Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Doll hätte es eigentlich nicht tun sollen, denn es war den Kindern verboten, im Regen hinauszulaufen. Aber was diese merkwürdigen dumpfen Schläge bedeuteten, die man von Zeit zu Zeit jenseits des Gartens hörte, das mußte er unbedingt wissen, und ihn focht das Regnen wenig an; im Gegenteil, Spaß machte es ihm, wenn die Tropfen auf sein dichtes Haar fielen. Da war er immer neugierig und gespannt, ob der Pelz für etwas gut wäre, und wie lang es wohl dauern würde, bis die Feuchtigkeit durchdränge und er es naß spürte.

Am Einfahrtstor arbeiteten Zimmerleute mit Äxten. Die kleine hölzerne Brücke über den Straßengraben, die von der Reichsstraße in den Fabrikshof führte, war schadhaft geworden und mußte ausgebessert werden. Schon waren die Träme erneut, jetzt nagelte ein Mann dicke Bohlen darüber. Als er den Knaben stehen sah, nahm er die Pfeife aus dem Mund, spuckte aus und fagte: »Wissen Sie, junger Herr, warum das geschehen muß?«

»Damit die Zimmerleute was zu tun haben,« sagte Doll.

»Im Gegenteil! Ein Geriß ist um die paar Zimmerleute, die es noch gibt, die meisten haben eh' die Cholera,« sagte der Mann. »Es hat einen ganz andern Grund, denken Sie einmal nach!«

»Also – weil die Bretter morsch geworden waren,« meinte Doll.

»Das gewöhnliche Fuhrwerk hätten sie noch lang ausgehalten,« sagte der Zimmermann; »aber damit die Preußen mit ihren Kanonen darüber fahren können, deswegen müssen wir alles neu machen.«

Der Mann hämmerte weiter und lachte dabei vor sich hin, aber daß er gescherzt haben könnte, kam Doll nicht in den Sinn. Von Fabriksleuten und deren Kindern hatte er über die Preußen nicht anders reden hören als mit Furcht und Schrecken, und die alte Zilli, wenn sie sich in der Kinderstube nicht mehr zu helfen wußte, liebte es seit einiger Zeit, als höchsten Trumpf die dunkle Drohung auszuspielen: »Warte nur, bis die Preußen kommen!« Eine unbestimmte Vorstellung von rauhbärtigen Männern, die Untaten verübten, verband sich in Dolls Gedanken mit dem Wort: »Die Preußen!«

Durch Hof und Garten lief er ins Haus zurück und schüttelte die Tropfen aus dem dunklen Haar. Im Bubenzimmer weckte die Nachricht, die er brachte, vaterländische Begeisterung. Harnische aus Pappe wurden angelegt und Schwerter umgegürtet. Da sich nur ein einziger Helm fand, so machte Christl, der es verstand, mehrere Tschako aus gefalteten Zeitungen zurecht, für die jüngeren Brüder. Um diesen Kopfbedeckungen auch die nötige militärische Weihe zu geben, verwendete er ausschließlich die Hauptblätter dazu, die mit Berichten vom Kriegsschauplatz angefüllt waren. Der Ankündigungsteil, streifenförmig zugeschnitten, wurde hierauf zu einem prächtigen Federbusch zusammengerollt, die obere Spitze des Tschakos gekappt, der Busch durch das so entstandene Loch gesteckt, und der Generalshut war fertig.

Größeres Ansehen freilich genoß der vorhandene Helm, er war vom Hauch des Heldentums umwittert, mit Goldpapier überzogen und sogar mit einem Visier versehen, das man herabklappen konnte. Natürlich nahm das Vorrecht, ihn zu tragen, Christl für sich in Anspruch, und niemand hätte gewagt, es ihm streitig zu machen. Er war nicht bloß der Älteste – das wäre noch nichts besonderes gewesen; aber daß er auch der Stärkste war – das galt etwas im Bubenzimmer.

»Holla, ein Zündnadelgewehr!« rief Moini und rieb ein Streichholz an, so oft er den Hahn der harmlosen Flinte niederklappen ließ.

Das Kriegsgeschrei, das nach glücklicher Vollendung der Rüstungen nicht lange aufs Bubenzimmer beschränkt blieb, sondern auch auf die Mädchenstube übergriff und bald alle Gänge und Treppen des kleinen Hauses erfüllte, drang schließlich gar bis in die Schlafkammer hinüber, wo die Mutter in einem gepolsterten Stuhle saß und ihren Jüngsten säugte. Sie hatte beide Füße auf ein hölzernes Schemelchen gestellt und beugte sich regungslos, mehr leidend als tätig, auf das hilfsbedürftige Wesen nieder, das in ihrem Schoße ruhte und selbstsüchtig schmatzend seine Lebensnahrung aus ihr trank.

Durch das offene Fenster, vor dem der Regen strömte, wehte ein feuchtschwüler Hauch ins Zimmer, bewegte mit eintönigem Geklapper die aufgezogenen Jalousien und spielte in den leichten dunklen Löckchen, die sich um die Schläfe des Säuglings ringelten, daß sie leise erzitterten wie von einer inneren Erschütterung. Mit vorsichtiger Hand strich ihm die junge Frau die seidigen Härchen hinters Ohr zurück und lächelte, als er mit einer abwehrenden Bewegung des Kopfes sich nur noch heftiger an ihrer Brust festsaugte, als fürchte er, sie könnte ihm entzogen werden. Nie hatte sie das geheimnisvolle Glück und Wunder der Mutterschaft tiefer empfunden als vor diesem Kinde, das erst nach dem Tode des Vaters auf die Welt gekommen war. Blut vom Blute eines Dahingeschiedenen, drängte es sich noch wie im Traume an die Quelle seines Lebens, gleichsam eine Verkörperung des unbewußten Naturtriebes, der gierig darauf bedacht scheint, jede Lücke, die der Tod gerissen, durch neues Dasein zu füllen.

Jetzt lenkte das Getöse, das die Buben verbrachten, und das Kreischen der Mädchen, das dazwischen klang, ihre Gedanken von dem Säugling ab. In dem wirren Durcheinander von Stimmen unterschied sie ein jedes und wußte genau, wer es war, wenn eins etwas angab, oder ein anderes plötzlich aufkirrte, oder ein schallendes Gelächter ertönte, oder ein Streit sich erhob und eine weinerliche Mädchenstimme sich gegen brüderliche Übergriffe wehrte. Große Verantwortung hatte das Schicksal auf ihre Schultern gelegt, sie fühlte es. Wie bald rang sich aus dem ersten unschuldigen Schlummer der Kindheit ein Wille, eine Leidenschaft, eine Verstocktheit, eine Eitelkeit los, wie bald gab es Fragen zu lösen, Wege zu wählen, Entscheidungen zu treffen, die einem ganzen Leben die Richtung wiesen. Manchmal fiel es ihr schwer auf die Seele: sie ging in Gedanken alle ihre Bekannten durch, und unter den kinderreichen Familien, die sie wußte, war keine, von der man freudig hätte sagen können, daß alles geglückt und nichts verfehlt worden sei.

Ihr Vater, der wie ihr Gatte Seidenzeugmacher, freilich einer von den kleineren, gewesen war, sich aber bereits zur Ruhe gesetzt hatte, sagte einmal: »Auf den Einschlag kommt alles an. Die Kette ist bei jedem Menschen gute Organsinseide, von Geburt aus, das hat unser Herrgott schon so eingerichtet. Wenn man aber zum Einschießen ordinäre Baumwolle nimmt statt feine Tramseide, so gibt es natürlich bloß Halbware.«

Das war des alten Herrn Bornschbögel Meinung von Erziehung.

Als der kleine Franzl sich satt getrunken hatte und schwer wie eine reife Frucht von ihrer Brust schlafend abfiel, legte sie ihn behutsam in sein grünausgeschlagenes Körbchen. Sie schob das Körbchen ans Fenster, die Luft sollte darüber hinstreichen können; hierauf klappte sie das Dach hoch und zog den grünen Vorhang vor das schlummernde Christkindlein, damit die Helligkeit des Himmels es nicht blende. Dann schlich sie auf den Fußspitzen aus dem Zimmer.

Unversehens tauchte sie mitten im Kriegsgetümmel auf, unter Lachen die Bedrohten schirmend und dem Ansturm der Helden einen überirdischen Widerstand entgegensetzend, wie die Pallas Athene in den Sagen des Griechenvolks. Da steigerte sich noch das Geschrei und die Lustbarkeit, über den Gang tobte der Kampf die Halbtreppe hinauf und hinunter und umbrandete sie, die wie ein eherner Fels aus dem Gewoge ragte und den unsichtbaren Schild ihrer Mütterlichkeit über alle Schwachen und Wehrlosen hielt. Mit einmal erhob sich jämmerliches Gezeter, der bis an die Zähne gerüstete Wolfl, der der Jüngste von den Brüdern war, hatte einen Schwertstreich über den Federbusch abbekommen, daß ihm der Tschako nur mehr wie eine unförmliche Masse von zusammengeknülltem Zeitungspapier auf dem Kopfe saß. Heulend wollte er sich in die Kleiderfalten der Mutter flüchten, aber sie hielt ihn sich vom Leibe und sagte lachend: »Nichts da! Jetzt wehr dich und sei kein Feigling!«

»Der Moini hat mich geschlagen!« röhrte Wolfl, sich hilflos seinem Jammer hingebend.

»Wer Krieg anfängt, der muß auch einen Puff aushalten können und nicht gleich wehleidig tun. Meistens ist es halt doch der Ungeschickte und Unbedachte, der den kürzeren zieht!«

Doll und Vefi kamen mit »Hurra« den Laufteppich herangaloppiert, an ihrer Spitze Christl, aus vollem Halse schreiend: »Die preußischen Gardekürassiere kommen!«

Aber die Attacke verlief im Sand. Moini, der sein Zündnadelgewehr in Tätigkeit gesetzt hatte, war nahe daran, eine Feuersbrunst anzustiften. Da erklärte Frau Therese, nun sei es genug, und trieb schließlich die ganze Bande zu Paaren. Durch Schreien allein hätten die Preußen keine Schlacht gewonnen, und durch bloßes Dreinschlagen auch nicht. Um sich wohlverdiente Siegergefühle in die Brust zu pflanzen, dazu gehöre mehr als Bubenweisheit, und mit Streichhölzern könne man zwar einen Teppich versengen, aber ein Zündnadelgewehr erfinden noch lange nicht!

»Übrigens muß ich mich wundern,« sagte sie, »daß ihr auf einmal alle Preußen geworden seid?«

»Ich bin und bleibe Österreicher mit Leib und Seele!« versicherte Christl.

»Ei? Sind die preußischen Gardekürassiere Österreicher?«

Er schwieg betreten. Der Eifer des Schlachtgetümmels hatte ihn fahnenflüchtig gemacht. Und war doch sonst überzeugter Patriot. So wirkt der Erfolg geheime Anziehungskraft.

Um es gut zu machen, wollte er gleich von vorne anfangen. Aber die Mutter beharrte darauf, der Krieg sei nun zu Ende, es müsse wieder etwas Vernünftiges und Nützliches getan sein – was, das werde sie schon angeben.

Daß gerade die alte Zilli mit einem Auftragebrett anrückte, auf dem eine ganze Batterie von Milchgläsern nebst Kaffeegeschirr für die Mutter stand, erleichterte die Entwaffnung. Der Friede war bald geschlossen, die Kinder saßen erwartungsvoll um den großen Familientisch herum, Frau Therese goß die Milch ein und schnitt Brot vor, ein jedes holte sich, was ihm zugemessen ward.

»Zu allererst bekommt die Käthi,« sagte die Mutter; »weil die noch am meisten wachsen muß.«

Wie ein Püppchen anzuschauen mit seinem Kopf voll goldiger Ringel, empfing das Kind sein volles Glas, trug es behutsam in den kleinen Händen und kehrte damit auf seinen Platz zurück. Glücklich angelangt, ohne daß sich ein Unfall ereignet hatte, konnte es nicht umhin, eine so bemerkenswerte Sache ausdrücklich festzustellen und rief frohlockend über den Tisch hin, daß alle es hören sollten: »Käthi hat keinen Tropfen verschüttet!«

»Wacker!« bestätigte die Mutter, während sie fortfuhr auszuteilen.

»Dies ist für Wolfi,« fagte sie, einen besonders tüchtigen Ranken abschneidend; »weil man für die Blessierten am ausgiebigsten sorgen soll.«

Den Wolfi stieß noch immer der Bock, er gehörte zu den Wehleidigen, und es war ein wenig lächerlich, wie er seinen Kummer übertrieb. Die älteren Geschwister kicherten auch untereinander und stießen sich an, die Mutter aber sagte nichts weiter und band ihm lächelnd ihr Schnupftuch um die Stirn. Da war er auf einmal getröstet, kam sich sehr besonders vor und hieb befriedigt die starken Zähne ins Brot.

Thom Bornschbögel, Frau Theresens Bruder, der ein scharfer Krittler war, sagte einmal, als er zufällig einen ähnlichen Vorfall mit angesehen hatte: »Du gibst deinen Fratzen aber schon in allem und jedem nach. Statt ihnen den Kopf zurechtzusetzen, verziehst du sie nach echt weibischer Art!«

Sie aber glaubte beobachtet zu haben, daß es manchmal besser sei, auf die Torheiten der Kleinen wie auf etwas Nichtssagendes und Bedeutungsloses heiter einzugehen, statt sie aufzubauschen und ihnen durch die üblichen Szenen eine über den Augenblick hinausreichende Wichtigkeit aufzuprägen.

»Man soll die Kinder nicht fortwährend meistern wollen,« sagte sie, »die Zeit tut schon auch das ihrige, und oft werden sie dann von selbst gescheiter.«

»Schöne Grundsätze!« sagte darauf Thom Bornschbögel. »Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt.«

Zum Glück war Thom Bornschbögel jetzt nicht da, sonst hätte er eine gesalzene Bemerkung über das Schnupftuch um Wolfis Stirn kaum unterdrückt. Er kam niemals nach Nedweditz, überhaupt sah Frau Mairold ihn selten, am öftesten noch um Weihnachten und Neujahr in Wien, wenn die Familien einander die herkömmlichen Staatsbesuche machten.

»Dies gehört Vefi,« fuhr sie auszuteilen fort; »ihr muß man knapp zumessen, sonst läßt sie die Hälfte übrig, und ihr wißt, daß ich es nicht leiden mag, wenn etwas veruraßt wird.«

Es war das sonnigste Kind, dem je eine dunkle Ponymähne um die Ohren geflattert. Eine unerklärte, grundlose Freude schien diesem Mädchen angeboren, schon im Wickelkissen hatte es ohne eigentliche Veranlassung gelächelt. Auch wenn es keine Miene verzog, so lächelten wenigstens die Augen, und in die Wangen hatten sich ein Paar Grübchen eingenistet, die nicht mehr daraus verschwinden wollten. Aber wie die Sonne nichts redet, so war es auch Vefis Sache nicht, viel zu sagen. Es leuchtete bloß alles an ihr, als sie sich ihre Ration holte.

»Das hier mag Doll sich holen,« fuhr die Mutter fort, »obgleich er es eigentlich nicht verdient; denn wenn mir recht ist, sah ich ihn vorhin ohne Hut und Schirm im Hofe, und bekanntlich ist es untersagt, in den Regen hinauszulaufen.«

»Am Einfahrtstor zimmern sie eine Brücke, damit die preußischen Kanonen drüberfahren können!« sagte Doll.

»Da seht ihr's, was er davon hatte,« sagte die Mutter lachend: »einen Bären haben sie ihm aufgebunden!«

»Wo ist der Bär?« fragte die kleine Käthi rasch, und Doll war froh, daß die Heiterkeit, die darauf entstand, die Aufmerksamkeit von ihm ablenkte.

Die Milchgläser, die für Moini und Christl bestimmt waren, goß Frau Therese aus ihrer Kaffeekanne voll. Wie die andern Kinder nahmen auch die beiden ältesten Knaben, die schon zur Lateinschule gingen, in Empfang, was für sie bestimmt war, dankten und setzten sich wieder. Es bestand nur ein geringer Altersunterschied zwischen ihnen, aber sie glichen einander so wenig, daß niemand sie für Brüder gehalten hätte. Durch die ganze Familie hindurch waren zwei verschiedene Rassen ausgeprägt, eine mit schmalem, länglichem Schädel, die von den Mairolds stammte, und der auch Christl angehörte; sie war schlank, trocken, dunkelhaarig und von bräunlicher Gesichtsfarbe. Die andere, mehr rundköpfige, hatte etwas Weicheres, Anmutigeres, war ein wenig kleiner, ausgesprochen hell und bedeutend voller; das war der Bornschbögelsche Schlag, zu dem Moini gehörte.

»Nun wär' es so ziemlich nach dem Alter gegangen, von unten auf,« sagte Frau Therese schließlich; »bloß die Riki hab' ich übersprungen, aber sie weiß schon warum: weil sie unser kleines Hausmütterchen und längst daran gewöhnt ist, an sich selbst zuletzt zu denken.«

Strahlend über die Anerkennung, die ihrer frühen Beflissenheit zum Häuslichen gezollt wurde, nahm das halbwüchsige Mädchen, das im Alter zwischen Doll und Moini stand, ihre Milch und ihr Brot aus den Händen der Mutter entgegen und sagte beschämt: »Du bist es, Mutzi, die zu allerletzt immer erst an sich selbst denkt!«

»Ich kann's erwarten,« sagte die Mutter lächelnd und goß sich ihre Tasse voll. »Laßt uns dankbar dafür sein, Kinder, daß wir wohlbehalten um unsere Mahlzeit beisammensitzen. Wie viele Menschen haben jetzt kaum satt zu essen, bei der entsetzlichen Teuerung, und wie viele Soldaten müssen hungern!«

Christl sagte: »Die Kartoffeln sollen sie manchmal aus der Erde graben und roh verzehren, hab' ich in der Zeitung gelesen.«

»Kein Wunder, wenn dann Seuchen entstehen!« sagte die Mutter.

Das Gespräch kam auf das Weib des Birenz, das an Cholera erkrankt war.

Ob dem Birenz sein Weib jetzt sterben müsse? wollte Wolfi wissen.

»Zum Glück kommen viele mit dem Leben davon.«

»Läßt der liebe Gott die Bösen sterben und die Guten nicht?«

»Darin macht er keinen Unterschied,« sagte die Mutter.

»Werden denn die Guten nicht belohnt?« fragte Wolfi.

Die Mutter blickte zu ihm hinüber, und dann von einem zum andern in der Runde.

»Vielleicht geht es dabei ähnlich zu wie in unserer Fabrik,« sagte sie. »Die Weber, die nicht im Stücklohn stehn, verdienen genau das gleiche ein jeder in der Woche, ob sie nun gute Arbeiter sind, oder minder gute. Aber der gute streicht, wenn er ein Stück Samt oder Seide fertig gebracht hat, zärtlich mit der Hand darüber hin und hat seine Freude daran. Das ist der ganze Lohn, den er vor dem andern voraus hat; aber es ist viel, ihr könnt mir's glauben, es ist weit mehr als die Gulden und Kreuzer wert sind, die ein jeder ohne Unterschied, der Gerechte wie der Ungerechte, am Samstag ausbezahlt bekommt, zur Stunde der Abrechnung.«

Die Kinder schwiegen, es war nichts zu hören als ein emsiges Löffeln und Schlürfen. Aber es befand sich auch ein Böcklein unter den gutwilligen Lämmern.

Das Bedürfnis eines mehr oder weniger gutmütigen Nörgelns, das im Bornschböglischen Blute lag, bildete sich bei Moini manchmal in kritische Schärfe um. Dann wurde der starke Verstand und das sichere Urteil, die bei seiner Jugend überraschen mußten, ihm zum Nachteil, eine frühreife Bitterkeit spaltete sein Inneres, er litt darunter und wußte sich doch nicht zu helfen.

»Wenn einer an der Cholera stirbt,« sagte er, »so hat er nichts mehr davon, daß er ein guter Weber gewesen ist.«

»Aber so lang er lebt, kann er doch zufrieden mit sich sein!« meinte Christl.

»Der andere ist oft noch viel zufriedener, auch wenn er gar keinen Grund dazu hat!«

Bestürzt blickte Christl vor sich hin. Nicht zum besten dafür ausgerüstet, die Wirklichkeit zu bezwingen, spann er sich gern in edle Gläubigkeit ein. Er war von denen, die Einklang brauchen, die man verwundet, wenn man ihnen ihre Täuschungen nimmt.

»Dem Birenz seh' ich immer gerne zu, wenn er webt,« sagte er. »Man merkt es ihm an, mit welcher Freude er bei seiner Arbeit ist.«

»Du hast mich verstanden,« sagte die Mutter.

Vefi plagte schon die ganze Zeit die Neugier, worin das Vernünftige und Nützliche wohl bestehen würde, das nun getan werden sollte, wie die Mutter angekündigt hatte. Die aber hielt hinterm Berg und wollte nichts verraten. Erst als der große Familientisch wieder abgeräumt war, brachte sie einen Korb mit altem Linnen, setzte sich mitten unter die Schar, erklärte, um was es sich handle, und zeigte die nötigen Handgriffe.

Da wurde es ganz still, und mit ernster Miene tat ein jedes, wie ihm geheißen. Die Größeren sahen ein, daß es wirklich eine vernünftige und nützliche Tätigkeit sei, zu der die Mutter sie anhielt, und die Kleinsten, die es noch nicht verstehen konnten, gaben sich wenigstens den Anschein, als verstünden sie es.

Durch alle Zeitungen ging in jenen schweren Tagen die patriotische Mahnung, sich opferwillig helfend und lindernd in den Dienst der allgemeinen Sache zu stellen.

Die alte Zilli, die nicht zurückbleiben wollte, hatte sich auch mit an den Tisch gesetzt. Und während sie geschickt, trotz ihrer gichtischen Finger, helle Büschel Fäden aus der verschlissenen Leinwand löste, klapperte die Mühle hinter der Zahnlücke: Ja, das seien Zeiten jetzt, die Birenzin hätt' es eh' gewußt und von einem glühenden Besen am Himmel geträumt ... Herentgegen die Preußen, denen würden die Österreicher sicher noch heimleuchten, sie mögen es bloß abwarten! Das dicke Ende komme immer erst nach, und unser Herrgott werde sich's schon noch überlegen, ob er es wirklich mit den Evangelischen halten wolle, die an keine Heiligen glaubten!

Sie kicherte vergnügt vor lauter Siegeszuversicht und hielt sich die Hand dabei vor den Mund, damit man die Zahnlücke nicht sehen sollte. Dann stellten sich wieder Sorgen ein, sie erzählte, was sie die Leute von den Preußen hatte erzählen hören, von ihrer Gewaltsamkeit und Härte, von Plünderungen und Requisitionen, und stieß geheimnisvolle Drohungen gegen sie aus, gerade als gehörte sie zur Partei der Finsterlinge, die am Hofe zu Wien den Krieg schürte, oder als hätte sie mitgeholfen, Patronen zu fabrizieren, während doch nur Scharpie gezupft wurde, für die Verwundeten.

»Was sprechen denn die Preußen für eine Sprache?« fragte Wolfi.

Verdutzt blickte sie auf und überlegte einen Augenblick.

»Die Preußen? Was werden die Preußen für eine Sprache reden? Preußisch halt!«

Christl und Moini stießen sich an und lachten.

»Käthi hat schon einen Berg!« rief das Kind mit dem Kopf voll seidiger Ringel und patschte stolz mit dem Händchen auf ein winziges Häuflein Scharpie, das vor ihr aufgeschichtet lag. Und als sich niemand um sie kümmerte, krähte sie immer lauter, daß alle es hören sollten: »Käthi hat schon einen Berg!«

»Ist Preußisch so ähnlich, wie Herr Baudrillard mit seiner Mutter spricht?« wollte Doll wissen.

»Herr Baudrillard spricht Französisch,« sagte Frau Therese; »die Preußen dagegen sprechen Deutsch, denn sie sind Deutsche wie wir selbst.«

»Käthi hat schon einen Berg!« schrie das kleine Mädchen aus vollem Halse.

Die älteren Schwestern wurden endlich aufmerksam und machten einander Zeichen mit den Augen.

»O – was für einen großen, großen Berg die Käthi hat!«

Aber Wolfi, der die Wahrheit noch für eine absolute Größe hielt, durchkreuzte die freundliche Absicht: »Da seht einmal her, wie ein richtiger Berg aussieht!«

Die kleine Käthi schoß empörte Blicke auf den Störenfried, bis Niki, die neben ihr saß, ihre Wange an die des Kindes lehnte: »Der Wolfi ist aber auch der Ältere!«

»Der Wolfi ist aber auch der Ältere!« wiederholte Käthi. Und froh, ihren Gegner durch eine unbestreitbare Tatsache entwaffnet zu wissen, beugte sie sich wieder über ihr Leinwandläppchen und fuhr fort, mit den kleinen, ungeschickten Fingerchen nach Fäden zu suchen, die sich gutwillig aus dem Gewebe wollten herauszupfen lassen.

Die Fenster der Stube standen offen, denn es war schwül, und der Regen, der auf das nasse Laub des Gartens niederrieselte, war ein zaghafter, lauwarmer Landregen, ein schlappes, weichliches, hilfloses Weinen des Himmels. Die Abendluft dampfte von Nebeln.

»Wenn wir wieder in den Garten können,« sagte Christl, abermals vergessend, daß er mit allen seinen Wünschen bei den Österreichern stand, »so zeige ich euch, wie die Schlacht bei Königgrätz gewesen ist. Der Moini macht den Benedek.«

Er stand auf, trat ans Fenster und beugte sich hinaus.

»Man sieht keine fünfzig Schritt weit. So muß der Nebel von Chlum gewesen sein, hinter dem die Preußen sich versteckt haben. Dürfen wir nicht ins Freie, Mutzi?«

»Du siehst doch, wie es niedergießt!«

»Die Soldaten haben sich auch im Regen schlagen müssen.«

»Daraus macht man kein Spiel!« verwies ihn die Mutter streng.

»Warum ist dann überhaupt Krieg, Mutzi, wenn die Preußen auch Deutsche sind?« fragte Doll.

Hilflos sah die junge Frau vor sich hin. Zilli aber sagte: »Rauft ihr nicht auch miteinander, Wolfi und du und Moini und Christl? Und seid doch Brüder? No also!«

»Ich mag nicht der Benedek sein!« schrie Moini heraus.

Doll aber hatte die Scharpie, die vor ihm lag, mit einer Bewegung des Handrückens in den Tisch hineingeschoben und saß stumm, mit herabgesunkenen Armen da, plötzlich ganz bleich geworden.

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