Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Die weiße Krönleinschlange.

In der Lüsen erzählen sich die Leute, daß vor vielen, vielen Jahren die Matta-Bärbel, die Ziegenhirtin auf der Wegwacht gewesen ist, einmal einen hellen Schein im Grase erblickte. Und als sie näher hinzutrat, da sah sie zwölf kupferbraune Schlangen, die im Kreise herumlagen und sich behaglich sonnten. In der Mitte aber saß eine weiße, die hielt ihren Hals zierlich und kerzengerade in die Höhe, und auf dem Kopf trug sie ein güldenes Krönlein, das weithin glänzte.

Die Matta-Bärbel schlug verwundert die Hände zusammen, sie getraute sich kaum zu rühren und betrachtete die Schlangenkönigin, ohne ihr etwas zuleide zu tun, bis diese sich in Bewegung setzte und mitsamt ihren zwölf Trabanten im Alpenrosengestrüpp verschwand. Und man sah seitdem die weiße Schlange mit dem güldenen Krönlein noch oft in der Gegend, und solange sie da war, herrschte überall Glück, Wohlstand und Segen, auf der Wegwacht und in der ganzen Lüsen.

Viel später dann, aber noch immer vor hundert Jahren oder länger, da war die Matta-Bärbel längst alt geworden oder gestorben, und statt ihrer weidete ein Junge die Ziegen auf der Wegwacht. Der saß einmal vor dem Hause und löffelte Milch mit eingebrockten Eierschnitten aus einem Napf. Da schlich die Krönleinschlange sachte heran, setzte sich zu ihm und hielt mit, als ob sie eingeladen wäre. Als der Bub jedoch sah, daß sein Gast nur die Milch soff, das Feste aber liegen ließ, da schlug er die Schlangenkönigin mit dem Löffel auf den Kopf, daß das güldene Krönlein klirrend herunterfiel, und sagte: »Du, friß auch Brocken, nicht lauter Schlappes!«

Seither ist keine weiße Schlange mehr in der Gegend zu sehen gewesen, und mit dem Glück war es aus.

Inzwischen hat die Wegwacht längst aufgehört, ein Weideplatz für Bergziegen zu sein. Glatte Rinder weiden das würzige Gras zwischen den vielen großen Steinen, die umherliegen, und von den Felsen rings schallt das Geräusch der Arbeit. In der Lüsen aber sind die Menschen wieder zu Wohlstand gekommen, an den blanken Fenstern der Häuser und in den kleinen Gärten davor blühen bunte Blumen, und die Väter, die mit Weib und Kind am Abend gemächlich auf der Bank vor dem Hause sitzen und von ihrem Tagewerk ausruhen, sehen so zufrieden aus, als hätten sie das Ihrige getan und keine anderen Sorgen zu fürchten als die, die ihnen das Schicksal auch ohne ihre eigene Schuld aufbürden wird, so oft es ihm gefällt. Das sind freilich oft die schwersten und doch am leichtesten zu tragen.

Wenn aber um die Mittagsstunde oder zum Abendbrot der Hausvater und die Seinigen sich um die Schüssel setzen, so kommt manchmal die weiße Krönleinschlange, die sich längst wieder eingefunden hat, sachte herangeschlichen und hält mit, als ob sie zu Gast geladen wäre. Und sie kann Trocknes oder Nasses nehmen, wie es ihr beliebt, keines schlägt sie mit dem Löffel auf den Kopf, sie sind nur froh, daß sie wieder da ist. Sie stellen sich an, als ob sie sie gar nicht sehen würden, und plaudern fröhlich miteinander während des Essens, nehmen sich zusammen und sind so behutsam, ehrbar und heiter als möglich. Denn sie wissen, so hat es die weiße Schlange gern, und möchten sie beileibe nicht wieder fortscheuchen.

Noch nie hat sich die Schlangenkönigin so oft in der Gegend gezeigt wie gerade diesen Frühling. Noch nie war der Himmel über den Bergen so blau, noch nie schien die Sonne so wonnig, wehte der Wind so lind, noch nie blühten auf allen Wiesen so unzählige Feuerlilien und duftende Narzissen.

Ist es nicht, als hätte die Wegwacht sich zu einem Fest geschmückt? Gleicht das lange Tal der Lüsen nicht einer Fronleichnamsstraße, durch die das Allerheiligste ziehen soll?

Und zieht an diesem taufrischen Frühmorgen, wo die ganze Welt wie neugeboren aussieht, nicht auch wirklich das Heiligste durch diesen prangenden Frühling? Das glückerfüllte Herz einer Mutter mit schneeweißem Haar, die auf ein Leben der Liebe, der Arbeit, der Sorge zurückblickt und jetzt ihr Tagewerk vollendet sieht, so daß sie sprechen darf: »Herr, ich danke dir, denn es ist alles gut!«

Sie hat es sich gewünscht, ihr Wiegenfest, vielleicht das letzte, das sie feiern wird, auf der Wegwacht zu feiern. Und sie hat so etwas munkeln hören, als ob alle ihre Kinder und alle ihre Enkel es sich nicht nehmen lassen würden, bei diesem Anlaß mit dabei zu sein. Darf sie wirklich darauf hoffen? Wird es ihnen denn möglich sein, abzukommen? Kann es nicht leicht geschehen, daß wenigstens das eine oder andere von ihnen verhindert ist?

O, einer richtigen Mutter fehlt immer noch der letzte Tropfen, das Gefäß des Glückes voll zu machen, wenn auch nur ein einziges ihrer Lieben fehlt, wenn sie nicht alle um sich vereint sieht, nicht alle zugleich umfassen und an ihr Herz drücken kann!

Es ist ohnedies einsam geworden um sie, viel einsamer, als sie es in früheren Jahren gewohnt war. Die Zeit geht hin, die Kinder werden reif, stehen auf der Höhe des Lebens oder steigen sogar auf der andern Seite wieder hinunter, schon sind die Kinder der Kinder herangewachsen, treten ins Leben hinaus, lernen die Sorgen der Menschen kennen und die Liebe mit ihren Nöten.

Es ist einsam um sie geworden, einsamer, als es einem heißen Mutterherzen zuträglich ist.

Christl, der Älteste, der das rüstigste Mannesalter längst überschritten hat, lebt mit seiner Familie in Prag, wo er zu den Zierden der deutschen Hochschule zählt. Wird er auf die Wegwacht kommen können? Werden die großen Arbeiten, mit denen er beschäftigt ist, und zu denen sich neuestens auch noch allerhand unerwünschte Ablenkungen gesellen, ihn nicht daran hindern? Wie leicht wäre es möglich! Denn seit er durch eine Abhandlung über die Bedeutung des deutsch-österreichischen Volkes für die sittliche Kultur der Slawen sich den Zorn der Tschechen zugezogen hat, wird seine Zeit auch noch durch abzuwehrende Angriffe und durch eine wissenschaftliche Polemik in Anspruch genommen, die zu Ende geführt werden muß, soll er nicht für einen Parteimann gelten, sondern für das, was er ist, ein Gelehrter, der nur der Wahrheit dient.

O, Christl wird sicher nicht kommen können, es wäre eine zu weite Reise, seine Zeit wird es ihm nicht erlauben. Sie wird ihn nicht wiedersehen, er wird fehlen unter ihren Lieben, auch heute, sogar heute! O, sie ist einsam geworden, einsamer, als es einem heißen Mutterherzen zuträglich ist.

Moini lebt nach wie vor in Nedweditz, Doll mit den Seinen auf der Wegwacht, die sonnige Vefi, die unvermählt geblieben ist, wirkt als Lehrerin des deutschen Schulvereins gegenwärtig in Laibach, das noch weiter von Wien entfernt liegt als Nedweditz. Die kleine blondgelockte Käthi, auch schon seit Jahren mehrfache Mutter, ist ihrem Manne an die schlesische Grenze gefolgt, wo er die Leodoltersche Fabrik zu leiten hat, und Franz, der längst kein Franzl mehr ist und sogar schon einen goldenen Kragen trägt, steht gegenwärtig in Bosnien. Der fehlt ganz bestimmt auf der Wegwacht! Der kann seinen Posten auf keinen Fall verlassen. Denn die Wogen gehen hoch da unten, seit der Annexion des Landes durch Österreich.

Den ganzen Winter über haben die Serben, deren letztes Ziel es wäre, durch Begründung eines großen südslawischen Reiches Österreich und damit das ganze deutsche Volk von der Adria abzuschneiden, einen insgeheim von Rußland eingeflüsterten wüsten Kriegslärm unterhalten. Noch steht Österreichs Wehrmacht schlagfertig an den Grenzen, jeden Augenblick bereit, leichtfertige Eingriffe in geschichtliche Notwendigkeiten gebührend zurückzuweisen.

Nein, mach' dir nur keine leeren Hoffnungen, du sehnsüchtige Mutter, sie würden doch enttäuscht werden! Dein Franzl kann heute nicht auf die Wegwacht kommen. In den Zeiten der Kriegsgefahr darf ein Offizier keine Mutter haben, und wenn sie noch so alt wäre, und wenn sie auch ihren Geburtstag feiert, der vielleicht der letzte ist, und wenn sie sich noch so sehr nach ihm bangen würde.

Ach, wenn er nur dabei sein könnte! Wenn er nicht fehlen müßte! Sicher wird keiner fehlen, der nicht muß! Nein, sie weiß es, sie kennen ihre Mutter, jeder wird kommen, wenn er nur kann! Und gegen das Unmögliche soll auch ein Mutterherz sich nicht auflehnen. Ist es nicht genug, daß alle da sein werden, die es irgend so einrichten können, daß sie abkommen?

Der Wagen rollt durch die morgendlich kühle Lüsen aufwärts, immer dem rauschenden Lüsenbach entgegen. Und der junge Lenz wird immer prangender, je näher die farbenreiche Frühlingsflora der Berge heruntersteigt.

Der Frau im silberweißen Haar, die in dem Wagen sitzt, pocht das Herz von freudiger Erwartung. Was für ein unaussprechliches Glück steht ihr heute bevor! Alle ihre Lieben, die so weit in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind, wird sie noch einmal beisammen sehen und umarmen – fast alle wenigstens. Und die, die fehlen, fehlen nicht aus freiem Willen oder weil sie zu früh gestorben wären, sie fehlen, weil ihre Aufgaben sie festhalten, weil ihre Pflicht sie festhält, vor der sie ihnen von früher Jugend auf durch ihr Beispiel Achtung einzuflößen bemüht war.

Wie kommt es, daß ihr auf einmal die schwere Zeit einfällt, da sie mit den Kindern in Nedweditz ausharrte, während der Krieg und die Seuche durchs Land wüteten? O, was waren das für Ängste und Sorgen! Vorbei! Versunken und längst überwunden! Schon halb vergessen, schon halb nicht mehr wahr ...

Sie lächelt. Was ist es, das dort am Waldrand in der Sonne glitzert? Ist es nicht eine schneeweiße Schlange mit einem goldenen Krönlein auf dem Haupt? Nein, solche Wunder gibt es heute nicht mehr! Nichts als ein abgeschälter und gebleichter Ast ist es, der am Boden liegt, und an einem Grase hängt ein Tautropfen gerade darüber, der in der Morgensonne funkelt und spiegelt.

O, was für ein langes, langes Leben liegt hinter ihr! Muß man nicht dankbar dafür sein, wenn einem wenigstens einige von den Lieben, an denen das Mutterherz hängt, in der Nähe geblieben sind? Riki, die Gattin des wild gewordenen Lois Birenz, lebt ja in Wien, und ihr Mann hat es zu viel mit politischen Sitzungen und Versammlungen zu tun, als daß ihr und ihren Kindern nicht genug Zeit übrig bliebe, ab und zu die Mutter zu besuchen. Und Wolfi und die Seinen wohnen sogar in demselben Haus, im oberen Stockwerk, wo einst der gute Großvater hauste, da er noch lebte. Es steht noch immer unverändert in der Luftschützgasse, die freilich einen andern Namen bekommen hat und gar nicht mehr Luftschützgasse heißt. Aber das Klappern der Webstühle hört Frau Therese noch immer, denn noch immer hält ihr zulieb Wolfi im Hoftrakt ein paar Handwebstühle von ehemals in Gang, die das uralte traute Lied der Arbeit singen, an das sie von Jugend auf gewöhnt war, und das sie nicht missen möchte ...

Da ist St. Jodok – was für ein stattlicher Ort ist es geworden in den letzten Jahren! Und hier beginnen schon die Werksanlagen in der Lüsen. Ist es noch zu früh am Morgen? Oder haben sie heute hier Feiertag? Es sieht aus, als ruhte die Arbeit. Man wird doch ihren Geburtstag nicht auch in der Lüsen festlich begehen? Fast erschrocken sieht sie, daß Fahnen vom Verwaltungsgebäude flattern, daß die Fenster mit grünen Girlanden geschmückt sind. Und da steht gar die ganze Arbeiterschaft aufmarschiert, in Festtagsgewändern. Der Wagen hält plötzlich still, Herr Zwicknagel tritt vor und begrüßt und beglückwünscht sie namens der Werksverwaltung mit einer kurzen Ansprache. Ein donnerndes Hoch aus Hunderten von Kehlen steigt zum unbewölkten Sonnenhimmel.

Sie hat kaum Zeit, ein paar Worte des Dankes zu stammeln, da fährt der Wagen schon wieder weiter und biegt, während die Berge von Böllerschüssen widerhallen, in die neue Hochstraße ein, die jetzt das Werk auf dem kürzesten Wege mit der Paßhöhe verbindet. Sie sieht, es ist alles abgekartet, sie hat keinen eigenen Willen mehr, der Wagen hält an, wenn er will, und fährt wieder zu, wenn er will, sie wird gar nicht gefragt. Aber warum soll sie sich nicht dem fremden, unsichtbaren Willen fügen, der über ihr waltet? Errät er nicht feinfühlig ihre eigenen Wünsche? Nur ganz kurz sollte der Aufenthalt in der Lüsen sein; der fremde Wille, dem sie Untertan ist, scheint es erraten zu haben, daß einer alten Mutter ungeduldig das Herz pocht, wenn sie hofft, nach langer Zeit wieder einmal alle ihre Kinder und Kindeskinder versammelt zu finden – oder wenigstens fast alle.

Langsam fährt der Wagen jetzt aufwärts, höher und höher. Ist der Koffer gut festgeschnallt? Daß er nicht am Ende herabgleitet und am Wege liegen bleibt!

Es sind soviele wertvolle Andenken darin. In allen Schränken und Laden hat sie gekramt und unzählige Kleinigkeiten zusammengesucht. Sie liebte es an ihren Geburtstagen, zu beschenken. Es war ja üblich, daß man selbst etwas bekam, daß man beschenkt wurde. Aber sie hielt sich nicht daran, sie war gewohnt, den Spieß umzukehren. Immer hatte sie es so gehalten. Und nun gar dieses Mal! Jedes sollte seine Familienandenken haben, noch bei ihren Lebzeiten, in Freuden. Eine Verlassenschaft ohne eine Beimischung von Trauer.

In allen Schränken und Laden hat sie gekramt und unzählige Kleinigkeiten zusammengesucht, Dinge, die in der Familie bleiben sollen. Für jeden ein paar Stücke, den Kindern und den Enkeln. Andenken an den guten alten Großvater. Andenken an ihren verstorbenen Mann, der sie die weitaus größere Hälfte ihres ganzen Lebens hatte allein lassen müssen.

Was waren nicht für Erinnerungen in ihr wach geworden, als sie diese stummen Zeugen verschiedener Lebensstufen und eindrucksvoller Augenblicke aus den alten Schränken und Laden hervorkramte, um sie in ihren Koffer zu packen! Erinnerungen aus der Zeit der Liebe, der Brautschaft, Erinnerungen an die Hochzeit und an die Hochzeitsreise, die sie mit ihrem Gatten gemacht hatte, Erinnerungen aus der Zeit der Ehe, kleine Andenken und Kostbarkeiten, die ihr der beglückte Vater bei der Geburt eines jeden Kindes auf die Decke des Wochenbettes gelegt hatte. Und abermals, während sie jeden einzelnen Gegenstand in die Hand genommen und betrachtet hatte, war ihr die bange Frage auf die Lippen getreten: Habe ich treu erfüllt, was ich dem Hingegangenen gelobt?

So göttlich wird der Morgen, je mehr man sich der Höhe nähert! Es ist, als ob man in den Himmel hineinführe. Schon stehen nur mehr zartgefiederte Lärchen an den Seiten der Straße, und die Feuerbüsche der Alpenrose flammen aus dem Grün der Matten und aus dem Grau der Felsen.

O du Verklärter, ins weite All Übergegangener, grüßest du mich aus dem reinen Atem dieser Luft, aus der prangenden Schönheit dieser Gebirge und dieses Frühlings? Leuchtet deine Seele aus dem Schnee, der dort von den höchsten Gipfeln strahlt? Flüstert sie zu mir aus der Stimme des Windes, der leise pfeifend über die Sattelhöhe streicht?

O du Verklärter, ins weite All Übergegangener, mit der Gottheit Vereinter, höre die Bitte meines demütigen Herzens! Sieh heute auf mich nieder und auf meine Kinder, die die deinigen sind! Und zürne mir nicht, wenn ich etwas verfehlt habe! Zürne mir nicht, wenn nicht alles nach deinem Sinn gewesen ist! Ich bin ein schwaches Weib und wußte mir nicht immer Rat. Aber ich habe nur eines geliebt und nur eines gewollt! ...

Da ist die Sattelhöhe erreicht! Wie ein blühender Garten liegen die mit Frühlingsblumen bedeckten Matten der Wegwacht unter den starren, mit glitzernden Schneeflecken geschmückten Felsbergen, die ihre Schutthalden wie klammernde Wurzeln darein versenken. Und während der Wagen die Straße gegen die Werksgebäude hinunterfährt, geht ein Knallen und Krachen durch die Wände und hallt donnernd in den Schluchten und Klüften wider. Sind es Sprengschüsse? Arbeiten sie heute so emsig in den Steinbrüchen? O nein, es befinden sich heute keine Arbeiter hier oben, auf der Wegwacht, die haben sich alle in die Lüsen hinunterbegeben, denn heute ist Feiertag!

Die Werkskapelle, die vor dem Schulhaus aufgestellt ist, bläst ihr eine fröhliche Fanfare entgegen. Von allen Gebäuden wehen bunte Wimpel, die Arbeit ruht, denn heute ist Feiertag.

Nein, es befinden sich heute keine Arbeiter auf der Wegwacht, nur Kinder und Kindeskinder sind es, die auf dem freien Platz vor dem mit Fahnen und Gewinden geschmückten Hause Dolls den Wagen erwarten.

Und wirklich, es sind alle, alle! Keiner fehlt! Es könnten doch nicht so viele sein, wenn auch nur einer fehlte!

Als sie aber aus dem Wagen gestiegen war und eins nach dem andern an ihr Herz gedrückt hatte, da fehlte doch einer ...

Sie blickte um sich und sah von der Sattelhöhe in rasender Eile einen Reiter herunterjagen. Es blitzte nur so in der Sonne, es war ein Offizier in Felduniform, ein österreichischer Offizier! In gestrecktem Galopp wie ein Meldereiter sprengte er heran und war auch schon da, parierte das Pferd und schwang sich aus dem Sattel.

»Verzeih', Mutter,« rief er, ihr um den Hals fallend, »daß ich zu spät komme! Der Dienst hat mich nicht früher losgelassen, ich komme geradenwegs aus dem Lager!«

»Nun sind es doch alle!« sagte sie, ihn beglückt festhaltend. »Und rumort es denn nicht noch immer – da unten? Und konnten sie dich entbehren?«

»Gar so unentbehrlich bin ich gerade nicht, wie der Stolz einer Mutter meint,« sagte er lachend. »Aber ich kann euch melden – und das wird besonders die Geschäftsleute unter uns interessieren –, daß abgerüstet wird. Der Aufmarsch unserer Armee war ein so glänzender, daß den serbischen Banden da unten die Angriffswaffen aus der Hand fielen. Und als auch noch der deutsche Bundesgenosse drohend seinen Finger erhob, da drehte das riesige Rußland, so schwerfällig es ist, sich geschwind herum und sah zum andern Fenster hinaus. Die Kriegsgefahr ist beseitigt, die Arbeit des Friedens wird nicht durch das Brüllen der Kanonen gestört werden!«

Die Werkskapelle, die unten vor dem Schulhaus stand, weil sie die Tafelmusik besorgen sollte, zählte viele ehemalige Soldaten zu ihren Mitgliedern. Und weil sie gesehen hatten, daß ein Offizier angekommen war, so setzten sie jetzt ein und bliesen und flöteten, so gut sie es eben konnten, die österreichische Hymne. Und so falsch es auch manchmal klang, es wurden doch fast alle davon ergriffen, wie die alte, ehrwürdige, feierlich getragene Weise über der Wegwacht schwebte.

Nur Lois Birenz sagte zum Schluß: »Nicht einmal auf dieser reinen Höhe ist man sicher vor dem Getute!«

Doll schlug ihm fröhlich auf die Schulter, daß er fast zusammenknickte.

»Gegen wen geht das?« rief er lachend. »Ich will hoffen, bloß gegen unsere Werkskapelle?«

Und er reichte seiner Mutter den Arm, um sie ins Haus zu führen.

Im Grase aber raschelte es und schlürfte es. Ein schneeweißes Schlänglein mit einem güldenen Krönlein auf dem Kopf glitt hinter einem Felsen hervor. Es richtete sich kerzengerade in die Höhe und blickte neugierig um sich.

»Wann wird endlich das Essen bereit stehen?« zischte es. »Mich hungert, daß mir der Magen kracht. Ihr laßt mich doch mithalten, ihr guten Leute? Aber daß mich keiner mit seinem Löffel auf mein Krönlein schlägt! Denn ich mag keine Brocken, keine Brocken, keine Brocken, ich esse nur Schlappes, nur Schlappes, nur Schlappes!«

*

Ende.

*


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