Gelehrten die Hand beruhigend auf die Schulter legte:

»Macht nicht, macht nichts! Ich habe ihm dies schon öfter mitgeteilt. Er will es zwar noch nicht verstehen, es ist für ihn zu natürlich. Volk der Denker! Das kann auf die Länge nicht gesund sein. – Doch lassen Sie mich gefälligst fortfahren«, wandte er sich wieder an mich. »Ich habe dem Herrn Doktor meine Gewehre angeboten, habe mich bereit erklärt, ihm meine zwei Vorstehhunde zu leihen, die ich vorige Woche aus England erhalten habe; er will nichts von beidem wissen. Kein Jagdfreund. Es gibt unbegreifliche Menschen auf dieser sonst runden Erde. Und doch, er bewundert Musik. Aber außer meinem Trauermarsch ist in Ägypten nicht viel zu hören; obgleich auch Sie ein wenig klimpern. Der Februar ist noch ein erträglicher Monat zu einem Ausflug nach dem Sinai, und gestern war ein Trupp Beduinen in der Stadt, mit denen sich ein Abkommen für eine interessante Überlandtour hätte treffen lassen: Gosen, rotes Meer, Mosesquelle, Tal der Verirrungen und so weiter. Aber unser verehrter Freund will nicht auf den Sinai. – Pyramiden! Er will Pyramiden studieren. Was sich an einfachen Dreiecken studieren läßt, sie mögen noch so groß sein, ist mir schon zur Schulzeit unklar geblieben. Vielleicht läßt sich in Gise feststellen, ob die Menschheit vor zehntausend Jahren –«

»Viertausend, genauer 4025«, unterbrach ihn zum erstenmal Dr. Finke, indem er einen fast schmerzlichen Blick auf mich warf.

»Viertausend und fünfundzwanzig also!« rief O'Donald fröhlich zustimmend. »Es wäre vielleicht festzustellen, ob die Schulmeister damals schon ebenso langweilig waren wie die Meinigen. Gut! Als ich mir dann gestern abend erlaubte, zu erzählen, daß ich bei Ihnen auch schon Spuren pyramidaler Verirrungen bemerkt habe, zu Zeiten, in denen Sie nicht durch Dampfpflüge und Wasserpumpen im Gleichgewicht gehalten werden, ließ unser verehrter Freund mir keine Ruhe mehr. Er ahnte in Schubra eine verwandte Seele.«

Der durch einen jahrelangen Aufenthalt im Orient etwas verwilderte Prokurist stand auf, offenbar in der Absicht, sich wieder ans Piano zu setzen. Ich hielt ihn mit Gewalt zurück.

»Man muß meinen Freund O'Donald verstehen, Herr Doktor«, sagte ich zu meinem Gast, der sich bemühte, sein Entsetzen niederzukämpfen. »Er gebraucht, wie er selbst angedeutet hat, seine eigene Sprache, hinter der aber nicht viel Böses steckt.«

»Ich verstehe; gewiß, ich verstehe – nicht viel steckt!« wiederholte der Doktor, mit einem Zwinkern in den träumerischen Augen, das ich dort nicht vermutet hätte. »Aber ich bin trotzdem Herrn O'Donalds Schuldner. Ich verdanke ihm unsere Begegnung, Herr Eyth, die Bekanntschaft eines Deutschen, der nicht, wie meine armen Landsleute so oft, an der Oberfläche der Dinge haften bleibt. Sie gehören einem Volke an, das in die Tiefe zu dringen weiß und dem nichts zu hoch ist. Das hat seine Nachteile für das vielgerühmte praktische Leben, dem wir alle Irrtümer und alles Elend des Daseins verdanken. Aber es bleibt eine bewundernswerte Eigenschaft, die mich in Deutschland oft genug mit schmerzlichem Neid erfüllt hat.

»Sie kennen Deutschland?« fragte ich, durch diesen ungewohnten Ausbruch aufs angenehmste überrascht.

»Gewiß kenne ich Ihr Vaterland«, erwiderte Finke, seinen ernsthaftesten Fernblick fest auf O'Donald richtend, der wieder unruhig wurde. »Das Vaterland! Warum sollten wir Angelsachsen es nicht auch so nennen? Es ist germanisches Blut hier wie dort. Ja; ich war viele Jahre in Deutschland und habe in Bonn und Heidelberg und später in Göttingen schöne Tage erlebt; herrliche Tage. Ich bin stolz darauf, ein deutscher Doktor zu sein!«

Was Jugendeindrücke nicht alles machen! Darauf brauchte er wirklich nicht stolz zu sein; ein deutscher Doktor ist beträchtlich billiger als ein englischer, dachte ich in meiner damals noch zeitgemäßen nationalen Bescheidenheit. Doch hütete ich mich, ihm die schöne Illusion zu nehmen, um so mehr, als er jetzt munter weiterplauderte:

»Ich kam aus meiner schottischen Heimat zuerst nach Bonn. Mein Landsmann Carlyle gab den Anstoß dazu, wenigstens mittelbar. Was er in Ihrem Vaterland fand, wollte ich auch finden: Tiefe, Innerlichkeit. Das deutsche Studentenleben fiel mir etwas sauer, anfänglich. Das Bier ist zu leicht für einen schottischen Magen, und mit der deutschen Metaphysik geht es uns umgekehrt. Doch wir sind zäh im Norden. Ich hielt beides aus. Wahrhaft wohl wurde mir jedoch erst, als ich meinen Weg in die philologischen und später in die geschichtsphilosophischen Abgründe der deutschen Forschung zu finden begann. Ihnen, den Deutschen, ist es gelungen, das klassische Altertum in seiner ganzen Reinheit wieder ins Leben zurückzurufen, klassische Bildung ins Blut des Volkes einzuführen, so daß sie eine widerstandsfähige Kraft geworden ist, die dem Eindringen des modernen flachen materiellen Geistes, der wahrhaftig mehr Leib als Geist ist, Einhalt gebietet, wie eine Mauer. Gewiß, wir haben auch in England einzelne Gelehrte, die jedem würdig zur Seite stehen, der in Deutschland unsere Bewunderung verdient. Was aber Ihnen gelang, ist, ein Volk von Gebildeten zu erziehen, das unbeirrt von äußeren Verhältnissen seine tiefste Befriedigung, sein Glück und seine Stärke in der frischen Kraft des alten Roms, in dem jugendlichen Denken und Fühlen des alten Griechenlands gefunden hat.«

Ich ließ den Kopf hängen, während O'Donald seinen Trauermarsch auf dem Tisch zu trommeln begann und leise dazu pfiff. Finke aber fuhr begeistert fort:

»Es ist ja natürlich, daß ihre Landsleute dadurch dem Leben der Gegenwart etwas entfremdet worden sind, daß sie sich nicht selten im Rauch und Dampf, in der Hast und dem Lärm unserer Tage nicht heimisch fühlen. Ja, es ist möglich, daß die Innerlichkeit des deutschen Lebens gewisse Nachteile mit sich bringt, die Sie, anderen Völkern gegenüber, manchmal unbehaglich empfinden. Beneidenswertes Unbehagen! Welche Vorteile haben Sie dagegen eingetauscht in Ihrer beständigen Berührung mit jener klassischen Welt, zu der die Menschheit immer aufblicken wird, so oft sie sich sammelt und wiederfindet, mit jener sonnenhellen Klarheit des Denkens und des Ausdrucks, mit dem Sie von Kindesbeinen an vertraut gemacht werden und das noch das Stammeln Ihres Greisenalters ziert.«

»Verehrtester Doktor«, fiel ich ein, »sind Sie wirklich in Deutschland, in meinem Deutschland gewesen?« – Aber es half nichts; er ließ sich nicht anhalten. Seine Augen fingen an zu leuchten:

»All das scheint mir so natürlich, so selbstverständlich: der Lohn jener Selbstzucht, deren Gebote Ihnen Ihr großer Kant auf ehernen Tafeln hinterließ. Waren nicht jene klassischen Zeiten dem Augenblick so viel näher, an dem Gott sprach: es werde Licht? Dem Tag, an dem der Mensch, reineren Geistes und erhabeneren Sinns, aus der Hand seines Schöpfers kam? Wieviel ist seitdem geschehen, das diesen Zusammenhang trübt und verwirrt. Ich weiß, Ihre Landsleute tun es nicht mit dem vollen Bewußtsein, sich an den Idealen des klassischen Altertums zurückzufinden zu jenem erhabensten aller Augenblicke, den die Geschichte der Menschheit je gekannt hat. Aber ich sehe trotzdem in der Geistesrichtung der deutschen Erziehung die segensreiche Wirkung eines Instinkts, der keinem anderen Volke in ähnlicher Stärke gegeben worden ist.«

»Ja«, sagte O'Donald, seinen getrommelten Trauermarsch für einen Augenblick unterbrechend, – »und der unsern Freund Eyth zu einem prächtigen Schulmeister ausgedörrt hätte, wenn er nicht beizeiten durchgebrannt wäre.«

Finke, dessen schwarze Augen über ein paar Jahrtausende wegstrahlten, sah und hörte den unehrerbietigen Prokuristen nicht.

»Ich hatte einen Busenfreund in Bonn«, fuhr er fort, »mit dem ich diese Dinge unzählige Mal besprach, während wir von der Höhe des Siebengebirgs in den träumerischen Rhein herab sahen. Er starb, allzufrüh für diese Welt, als Bibliothekar in Greifswald; ein Mann, den ich einen der Geistesheroen seiner Zeit nennen darf, wenn ihm auch äußerer Ruhm versagt blieb. Er hinterließ ein leider noch heute ungedrucktes vierbändiges Werk über die unregelmäßigen griechischen Zeitwörter und ihren Zusammenhang mit gewissen Formen des Sanskrit. Ich werde ihn nie vergessen. Er war auf dem richtigen Weg, der via triumphalis, die Ihre Landsleute zum Heil der Menschheit zu pflastern bestimmt sind.«

»Pflastern ist eine durchaus achtbare Beschäftigung«, begann O'Donald wieder, »doch gehört ein höherer Geist dazu, als er mir beschieden ist, sie unbedingt zu bewundern.«

»Das glaube ich«, sagte der Doktor mild und legte seine Hand auf O'Donalds Finger, um dem Trauermarsch Einhalt zu tun. Dann wandte er sich wieder an mich:

»Eins ist und bleibt mir rätselhaft: Wie kommt es, daß der gewissenhafte, gründliche Deutsche bei den Römern und Griechen stehen bleibt. Hinter diesen begnadeten Völkern liegt noch soviel! – soviel Höheres!«

»Die Pyramiden, zum Beispiel!« rief der ununterdrückbare O'Donald, indem er sich bemühte, seine Finger wieder frei zu bekommen.

»Ganz recht, die Pyramiden«, wiederholte Finke freudig. »Eine Pyramide wenigstens. Ich spreche nicht von der ägyptischen Kultur im allgemeinen, so hochbedeutsam sie sein mag. Wieviel ist hier noch auszugraben, zu entziffern, zu erforschen. Die Franzosen mit ihrer angebotenen Leichtfertigkeit und ihrem gänzlichen Mangel an Ehrfurcht, von Champollion bis Mariette haben mehr geschadet als genützt. Der alte, kluge Greaves, Howard-Vyse, Wilkinson und andere ahnten wohl den richtigen Weg; man glaubt manchmal ihr Heureka zu hören; aber sie haben ihn nicht gefunden.«

»Und unser Brugsch, unser Lepsius!« warf ich endlich einmal ein; denn ich hatte vor wenigen Monaten den Stolz der deutschen Ägyptologen, in Schweiß gebadet und staubbedeckt, aus einer halbverschütteten Grube gezogen und hochschätzen gelernt.

»Brugsch kenne ich nicht, ich höre, er läuft den Franzosen nach«, antwortete Finke ungeduldig und fuhr dann mit einem Seufzer fort:

»Ach ja, Lepsius! Gewiß, Lepsius. Ein wackerer, gewissenhafter Mann; ein deutscher Gelehrter, ohne Zweifel. Aber in Vorurteilen befangen, die ihn verführen, jedem heidnischen Phantasiegebilde nachzuspüren, als ob er daraus eine Wahrheit konstruieren könnte. Solchen Herren fehlt die Ehrfurcht vor den großen Geheimnissen, die sie umgeben. Daraus erklärt sich ihre Unfähigkeit, das Höchste zu erfassen.«

»Was nennen Sie das Höchste? Haben Sie es erfaßt?« fragte ich, nun selbst den Gleichmut ein wenig verlierend: Ich konnte dem Flug Finkes nicht mehr folgen. Er packte jetzt mit der anderen Hand auch meine Finger, und preßte sie sanft.

»Darüber, verehrter Freund, werden wir wohl noch sprechen. Es ist der Morgenstern, der mich nach Ägypten geführt hat. Wären Sie so sehr erstaunt, wenn man auf diesem Boden, der seit vielen Jahrtausenden das Wunderland der Welt ist, eine der heiligen Wahrheiten entdeckte, für deren Entfaltung der Menschheit die Erde zur Wohnstätte gegeben wurde? Und wenn es uns – mir und Ihnen – vergönnt sein sollte, an dieser Entdeckung teilzunehmen, die unserer Zeit und unserem Volke vorbehalten zu sein scheint; ich nehme keinen Anstand, sie mit einzuschließen, Herr Eyth, denn ich spreche von der großen germanischen Rasse, die bestimmt ist, sich über den Erdkreis zu verbreiten, und ihn in anderer, edlerer Weise zu beherrschen, als es jenem auserwählten Stamm aus dem Geschlechte Sems bis heute gelungen ist, der seine geheiligte Bestimmung von sich stieß –«

Er hielt an, um Atem zu schöpfen.

»Sie sprechen in Rätseln!« sagte ich, mit dem unbehaglichen Gefühl, immer tiefer in einen Sumpf zu geraten.

»Ich spreche von Rätseln, ja! Aber wir sind an dieser Stelle, im Schatten der großen Pyramide ihrer Lösung näher, als Sie glauben. Ich werde heute nicht zu viel sagen, denn ich möchte Sie nicht erschrecken. Sie sind erschrocken, ich sehe es Ihnen an. Aber ich weiß auch, daß wir uns verstehen werden, mit der Zeit. Sie müssen sich Zeit lassen. Ich habe in dieser Hinsicht manch bittere Erfahrung gemacht, und möchte sie hier nicht wiederholen. Denn ich bedarf Ihrer.«

»Der Mann ist verrückt!« dachte ich heimlich, und sah O'Donald fragend an. Dieser, wie ich leicht bemerken konnte, dachte genau dasselbe, ohne ein großes Geheimnis daraus zu machen. Kaum hörbar, während der Doktor in träumerischer Begeisterung zum Fenster hinaus in das Gewirr meiner Dattelpalmen starrte, flüsterte er mir zu:

»Harmlos! Einführungsbriefe erster Klasse. Unbeschränkter Kredit!« –

Hatte Finke doch etwas gehört? Er zuckte leise zusammen und fuhr mit der Hand über das Gesicht. Als er mich wieder ansah, hatten seine Augen den matten Glanz wie gewöhnlich.

»Ich habe im Sinn, dieser Studien wegen ein paar Monate hier zu bleiben, wenn es mir nicht zu heiß wird«, begann er wieder, ruhig und freundlich. »Nach dem, was mir Herr O'Donald von Ihnen erzählt hat, fürchte ich, daß ich Sie mehr als einmal mit einer Bitte um Auskunft, um einen Rat angehen werde, da Sie Land und Leute immerhin sehr viel besser kennen müssen, als ich mit meiner Erfahrung von drei Tagen. Es ist deshalb notwendig, Ihnen zu sagen, wer ich bin und was ich will. Wollen Sie mich anhören?«

Dies klang praktisch und brauchbar. Dann aber fuhr er fort, wie wenn er mir eine Pistole auf die Brust setzte:

»Kennen Sie Piazzi Smyth?«

»Nein!« ich hatte den wunderlichen Namen in meinem Leben nie gehört.

»John Taylor?«

Taylors kannte ich in Menge, selbst einen John Taylor. Sie sind in Yorkshire so häufig, wie Schultze und Müller in Berlin. Die ersten Panzerplattenschmiede in Leeds konnten aber die Leute kaum sein, die er meinte, ebensowenig die großen Flachsspinner in Bradford. Von beiden Geschäftshäusern hatte Finke keine Ahnung. Kurz, es stellte sich heraus, daß ich seinen Taylor ebensowenig kannte wie seinen Piazzi. Er seufzte.

»Da muß ich wohl mit dem Anfang anfangen und Sie müssen mir verzeihen, wenn ich Sie mit persönlichem Kleinkram belästige. Ich bin Schotte und war Landgeistlicher der schottischen Staatskirche in Glenisloch, wie es mein Vater gewesen ist. Ein stiller Ort zwischen kahlen Bergen. In der Nähe befindet sich ein einsamer großer Bergsee, der Mulardoch, der schuld daran ist, daß das Tal neun Monate des Jahres im Nebel begraben liegt. Das verinnerlicht den Menschen, wie Sie sich denken können. Man lernt mit anderen Augen sehen, so daß ich kein Dorf in Schottland kenne, wo die Leute mehr vom zweiten Gesicht wissen als in Glenisloch. Mein guter Vater, sonst ein kluger, kühler Mann, glaubte daran, wie an seine Bibel. Wir waren drei Brüder. Ich, der zweite, habe vielleicht am meisten von der Luft unseres Heimattales eingesogen. Wir alle drei strebten jedoch hinaus – das lag auch in der Luft von Glenisloch – jeder allerdings in anderer Weise.

Am meisten Sorge machte den Eltern der älteste Bruder David. Meine gute Mutter hatte für unsere Zukunft nur einen Herzenswunsch: Sie wollte drei Söhne haben, die aller Welt das Wort Gottes verkündigten. Der Vater sollte uns unterrichten, bis es Zeit war, die Universität in Edinburgh zu beziehen. Aber David sträubte sich mit der Starrköpfigkeit eines echten schottischen Jungen gegen alles, was klassischem Wissen und theologischen Studien ähnlich sah. Es kostete ein jahrelanges Ringen, bis sich der Vater entschloß, den unbändigen Erstling zu einem entfernten Vetter in eine Fabrik nach Glasgow in die Lehre zu geben, wo Schiffsgeräte aller Art hergestellt wurden. Aber auch dort, wo man schon die Seeluft riecht, wollte der unruhige Bruder nicht lange gut tun. Der Kampf zwischen dem Geist des Elternhauses und seinen natürlichen Neigungen hatte zu einer tiefen Verstimmung auf beiden Seiten geführt. Ohne die Zustimmung der Eltern ging er schließlich als Schiffsjunge, soviel man erfahren konnte, nach Indien und blieb jahrzehntelang verschollen. Dann kamen Nachrichten, daß es ihm gut, mehr als gut gehe. Leider erlebten dies die Eltern nicht mehr. Und schließlich wollte es das Unglück, daß er als eines der ersten Opfer des großen indischen Aufstandes, bei einem Fluchtversuch aus dem Innern des nördlichen Dekans in einem Boot auf dem Ganges treibend erschossen wurde. Ein wildes, aber nicht nutzloses Leben, wie es Hunderten von Jungen unserer rauhen Heimat beschieden ist, deren Arbeit und deren Blut die Größe des britischen Reichs aufbauen und erhalten. Und mehr noch: Was sie draußen erringen, hilft oft genug dem innern Leben in der Heimat; ich will das dankbar anerkennen.

Der jüngste Bruder Benjamin war eine ähnliche Natur, wenn auch sein Lebensweg, Gott sei Dank, weniger abenteuerlich verläuft. Die Eltern hatten mit David eine bittere Erfahrung gemacht, die dem Jungen zugute kam. Er erhielt seine Erziehung als Zivilingenieur in Glasgow, und hat unser bescheidenes väterliches Vermögen in Erfindungen angelegt, die nie einen Heller gebracht haben, aber ebensowenig seinen Mut und seine Hoffnungsfreudigkeit zu dämpfen vermochten. Ich verstehe ihn so wenig, wie ihn die Eltern verstanden, deren Sinn und Geist auf mich allein übergegangen zu sein schien. Aber selbst in mir steckte etwas von dem Wandertrieb, den die Nebel des Loch Mulardoch groß ziehen. Mein Vater gestattete mir, meine Studien in Edinburgh zu unterbrechen und mich ein halbes Jahr in Deutschland umzusehen. Wie ich schon bemerkte: In den ersten Monaten wollte mir das Leben am Rhein nicht behagen. Die Luft war mir zu hell, das Land zu sonnig und das Studentenleben zu bunt und zu laut. Es schien mir eine Welt voll großer Kinder, deren allzu harmloses Lachen nur aufhörte, um über den lächerlichsten Kindereien komisch ernste Gesichter zu schneiden. Als aber der Herbst vorüber war und ich endlich Zeit fand, mich in deutsche Bücher zu versenken, entdeckte ich, was niemand unter der sonnigen Oberfläche vermutet hätte. Ich fühlte mich zuhause hinter der deutschen Studierlampe; mehr als zuhause. Dichtere Nebel als am Loch Mulardoch schienen mich liebevoll zu umgeben und langsam, aber immer deutlicher, immer herrlicher traten aus ihrem Wallen und Wogen die Gebilde hervor, die das Volk der Denker zu gestalten weiß, um in einer höheren Welt die Nichtigkeiten der Wirklichkeit zu vergessen. – Aus den sechs Monaten wurden drei Jahre und wären vielleicht noch mehr geworden, wenn mich nicht der Tod meines Vaters zurückgerufen hätte. Schon der Mutter zuliebe mußte ich das Amt übernehmen, das er fast fünfzig Jahre lang getreulich verwaltet hatte. Es war dies, in der Familie wie in der Gemeinde, seit meiner Knabenzeit eine ausgemachte Sache und nun eine Pflicht geworden, der ich mich nicht entziehen konnte noch wollte.

So war ich achtundzwanzig Jahre lang Pastor in dem nebelbegrabenen Dörfchen meiner alten Heimat. Die Gemeinde war klein und ist es geblieben. Die Fische im See und der rauhe Boden tragen nicht mehr. Aber die einfachen Leute halten fest an ihrem alten Glauben wie an ihren alten Sitten. Dazu hätten sie kaum einen Pastor gebraucht, wenn er nicht zu diesem Glauben gehört hätte. Eisenbahnen haben ihren Weg in das abgelegene Tal bis heute noch nicht gefunden, und ein paar Fischerkähne aus Großvaters Zeiten – gezimmert, nicht aus einem Baumstamm geschnitzt! – sind die modernsten Fahrzeuge der Gegend geblieben. Solche Verhältnisse ließen mir Zeit und Stimmung, meine Lieblingsstudien fortzusetzen, und immer mehr gewann ich die Überzeugung, daß die Welt des klassischen Altertums nicht das Endziel unserer Forschungen bleiben dürfe. Sie hat dem menschlichen Geist Form und Gestalt gegeben, aber hinter jenen Zeiten liegt mehr, hinter diesen Formen liegt Tieferes. Zurück, zurück! Das war zwanzig Jahre lang der leitende Gedanke meiner Arbeit, das Leben meiner Einsamkeit.«

»Sie hatten keine Familie, Herr Doktor?« fragte ich, um auf etwas festeren Boden zu kommen.

»Nein«, antwortete er im Tone zweifelnder Unsicherheit. »Nein; das heißt, ich hatte eine Frau, mit der mich meine wackere Mutter noch in den letzten Jahren ihres Lebens verheiratete. Ein gutes, sanftes Wesen, das zu meiner tiefsten Betrübnis, wie ich nachträglich bemerkte, die Nebel des Loch Mulardoch nicht ertragen konnte und nach wenigen Jahren von mir schied. Ich weiß, und es ist mir ein Trost zu wissen, daß sie in einem sonnigeren Land das Glück gefunden hat, das ihr Glenisloch nicht geben konnte. Für jenes höhere Leben, das mich über die äußerliche Trübseligkeit der Umgebung erhob, war ihr leider der Sinn versagt. Doch auch die wohltuende Stille meiner Kreise wurde durch zwei große Ereignisse unterbrochen. Das erste war meine Berührung mit Piazzi Smyth, dem viel verkannten Gelehrten der Sternwarte von Edinburgh, und mit seinem Freund und Meister John Taylor, jenen zwei Männern, die ihr ganzes Sinnen und Trachten dem großen Problem zugewandt haben, das schon seit Jahrtausenden die denkende Menschheit beschäftigt, und denen es vergönnt scheint, den Schleier zu heben, wenn auch vielleicht nur zum kleinen Teil zu heben, der die größten Geheimnisse unserer irdischen Welt noch heute verhüllt.«

»Sie meinen?« wagte ich zu fragen. Je mehr der gute Doktor, dem es bitter ernst zu sein schien, in der Schilderung seines Lebens fortschritt, um so weniger wußte ich, wo er hinauswollte.

»Wollen Sie wirklich sagen, lieber Herr Eyth, daß Sie es nicht gefühlt haben?« sagte er, fast flüsternd, mit einem schmerzlichen Zug um den Mund. »So nahe! So nahe und ohne Ahnung!«

Dies wurde nachgerade peinlich. Ich raffte mich zusammen und sagte ziemlich scharf. »Nein, Herr Doktor, ich habe nichts gefühlt!«

»Die große Pyramide! Die Pyramide des Hirtenkönigs; das Rätsel aller Rätsel«, rief er leidenschaftlich. Dann, nach einer längeren Pause fuhr er niedergeschlagen fort:

»Ich sehe, ich bin wieder zu rasch gewesen. Mein alter Fehler, mit dem ich schon so viel Unheil angerichtet habe. Und doch wissen wir seit achtzehnhundert Jahren, daß man die Perlen nicht vor die – Ich bitte um Verzeihung, Herr Eyth!«

Er stockte und bot mir die Hand über den Tisch, die leise zitterte. Ich schüttelte sie und dachte dabei, daß es klüger sein dürfte, seinen unterbrochenen Gedankengang nicht weiter auszuspinnen. Ich fragte deshalb mit etwas erzwungener Heiterkeit: »Und was war das zweite Ereignis, das Ihre Idylle in Glenisloch unterbrach?«

»Eine bloße Äußerlichkeit, aber das Merkwürdigste, was man sich denken kann. Infolge der Erfindungen meines Bruders Benjamin waren wir arm geworden wie Kirchenmäuse. Es wäre mir dies fast gleichgültig gewesen, wenn es mich nicht gehindert hätte, die oft teuren Werke zu beschaffen, welche verläßliche Mitteilungen über die neuesten Funde in Ägypten, Chaldäa, Mexiko brachten, oder wo immer sonst gegraben und geforscht wurde. Da kamen Nachrichten aus Indien. Unser verschollener Bruder war tot, und wir beide, Ben und ich, waren plötzlich reiche Leute, mit der Verpflichtung, für sein Töchterlein zu sorgen, das sich schon auf dem Wege von Kalkutta nach England befand. Sie können sich denken, in welche Aufregung mich dies versetzen mußte. Ich als der Ältere sollte zuerst die Pflichten eines Vormundes und Onkels erfüllen. Zum Glück war das Kind noch klein, und doch nicht so klein, um es nicht einer Erzieherin überlassen zu können, die ich mit Hilfe meiner deutschen Freunde sofort verschrieb. Mein Bruder Ben protestierte zwar. Wir waren auch in diesem Stück, wie in allen andern Dingen, verschiedener Meinung. Er hält nicht viel von Ihrem Vaterland; was ich von deutscher Erziehung denke, wissen sie. Da er aber mit der Erfindung eines Ringofens für gepreßte Backsteine sehr beschäftigt war, den er nunmehr ausführen lassen konnte, so drang ich durch.

Auch ich mußte und konnte nun manches ausführen, woran ich noch wenige Monate zuvor nicht zu denken wagte. Unser indisches Pflänzchen, das sein erstes Jahr in England mit mir in Glenisloch zugebracht und dann, den Testamentsbestimmungen gemäß, das zweite Jahr bei Bruder Ben in London gelebt hatte, konnte einen zweiten Aufenthalt in dem nordischen Nebel nicht ertragen. Auch mich zog es hinaus; der Umgang mit gleichgesinnten Menschen wurde mir wieder Bedürfnis. Ich übergab mein Amt einem Bruder meiner seligen Frau und mietete eine kleine Villa in Sydenham. Dort, eine Stunde entfernt von der Bibliothek und den Schätzen des britischen Museums, im Bereich aller Hilfsmittel zum Studium der verborgensten, vergessensten Fragen, die sich der Mensch je gestellt hat, begann für mich ein Leben reinsten Genusses, dem bald der tiefste Ernst seine Weihe gab. Ich beschränkte mich zunächst auf das Gebiet altägyptischer Dinge, und bald fand ich, daß auch in jenem Lande nur ein Ding der Forschung wert war. Dabei trat ich durch Vermittlung meines Freundes und Landsmanns Smyth dem ehrwürdigen John Taylor näher. Unter seiner Führung sah ich die ersten Lichtstrahlen auf dem Weg, der mich nunmehr bis hierher, bis an den Fuß der Pyramide des Hirtenkönigs geführt hat.«

»Sie erwähnten den Herrn schon früher«, sagte ich, natürlich auf Taylor, nicht auf den Hirtenkönig bedacht. »Wollen Sie mir gütigst mitteilen, in welcherweise dieser große Mann Licht verbreitet?« Ich sträubte mich noch immer, in den ernsten Ton des bewegten Doktors einzustimmen.

»Ein gottbegnadeter Mann«, antwortete er unentwegt. »Wenn Sie Ihr Lächeln, das ich Ihnen nicht verüble, unterdrücken könnten, würde ich ihn auch in Ihrer Gegenwart einen Propheten nennen: einen Propheten, der nach rückwärts sieht. Sie werden mich später noch verstehen lernen, und nicht mehr lächeln.«

O'Donald, dem es bei der ganzen Unterhaltung höchst unbehaglich geworden war, hatte sich der sanften Hand des Doktors entbunden. Er saß wieder am Piano und begann triumphierend die zweite Aufführung seines Trauermarsches. Ich warf ihm einen strafenden Blick zu, obgleich Finke mit sichtlicher Freude den harten, schwermütigen Tönen lauschte. Die Sonne mußte eben untergegangen sein, denn die kurze ägyptische Dämmerung warf ihre Schatten bereits in das bei lichtem Tage düster gehaltene Zimmer. Wir schwiegen minutenlang. Eine schwüle, unerklärliche Schwere lag in der Luft. Alles schien plötzlich fremd und geheimnisvoll werden zu wollen, wie mir meine eigenen Räume noch nie vorgekommen waren. Zum erstenmal hatte wohl O'Donald, dieser zu jedem verrückten Streich stets aufgelegte Mensch, in einem solchen Stimmungsbild mitgewirkt. Er schien dies selbst zu fühlen und begann, mitten in seinem Marsch abbrechend, von neuem, leiser, eine Oktave tiefer. Es war, als ob der alte Saul wiederkäme oder andere, uralte Gespenster, aus chaldäischen Zeiten. Der Doktor aber wiegte den Kopf im Takte hin und her, als ob es ihm niemals wohler gewesen wäre.


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