Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Schußwächter.

Der muntere Mundel war noch ganz derselbe wie einst. Er sah noch geradeso aus, man hatte nie recht gewußt, wieviel Jahre man ihm geben sollte; als er jünger gewesen, hatte er älter ausgesehen als ein Junger, jetzt, da er älter geworden, sah er jünger aus als ein Alter. Er veränderte sich nicht und hatte allem Anschein nach die Absicht, sein Lebtag ein Mensch in mittleren Jahren zu bleiben. Aber an Weisheit nahm er immer noch zu, und die mechanischen Webstühle, auf die Moini die ganze Fabrik eingerichtet hatte, ließen ihm auch mehr Zeit als früher, seine Betrachtungen anzustellen.

Denn der muntere Mundel ging mit dem Fortschritt, er gehörte nicht zu den Alten und Widerspenstigen, die vor den neuen Kraftstühlen das Feld geräumt hatten. Er hatte mit den kunstreichen Mechanismen einen Pakt geschlossen und ihnen gute Behandlung zugesichert, solange sie parieren wollten. Er trat jetzt nicht mehr selbst die Weberschemel, sondern stand nur gemächlich daneben, während die beiden Kraftstühle, die seiner Obhut anvertraut waren, ihre stählernen Schützen gleich Flintenkugeln durchs Fach schossen. Er nannte sie seine braven Ackergäule, ermunterte sie mit »Hü!« und »Hott!«, schalt sie tüchtig aus, wenn sie etwas schlecht machten, und versäumte keine Gelegenheit, sie die beschämende Tatsache recht bitter fühlen zu lassen, daß er als Mensch doch um ein gut Stück gescheiter sei als sie.

Die neuen stählernen Kraftstühle, so bieder sie sonst waren, bildeten sich nämlich nicht wenig darauf ein, daß sie zehnmal schneller weben konnten als ein Handweber. Besonders stolz aber waren sie auf ihren Schußwächter, und dieses nicht ganz mit Unrecht. Denn ein Schußwächter ist in der Tat etwas außerordentlich Kluges und besteht in einer Vorrichtung, die selbsttätig den Mechanismus hemmt, sobald ein Schußfaden reißt oder sich verrüttet. Wenn also ein solcher Unfall eintrat, so wob der Webstuhl nicht blindlings weiter, sondern blieb ganz von selbst stehen und sagte gleichsam: »Heda, Freund Webergesell, sieh nach dem Rechten, es ist etwas nicht in Ordnung!«

Aus solchem Anlaß gab es denn ein ständiges Geplänkel zwischen dem munteren Mundel und seinen braven Ackergäulen. Und wenn einer von den beiden Kraftstühlen stehen blieb und ihn anrief: »Heda, Freund Webergesell, sieh nach dem Rechten, es ist etwas nicht in Ordnung!« so konnte der Mundel zornig werden. Dann kam er näher, sah grimmig drein und schnauzte den Webstuhl an: »Wirst du gleich weitermachen, faules Luder? Mir scheint, du sprengst eigens die Fäden ab, damit du nur recht oft stehen bleiben und dich ordentlich ausrasten kannst!«

So etwas konnte sich ein moderner Kraftstuhl aus der freien Schweiz, der mit einem Schußwächter versehen war, natürlich nicht gefallen lassen. Darum tat er sehr beleidigt, setzte ein trutziges Gesicht auf und brummte in den Bart: »Soll ich vielleicht weiterweben, wenn ein Faden reißt? Sei froh, daß ich einen Schußwächter habe und von selbst stehen bleibe – du hättest es ohnedies nicht bemerkt!«

Worauf wieder der Mundel begreiflicher Weise die Antwort nicht schuldig bleiben konnte. Denn er spürte, daß seine Autorität auf dem Spiele stand, und war überzeugt, daß er seinen Ackergäulen den Herrn zeigen müsse und keine Widerrede von ihnen dulden dürfe, sollten sie ihm nicht über den Kopf wachsen.

»Maul gehalten und Order pariert!« herrschte er sie dann an, daß sie ordentlich zusammenfuhren und bis in die stählernen Niete hinein erschraken. Und wenn sie nun ganz zerknirscht und an allen Platinen zitternd dastanden und nicht mehr aufzumucken getrauten, so freute er sich wie ein Schneekönig. Dann ließ er gemächlich ein kleines Weilchen Zeit verstreichen, pfiff sich eins, und während er sich schließlich daran machte, den gerissenen Faden wieder anzuknüpfen, sagte er noch: »Auf euren Schußwächter bildet euch nur ja nichts ein, hört ihr! Selbst erfunden habt ihr ihn nicht, und wenn nicht wieder ein Mensch seine Hand dabei im Spiel gehabt hätte und es bloß auf euch ankäme – ihr würdet, auch wenn hundert Fäden rissen, schon aus lauter Bequemlichkeit weiterorgeln, bloß daß ihr nichts dabei zu denken braucht!«

So ungerecht konnte der muntere Mundel sein. Aber seine beiden Kraftstühle wußten, daß er es im Grunde doch gut mit ihnen meinte. Sie seufzten noch ein wenig und fingen dann wieder drauf los zu rattern an wie wahnsinnig. Und jetzt nahmen sie sich erst in acht, noch viel mehr als früher. Daß nur um Gotteswillen kein Faden riß! Denn der muntere Mundel hatte sich bei ihnen ganz gewaltig in Respekt gesetzt.

Auf ihrem Rundgang durch die Fabrik fiel es Frau Theresen auf, daß die meisten Arbeiter und Arbeiterinnen sie nicht verstanden und bloß den Kopf schüttelten, wenn sie eine Frage an sie richtete. Es standen jetzt fast ausschließlich Tschechen in Verwendung, und überall ward ihr die gleiche Antwort: »Nix deutsch.«

Sie wendete sich an Baudrillard: »Böhmen haben wir immer gehabt,« sagte sie; »aber doch nicht lauter Böhmen. Wo sind denn auf einmal die Deutschen hingekommen?«

»Die werden nach und nach aufgefressen,« sagte er mißmutig. »Die Tschechen täten's billiger, meint Herr Moini, und darauf allein kommt es ihm an. Billiger tun sie's, das ist wahr, aber freilich sind sie auch danach. Herrn Moini geniert das wenig, er hat nicht so viel mit ihnen zu tun wie ich. Er findet, es gehe ganz gut auf diese Art. Na, wir werden es ja sehen. Erledigt!«

»Wenn es nur dann nicht zu spät ist?« meinte Frau Therese. »Ist es minderwertiges Material?«

»Einen solchen Mob, wie wir jetzt da beisammen haben,« sagte Baudrillard, »hat die Welt überhaupt noch nicht gesehen. Die Kraftstühle arbeiten ohnedies von selbst, meint Herr Moini; am liebsten tät' er die Menschen überhaupt abschaffen und bloß Dohlen abrichten, die Krah, Krah machen, wenn ein Stuhl stehen bleibt. Und so heikel ist es ja auch nicht mehr wie früher, das ist wahr, weil die Maschinen für den Menschen denken. Aber ein bloßer Handlangerdienst ist es darum noch lange nicht geworden, und ein umsichtiger Arbeiter, der etwas auf sich hält, bedient seinen Stuhl ganz anders wie ein hergelaufener Falott, der zu dumm zum Rüben rupfen wäre, wenn man ihm's Kraut in die Hand gäbe.«

»Sie wissen, ich habe immer auf meine Leute etwas gehalten,« meinte Frau Therese. »Jeden Nächstbesten hätt' ich nicht aufgenommen.«

»Und es ist auch eine Gefahr dabei!« sagte Baudrillard eifrig. »Die Agenten schleichen herum wie der Wolf um die Schafherde. Besonders der Herr Xaver Wegrad ist ein Gefährlicher!«

»Xaver Wegrad?« rief sie erstaunt. »Ich glaubte, der sei ganz verschollen?«

»O, der ist längst wieder gewaltig geworden. Erst war er ein wütender Antisemit, das scheint ihn nicht genügend ernährt zu haben; so wurde er eine Stütze der sozialdemokratischen Parteileitung. Das ist einer der verbissensten Wühler, und ein gar entschlossener Herr. Er haßt das Kapital, weil er keins hat, und die Fabriksherrn, weil er keiner mehr ist, wie den Tod. Und er macht seine Sache nicht ungeschickt, das muß man ihm lassen. Er ist sogar einer der Geriebensten in der ganzen Partei, weil er die Schwächen auf der andern Seite genau kennt.«

»Und was streben diese Parteileute eigentlich an?« fragte Frau Therese.

»Eine große Organisation wollen sie schaffen, über das ganze Reich hin. Und wenn die Führer an der Schnur ziehen, so soll die ganze Arbeiterschaft nichts anderes mehr als ein einziger großer Hampelmann sein. Schon deswegen tät' ich nicht lauter Tschechen aufnehmen. Von den Deutschen hat jeder doch mehr seine eigene Meinung, sie lassen sich nicht so leicht organisieren und unter einen Hut bringen wie die andern. Aber was wollen Sie? Schaf oder nicht – wenn sie nur auf böhmisch blöken, dann haben sie bei der Frau schon einen Stein im Brett.«

Frau Therese lachte.

»Ei, so steckt Mara dahinter?«

»Wissen Sie das nicht? Bei den Böhmen ist das wie eine Religion so heilig, daß sie ihren Landsleuten vorwärts helfen. Die Deutschen aber, wenigstens wenn sie wie Herr Moini sind, und es gibt viele von der Gattung – die setzen eine Art Point d'honneur darein, sich national gleichgültig und lau zu zeigen. Was geht es mich an? Handelte sich's um Franzosen, so tät' ich mich giften. So aber denk' ich mir: Gehst eh' bald in Pension. Erledigt!«

Und muffig trug er sein Spitzbäuchlein, das in all den Jahren her nicht kleiner geworden war, an die große kupferne Seidenwage im Kontor, wo dieses Gespräch stattgefunden hatte, und begann messingene Gewichte in die Wagschale zu schleudern, daß es wie Donner durch das kleine Gelaß dröhnte.

»Es ist merkwürdig,« dachte Frau Therese lächelnd bei sich; »es bleibt sich jeder Mensch doch immer gleich, sein ganzes Leben lang.«

Je mehr fremde Gesichter sie in den Fabrikssälen erblickte, und je mehr fremde Zungen an ihr Ohr schlugen, um so lieber war es ihr, wenn sie einmal einen guten alten Bekannten traf. Ganz besonders aber freute sie sich darüber, daß der muntere Mündel noch da war. Sie brachte ein paar Tage damit zu, alles zu besehen, was es Neues zu sehen gab, sich freundlich in die Familie ihres Sohnes einzuleben, das Zutrauen Mara Nehudas und ihrer Kinder zu gewinnen. Wer heilen und helfen will, muß vorsichtig zu Werke gehn und mit Beobachten anfangen, daß er den eigentlichen Sitz des Übels erforsche und seine Ursachen recht erkenne.

In Nedweditz ging eigentlich alles mit verdrossenen Gesichtern umher. Die Arbeiterinnen an den Spülmaschinen und an den Kettenschermaschinen, die Arbeiter an den Aufbäummaschinen, die Weber an den Kraftstühlen für Schaftarbeit und an den Kraftstühlen für Jacquardarbeit – alle sahen sie aus, als könnten sie ihre Arbeit nicht leiden, als wären sie ungehalten darüber, sie verrichten zu müssen. In den riesigen Sälen liefen die breiten Transmissionsriemen emsig um und um, setzten Wellen und Räder in Bewegung, leiteten die unsichtbare Kraft, die tosend und polternd irgendwoher aus der Tiefe kam, von Maschine zu Maschine, bis in die kunstvollsten und zartesten Mechanismen hinein, wo ihre Äußerungen immer feiner, immer menschlicher, immer anmutiger wurden.

Es war entzückend zu schauen, wie klug so ein mechanischer Webstuhl sich gebärdete, wie er mit zierlichen stählernen Fingern die Kettfäden hob, mit kraftvoller stählerner Hand die Schütze schleuderte und hin und her fliegen lieh, daß es bloß so knallte wie auf einem Schießstand, Schuß auf Schuß, in rasender Eile. Oben noch die ausgespannten Seidenfäden, die über stählerne Walzen glitten und wie tausend schimmernde Sonnenstrahlen sich ins Dunkel warfen, in den Schoß des Gebärens, wo sie plötzlich ineinanderschossen, sich leidenschaftlich verstrickten und durchdrangen, während das Gewebe auch schon gleich einer sprudelnden Quelle fertig hervorrauschte, wie ein Wasserfall aus der finstern Tiefe des Berges stürzt.

Wer hätte da nicht gerne zugesehen? War es nicht eine Freude, wie stramm und fix die Arbeit flog? Und doch machten alle verdrossene Gesichter. War es das tausendfältige Rasseln, Pusten, Schnurren und Klappern, das sie abstumpfte und mit Taubheit schlug? Dann hätte doch wenigstens Baudrillard und Moini selbst, die bloß ab und zu in den Lärm der Arbeit traten, fröhlicher aussehen müssen. Oder zu allermindest Frau Mara, die jugendschöne Herrin, die von Maschinen nichts sah noch hörte, und deren liebliches Antlitz durch ein holdes Lächeln noch viel schöner geworden wäre, als es ohnedies schon war.

Aber niemand machte eine Ausnahme, auch die jugendschöne Frau Mara nicht. Bloß wenn sie Klavier spielte, konnte sie lächeln, und wenn sie ausritt, konnte sie lachen. Wenn sie aber im Hause oder im Garten umherging, wenn sie mit Moini oder mit ihren Kindern sprach, da sagte jede ihrer Mienen und jeder Zug ihres Gesichtes: »Ich gehe hier und ich rede mit dir, weil es mein Tagwerk ist, freudlos – wie es das Tagwerk der Arbeiter ist, jahraus, jahrein an der Spülmaschine oder an der Kettenschermaschine zu stehen.«

War es nicht, als ob der Qualm der riesigen Essen sich auf die Seelen geschlagen hätte?

»Mir scheint gar, da ist einer, der heiter blickt!« sagte Frau Therese erstaunt, als sie des munteren Mündel ansichtig wurde.

»Jawohl, da ist einer, der weiter blickt!« sagte der muntere Mündel schreiend, weil die Wellen und Räder und klappernden Stühle gar so einen Lärm machten.

»Jetzt geht die Arbeit leichter von der Hand?« schrie Frau Therese.

»Freilich!« schrie der muntere Mündel. »Viel leichter war die Arbeit mit der Hand!«

»Aber der Weber,« schrie Frau Therese, »der braucht sich überhaupt jetzt gar nicht mehr zu plagen?«

»Nein!« schrie der muntere Mundel. »Der Weber, der hat überhaupt jetzt gar nichts mehr zu sagen!«

Er machte »Öh!« wie ein Kutscher, der am Leitseil zieht, faßte nach dem Hebel und stellte seine beiden Kraftstühle ab. Da wurde es wenigstens in der nächsten Umgebung etwas stiller, und man konnte wieder besser verstehen.

»Ich wundere mich,« sagte Frau Therese, »daß Ihnen die Handarbeit leichter angekommen ist. Neben der Maschine stehn und zuschaun, wie sie webt, sieht entschieden bequemer aus.«

In Wahrheit wunderte sie sich nicht. Sie sagte es nur, weil sie wissen wollte, welchen Grund er dafür angeben würde.

Der muntere Mundel erklärte es ihr aber folgendermaßen.

»Die Handarbeit ist leichter,« sagte er, »weil sie schwerer ist. Man muß mehr aufpassen dabei, und deswegen hat man keine Zeit, grantigverdrossen. zu sein. Wenn aber der Mensch nicht alle Hände voll zu tun hat und immer bloß zuzuschauen braucht, wie die Maschine für ihn arbeitet, so kriegt der Grant, der in einem jeden steckt wie die Flohbrut in den Sägespänen, auf einmal Courage und macht sich breit. Darum sind die Handarbeiter lustige Leut' und die Maschinarbeiter Grantnickel. Ein lustiger Mensch arbeitet aber leichter als ein grantiger. Darum ist die Handarbeit leichter als die Maschinarbeit, wiewohl daß sie eigentlich schwerer ist. Und darum braucht der Arbeiter jetzt auch mehr freie Zeit zur Erholung als früher, wiewohl daß er weniger arbeiten tut.«

»Sie sehen aber gar nicht danach aus,« meinte Frau Therese belustigt, »als ob Sie ein Grantnickel geworden wären?«

»Bei mir ist das wieder ein anderes Kapitel,« sagte der muntere Mundel. »Indem, daß ich mir allerhand Gedanken machen kann. Denn unser Herrgott hat es so eingerichtet, daß ich wie einer von unseren neuen Wechselstühlen bin, die viele Schußspulen haben. Und auf einer jeden lauft wieder eine andere Seiden, und immer wartet schon eine frische, volle Schußspule, die sich selbsttätig einlegt, wenn eine alte leergelaufen ist. So geht mir der Faden nicht aus, ob ich mit der Hand arbeite, oder an der Maschine stehen tu'. Dagegen gibt es auch unter den Menschen wie unter den Webstühlen solche, die bloß eine einzige Schußspule haben. Die müssen immer wieder von vorne anfangen, alle Augenblick geht ihnen der Faden aus, und was sie einschießen, ist doch alleweil von dem nämlichen Strähn Tramseide.«

»Und von welchem Strähn nehmen die ihren Schußfaden?« fragte Frau Therese.

»Es ist meistens nicht einmal Seide,« sagte er geringschätzig. »Gasiertes Baumwollengarn, wenn's hoch kommt. Immer und immer wieder dasselbe und immer vom gleichen Strähn!«

»Sie meinen, immer bloß eines läge den Leuten im Sinn?«

»Immer bloß eines!« sagte der muntere Mundel: »Wie sie aus der kleinsten Mucken Arbeit den größten Elefanten Lohn machen sollen.«

»Und an anderes dächten sie gar nicht mehr?« fragte Frau Therese lachend.

»An gar nichts anderes mehr!« sagte der Mundel. »Bloß an den Maximalarbeitstag, an die Herabsetzung der Frauen- und Kinderarbeit, an die Sonntagsruhe – die haben wir übrigens schon und gehört sich auch – und an Lohnerhöhung. Das ist der Strähn, von dem sie ihren Faden spulen. Wundern Sie sich darüber? Ich nicht! Denn an was soll einer, dem nichts anderes einfallen tut, den ganzen lieben Tag denken, als wie er am wenigsten arbeitet und am meisten verdient? Früher, da hat er an die Handarbeit denken müssen. Jetzt muß er alleweil bloß zuschauen, wie die Kraftstühle arbeiten. No, und von dem ewigen Zuschauen muß man sich doch ausrasten können? Deswegen brauchen wir jetzt den Maximalarbeitstag.«

»Und die Lohnerhöhung?« fragte Frau Therese.

»Die brauchen wir auch,« sagte der muntere Mundel. »Denn wenn es weniger Arbeitsstunden gibt, so gibt es mehr Freistunden. Und was soll einer in den Freistunden anderes tun als Geld ausgeben? Auch wird sich unser Herrgott, wie er den mechanischen Webstuhl erfunden hat, wahrscheinlich etwas dabei gedacht haben.«

»Hat den mechanischen Webstuhl unser Herrgott erfunden?« wunderte sich Frau Therese.

»Freilich!« sagte er. »Denn kein Mensch kann etwas erfinden, wenn unser Herrgott es ihm nicht eingibt.«

»Und was mag sich unser Herrgott dabei gedacht haben?« fragte Frau Therese, da sie annahm, daß der Mundel es genau wissen müsse.

»Glauben Sie vielleicht,« sagte er, »daß seine Meinung war, nur der Fabriksherr soll von der neuen Erfindung profitieren? Er wird sich halt gedacht haben, der Fabriksherr soll etwas davon haben, und der Arbeiter soll auch etwas davon haben. Denn Zeit und Kraft und Geld wird erspart mit dem mechanischen Stuhl, wir müssen unserm Herrgott dankbar dafür sein, daß er ihn erfunden hat – nur sollen die Menschen Zeit und Kraft und Geld gut anwenden und nicht Fluch aus dem Segen machen. Aber der Fabriksherr ...«

Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und lachte vor sich hin.

»Von dem Kapitel red' ich nichts,« sagte er. »Es ist etwas nicht in der Ordnung, das werden Sie schon selbst gesehen haben, Frau Mairold. Und überhaupt denk' ich mir, daß Sie gekommen sind, weil wir einen Schußwächter brauchen.«

»Einen Schußwächter?« fragte sie. »Was ist ein Schußwächter?«

Da trat er an einen seiner Kraftstühle, zog am Hebel und machte »Hüh!« Und sogleich begann die Maschine zu rattern, und die stählerne Schütze schoß wie besessen hin und her, von rechts nach links, von links nach rechts wie Flintenkugeln im Schnellfeuer, daß es eine Freude war, zuzuschauen.

»Es ist alles in der Ordnung, nicht wahr?« sagte der Mundel. »Jetzt geben Sie acht!«

Auf einmal griff er mitten ins Getriebe und verrüttete einen Faden. Kaum hatte der Schußwächter das gesehen, so kommandierte er »Halt!« und der Mechanismus stand fest wie eine Mauer und rührte sich nicht mehr.

»Das ist ja prächtig!« rief Frau Therese rasch begreifend. »So kann trotz der rasenden Eile, mit der der Stuhl webt, nicht leicht etwas vermurkst werden?«

Er nickte vergnügt und war stolz, fast als ob er selbst den Schußwächter erfunden hätte.

»Ja, so ein Schußwächter paßt gut auf!« sagte er eifrig. »Der wachsamste Kettenhund ist eine Schlafhauben dagegen! No, und wenn er den Kraftstuhl abstellt, so weiß ich, daß das ein Deuter ist, den er mir geben will. Jetzt kann ich ganz ruhig nachschauen, was eigentlich fehlt, und das Werkel wieder in Ordnung bringen, daß wir keinen Bofel nicht zusammenweben tun.«

»Eine wahre Herrgottserfindung!« sagte Frau Therese und lächelte.

»Und sehen Sie, Frau Mairold,« sagte der muntere Mundel; »einen solchen Schußwächter täten wir halt brauchen, hier in Nedweditz. Nicht bloß für die Kraftstühle – da haben wir ihn eh'. Für die Menschen, mein' ich, und ihren Grant. Denn Leben ist mehr als Weben, und was nützt uns die schönste Webe, wenn wir unser Leben vermurksen, daß nichts als ein armseliger Bofel daraus wird?«

*


 << zurück weiter >>