Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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»Heute Nachmittag werden wir schließen müssen?« sagte der Disponent der Firma Bornschbögel zum Chef des Hauses, Herrn Thom Bornschbögel.

»Schließen? Lächerlich!«

»Es ist das Begräbnis des armen Herrn Wendelin Hirnschal.«

»Wenn wir wegen eines jeden Bankrotteurs, der zum Revolver greift, schließen wollten, so brauchten wir in diesen Zeiten überhaupt nicht mehr aufzusperren.«

»Wir kannten ihn doch alle so gut. Er war ein scharmanter Mann.«

»Ich habe ihn nur ganz oberflächlich gekannt.«

Der Disponent zuckte die Achsel. Er wußte, daß Herr Wendelin Hirnschal im Hause Thom Bornschbögels verkehrt hatte. Er wußte auch, daß die Freundschaft Thom Bornschbögels wetterwendisch war wie das Glück.

»Wir empfinden es als eine Pflicht der Kollegialität,« sagte er, »uns am Leichenbegängnis zu beteiligen. Die Firma war von derselben Branche.«

»Die Firma? Welche Firma? Meinen Sie die frühere Firma Hirnschal? Die gibt es doch gar nicht mehr! So viel ich weiß, war Herr Wendelin Hirnschal, oder wie der Mann hieß, Börsenspekulant. So sollen also die Börsenjuden und die Bankrotteure zu seinem Begräbnis gehen, die waren seine Kollegen!«

Der Disponent teilte die Entscheidung des Chefs den übrigen Angestellten mit. Nachmittag blieben sie alle aus und gingen zum Begräbnis. Thom Bornschbögel saß allein im Kontor. Er schrieb gesalzene Entlassungsbriefe an seine sämtlichen Herren. Am Abend stellte Frau Minka ihm vor, daß er mit einer solchen Maßregelung sich selbst am meisten strafen würde, und redete ihm zu, sich nicht aufzuregen. Das hatte den Erfolg, daß er am andern Morgen zu seiner Frau sagte: »Ich habe mir's überlegt. Ich entlasse sie doch nicht. Ich würde mich selbst am meisten damit strafen.«

»Glaube mir, es ist besser so,« sagte sie erlöst. »Ich bin froh, daß du meinen Rat annimmst.«

»Welchen Rat?« fragte er scharf.

»Ich riet dir doch gestern abend, die Briefe zu unterdrücken und die Sache auf sich beruhen zu lassen.«

»Daran erinnere ich mich nicht,« behauptete er. »Es ist mir in der Nacht ganz von selbst gekommen. Denn so ein heuriger Hase bin ich nicht, daß ich Ratschläge brauche, das mußt du nicht glauben; ich weiß schon allein, was ich zu tun habe.«

Sie war es zufrieden. Wenn er nur Vernunft annahm – ob diese auf ihrem oder auf seinem Acker gewachsen war, das konnte ihr gleichgültig sein. Die wirtschaftliche Krise war hereingebrochen, den Geschäften stand eine harte Zeit bevor. Vermessenheit wäre es gewesen, sich wegen einer Lappalie auch noch innere Schwierigkeiten aufzuhalsen. Jeder konnte von Glück sagen, den nicht ein Blitz wenigstens gestreift hatte.

»Weißt du eigentlich etwas von Xaver?« fragte Frau Minka.

Thom Bornschbögel, der beim Frühstück saß, blickte von seiner Zeitung auf.

»Xaver? Xaver? Wer soll das sein?«

»Also, Xaver, dein Freund! Wir haben ihn doch nie anders genannt!«

»Mein Freund? Xaver? Ach, du meinst den Xaver Wegrad? Der ist doch nie mein Freund gewesen! Bekannt war ich mit ihm, das ist alles. Mit wie vielen Menschen ist man bekannt! Was geht mich Herr Xaver Wegrad an?«

Da wußte Frau Minka, daß mit Xaver Wegrad etwas nicht in Ordnung war, denn ihr Gatte hatte ihn »Herr« Xaver Wegrad genannt. Sie seufzte und erwog in ihrem Sinn, wie vergänglich das Glück der Menschen sei, wenn selbst ein so Gewaltiger wie Xaver Wegrad vom Schicksal geknickt werden konnte. Und es überkam sie Mitleid mit ihren Kindern, die auch einmal ins rauhe Leben würden hinausgestoßen werden, und denen sie dann nichts Gutes und Tröstliches und Mütterliches mehr würde erweisen können. Die Liebe schoß ihr ein, die in diesem Haufe des Unfriedens nur stoßweise kam, und verleitete sie zu ehefraulichem Ungehorsam, so daß sie in der Küche draußen dem teuren Nachwuchs Butter aufs Frühstücksbrot strich, was streng verpönt war. Denn Thom Bornschbögel, der seinen Stamm in größter Einfachheit und Bedürfnislosigkeit erzogen wissen wollte, hatte für Gabelfrühstück und Jause ein für allemal bloß trockenes Brot genehmigt.

So kam es also, wenn Xaver Wegrad wirklich in den Strudel des Verderbens mit hineingerissen war, wenigstens den trotz karger Kost kräftig heranwachsenden Bornschbögel-Söhnen und -Töchtern zugute, die an diesem Vormittag Butterbrot zu essen hatten. Insofern mochte sein Fall eine Ausnahme bilden; denn in unzähligen anderen Fällen gab es nur düstere Schatten und nicht die kleinste Lichtseite. Die Vermögen, die zum Fenster hinausflogen, trugen niemand auch nur ein Butterbrot ein. Millionen waren verloren, aber von niemand gewonnen worden. Kein Krieg hätte schwereres Unglück über Stadt und Land bringen können als dieser fürchterliche geschäftliche Zusammenbruch.

Christl und Moini Mairold, die bis dahin die Tempi gleichsam nur erst an der Stange geübt hatten, sahen sich plötzlich ins Wasser geworfen; nun sollten sie zeigen, ob sie schwimmen konnten. In allen Richtungen der Windrose gab es Fallimente. An vielen Stellen zugleich wurde die Firma mehr oder weniger empfindlich in Mitleidenschaft gezogen. Es forderte Umsicht und Arbeitskraft, zu retten, was zu retten war. Frau Therese allein hätte es nicht richten können. Die Söhne standen ihr auf einmal wie Männer zur Seite. Christl, der immer wie in einer andern Welt lebte und sich über das, was hier unten auf der Erde vorging, nur zu wundern schien, überraschte die Geschäftsfreunde durch eine merkwürdig gelassene und milde Auffassung der Lage. Sein zuversichtliches Wesen flößte manchem Halbgebrochenen neuen Mut ein, bewog ihn dazu, die Flinte nicht ins Korn zu werfen, und dämmte dadurch den Schaden, der verheerend hätte wirken können, in die Grenzen des Notwendigen zurück. Man sagte ihm nach, er sei wahrhaft vornehm, und es gab Gläubiger, die sich anstrengten mehr zu leisten, als wozu das Gesetz sie hätte zwingen können, aus einer Art von Dankbarkeit, oder um sich von ihm nicht beschämen zu lassen. Mit ganz anderen Mitteln heimste Moini seine Erfolge ein. Er war überaus scharfblickend und erfindungsreich und wußte Notleidenden oft so treffend zu raten, daß es wirkte, wie wenn man einem Ertrinkenden eine Rettungsleine zuwirft. Wer sich erholte, von dem forderte er dann ohne Nachsicht die Ausstände seiner Firma ein, nicht als eine Schuld wie andere Schulden, sondern als eine doppelt verbriefte, vor allen anderen fällige, auf die ihm wie auf eine Honorarforderung der erste Anspruch gebühre. Dann konnte er, wenn es not tat, auch scharf und ungemütlich werden. Alle jene Agenden, bei denen dies von vornherein angebracht schien, hatte Frau Therese, die ihre Mitarbeiter mit derselben Umsicht zu wählen wußte wie weiland die Kaiserin Maria Theresia, ohnedies seinen Händen allein und ausschließlich anvertraut.

Übrigens bestand für die Firma Mairold sowenig wie für die Firma Bornschbögel eine ernste Gefahr. Ans Leben ging es ihnen nicht. Die meisten, die der ehrlichen Arbeit treu geblieben waren, kamen mit einem blauen Auge oder einem scharfen Aderlaß davon. Bloß die ihr Heil im Differenzspiel oder in schwindelhaften Gründungen gesucht hatten, riß es um.

»Ich hoffe,« sagte Herrnfeld zu Frau Mairold, »Sie besitzen noch Ihre Steinbruchaktien, die Wegrad Ihnen damals aufschwatzte?«

»Freilich besitze ich sie,« antwortete Frau Therese. »Halten Sie denn diesen Besitz für vorteilhaft?«

»Gewiß! Für außerordentlich vorteilhaft sogar. Pentelikonaktien, mit denen man früher rein nichts Besseres anfangen konnte, als sie ruhig in der Kasse liegen lassen, haben plötzlich eine fabelhafte Steigerung ihrer Verwendbarkeit erfahren. Sie können sie zum Unterzünden benützen, einem wackligen Tisch damit auf die Beine helfen oder der Käthi Papilloten daraus drehen, wenn sie als gekräuseltes Lämmchen mit der Fronleichnamsprozession geht. Wollen Sie sie aber lieber veräußern, so zahlt Ihnen jeder Käsestecher den vollen Papierwert dafür.«

Frau Therese erblaßte.

»Ich hätte nicht gedacht, Herrnfeld, daß Sie schadenfroh sein können.«

»Ich weiß, daß der Verlust, der Sie trifft, verhältnismäßig geringfügig ist,« sagte er ernst. »Übrigens freue ich mich nicht über den Schaden, den Sie und andere erleiden, sondern über den Nutzen, der dadurch gestiftet wird. Denn wenn es wahr ist, daß man durch Schaden klug wird, so muß die menschliche Klugheit während der letzten Tage zu einem wahren Chimborasso angewachsen sein. Von Ihnen spreche ich selbstverständlich nicht, das würde ich mir nie herausnehmen; aber für die Kinder sind die paar tausend Gulden, die der Spaß Sie kostet, ein gut angelegtes Lehrgeld.«

»Vielleicht haben Sie recht,« sagte sie lachend. »Eigentlich freut es mich selbst, daß die einzige Spekulation, in die ich mich so auf gut Glück eingelassen habe, mit einem Mißerfolg endet. Wäre das Gegenteil der Fall, so würde die stetige Arbeit, die unendlich mühseliger ist, dadurch beinahe entwertet. Sprechen Sie es ungeniert aus: auch mir ist es ganz gesund, daß ich einmal Lehrgeld bezahlen mußte. Und allen wäre es gesund, wär' es überall nichts weiter als ein Lehrgeld, das sich verschmerzen läßt. Aber leider gibt es viele, die an ihren Verlusten verbluten. Ich kann nicht sagen, wie sehr ich diese Unglücklichen bedaure. Woher kommt plötzlich eine so allgemeine und entsetzliche Verheerung mitten im wirtschaftlichen Gedeihen? Mir bleibt diese Katastrophe ein Rätsel!«

»Ein Rätsel?« sagte Ludger. »Ich wundere mich dabei nur über eines; daß wir ein so gutes deutsches Wort dafür haben: der Krach!«

Der alte Herr Bornschbögel war herunter gekommen und trat ein.

»Man getraut sich fast seine Freunde nicht mehr aufzusuchen,« sagte er bekümmert. »Denk' einmal, Therese, der Beywald ist abgängig!«

»Der Fredl Beywald?« fragte sie bestürzt.

»Um den wär' weniger schade, der ist eh' ein Hallodri!«

»Doch nicht der Franz Beywald, der Vater?«

»Ja leider! Gerade der! Er ist einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist.«

»Hat auch er Geld verloren?« fragte Herrnfeld.

»Die Verluste sollen in die Hunderttausende gehen. Die ganze Familie ist ruiniert.«

Frau Therese weinte.

»Die arme Frau Cajetana! Die bedauernswerten jungen Leute! Und den Vater so zu verlieren! Was müssen sie in diesen Tagen durchgemacht haben!«

»So viel Tränen hat es nie gegeben, in einer einzigen Stadt!« sagte Ludger.

Der Großvater trippelte im Zimmer herum, die Hände auf dem Rücken, blieb am Fenster stehen, sah ein wenig hinaus und kam dann wieder zurück.

»Jeden Tag hört man von einem neuen Unglück, es ist fast kein Haus, in das der Blitz nicht eingeschlagen hat. Strafgericht Gottes, sagt Thom. Gerade Thom, der für gewöhnlich unsern Herrgott einen guten Mann sein läßt. Jetzt soll es auf einmal ein Strafgericht Gottes sein! Als ob unser Herrgott nichts Gescheiteres zu tun hätte, als sich um das verfluchte Geld zu kümmern! Was sind dem Aktien und Pfandbriefe? Weniger als ein dürres Blatt, das der Wind vom Baum weht! Soll man sich unsern Herrgott vielleicht vorstellen mit dem Kurszettel in der Hand? Auf der Börse verkehrt er sicher nicht, so allgegenwärtig, daß er ist. Wird also wohl mehr ein Strafgericht der Menschen sein als ein Strafgericht Gottes. Und wenn die Leut' jetzt hingehen und sich umbringen, so tun sie ganz etwas anderes, als was unser Herrgott meint!«

»Und was meint unser Herrgott eigentlich?« fragte Herrnfeld schon wieder halb belustigt.

»Er meint, daß wir das Geld nicht lieber haben sollen als die Arbeit. Denn die Arbeit hat er uns geschenkt, damit wir anständig durchs Leben kommen; das Geld aber haben Menschen erfunden, damit sie mit der Arbeit anderer wuchern können.«

»Eine nette Volkswirtschaft, die Sie da verkünden!« lachte Ludger. »Was würde der gewaltige Xaver Wegrad dazu sagen, der wie eine Regenwolke die öden Steppen befruchtet, indem er aus seinem Geldsack Segen darauf niederträufeln läßt?«

»Der Xaver Wegrad? Reden Sie lieber nichts von ihm!«

»Heißt es am Ende auch bei dem: der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen?«

Der Großvater machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und trat wieder ans Fenster.

»Du weißt etwas über Xaver Wegrad, Vater!« rief Frau Therese. »Ich wagte nicht zu fragen, mir ist bange um ihn!«

»Frag' nicht! Frag' nicht!« sagte der alte Bornschbögel vom Fenster her.

*


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