Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Seit jenem Abend dachte Doll nicht mehr daran, preußischer Offizier zu werden. Aber ein Kämpfer für sein Volk wollte er dennoch sein.

*

Es war ein kühler, sonniger Herbstnachmittag, und die roten und gelben Laubbäume standen im bläulichen Duft gegen den wolkenlosen Himmel, als ein offener Fiaker, vom Bahnhof kommend, durch eine der prächtigen Villenstraßen von Baden bei Wien gegen das liebliche Helenental jagte.

»Wem gehört denn das ägyptische Schloß da oben, mit den goldenen Greifen auf dem Dach?« fragte der Herr, der in dem Wagen saß.

Der Kutscher wendete sich um und sagte: »Das ist die Villa des Herrn von Wegrad. Die hat was gekostet!«

»Dann können wir nicht mehr weit zur Villa Pinkenfeld haben?«

»Gleich sind wir da.«

»Zum Achtuhrzug holen Sie mich wieder ab,« befahl der Herr.

Es war ein feinaussehender eleganter Jude mit auffallend blassem Gesicht, das glatt rasiert und von Sommersprossen bedeckt war. Die schmalen Bartstreifen, die vom Rand des Florentinerhutes nicht viel weiter als bis zu den Ohrläppchen reichten, zeigten schon einzelne Silberfäden im dichten Gekräusel der brennroten Haare.

Der Wagen war in eine breite, von hohen Silberpappeln beschattete Straße eingebogen und hielt jetzt an einem großartigen Gittertor, aus dessen schmiedeisernen Ranken türkenbundartige Blumen mit vergoldeten Staubgefäßen blühten. Auf jedem der beiden Torflügel war das Wappen derer von Pinkenfeld mit dem goldenen Bienenkorb angebracht. Ein dunkellivrierter Diener, welcher an der daneben befindlichen Eingangspforte gewartet hatte, trat an den Wagen heran, um den Überzieher des aussteigenden Herrn in Empfang zu nehmen.

»Herr von Pinkenfeld zu Hause?« fragte dieser, während er mit raschen Schritten den etwas ansteigenden Kiesweg des Gartens hinaufging.

»Der gnädige Herr erwarten Euer Gnaden auf der Veranda.«

Da kam schon Pinkenfeld selbst dem Gaste entgegengeeilt.

»Es ist mir eine große Freude, Herr von Zweig, Sie bei mir zu begrüßen!«

»Ist Herr Wegrad schon da?«

»Er wird nicht lange auf sich warten lassen. Ich habe ihn natürlich sofort nach Eintreffen Ihres Telegramms davon verständigt, daß Sie ihn hier zu sprechen wünschen. Vielleicht wollen Sie inzwischen mein bescheidenes Heim besichtigen?«

Herr von Pinkenfeld scheute die orientalische Pracht, die Wegrad bevorzugte; sein Landhaus atmete den Geist Albrecht Dürers – wie der Architekt ihn eben verstanden hatte: butzenscheibenschwelgende Reißbrettrenaissance, kunftgewerbschulmäßige Fieberträume.

»Alles nürnbergerisch, echt mittelhochdeutsch!« beteuerte der Hausherr, während er seinen Gast herumführte. »Bloß die grünen Weingläser sind antik. Aber der Architekt sagt, man kann einen Johannisberger zu fünfundzwanzig Gulden die Flasche nicht anders trinken als aus Römern. Gut, sag' ich, so entwerfen Sie mir echt römische Römer, aber ins Nürnbergerische müssen sie passen; denn in meiner Villa, wo ich wohne, halte ich etwas auf Stil.«

Noch hatten sie nicht die Hälfte aller Sehenswürdigkeiten in Augenschein genommen, als der Diener meldete, Herr Wegrad sei da.

»Dann wollen wir gleich mit den Geschäften anfangen,« sagte Zweig.

In der großen Halle trat Wegrad ihnen entgegen.

Er sah gelangweilt und verstimmt aus. Auf dem Lande wollte er seine Ruhe haben.

»Ich habe meine Tarockpartie unterbrochen. Wenn der Herr von Zweig eigens herauskommt, so muß es sich um etwas Wichtiges handeln.«

»Es handelt sich auch um etwas Wichtiges,« sagte Zweig.

Die Herren nahmen auf der Veranda Platz. Der Diener stellte einen silbernen Eiskübel mit Wein und drei grüne Römer auf den Tisch. Herr von Pinkenfeld schenkte ein.

»Ich bin gewohnt, nicht viel Worte zu machen,« sagte Zweig. »In Geschäften geh' ich gern auf das Wesentliche los. Die Aktien der Marmorwerke Pentelikon stehen das doppelte über Nominale. Die Gesellschaft hat während der ersten zwei Jahre rund dreißig Prozent Dividende gezahlt. Haben die Herrn den Eindruck, daß sie prosperiert?«

»Sie steht ausgezeichnet,« sagte Wegrad.

»Da meine Bank mit einer nicht unbedeutenden Summe an dem Unternehmen beteiligt ist,« fuhr Zweig fort, »so hatte ich ein begreifliches Interesse daran, mich von dem Stande der Marmorwerke persönlich zu überzeugen. Ich nahm deshalb während einer kleinen Reise, die mich nach dem Süden führte, Gelegenheit, den etwas beschwerlichen Ausflug auf die Wegwacht zu unternehmen. Es ist fast eine Tagreise von der nächsten Eisenbahnstation. Die Herren kennen die Situation?«

»Ich bin leider nie dort gewesen,« sagte Pinkenfeld verlegen. »Man kommt so schwer dazu ...«

»Ich auch nicht,« sagte Wegrad. »Man hätte viel zu tun, wollte man alle Unternehmungen selbst besichtigen, an denen man mit ein paar Aktien beteiligt ist.«

Pinkenfeld lachte.

»Erlauben Sie, Wegrad, Sie sind doch Verwaltungsrat so gut wie ich.«

»Allerdings.«

»Und Hauptaktionär.«

»Gewesen.«

Pinkenfeld beugte sich über den Tisch und sah ihm von unten ins Gesicht, als hätte er nicht recht verstanden.

»Gewesen?«

»Bei der Hausse im letzten Frühjahr hab' ich einen größeren Posten abgestoßen.«

Zweig lachte, hob sein Glas und trank einen Schluck.

»Und da sagen die Leute, wir Juden seien die Schlauberger.«

»Ich hänge!« rief Pinkenfeld außer sich. »Ich hänge mit viermalhunderttausend Gulden!«

»Aber beruhigen Sie sich doch!« sagte Wegrad. »Was heißt das: Sie hängen? Wir reden doch gerade davon, daß Pentelikonaktien das doppelte über Nominale notieren!«

»Papier wird aus Lumpen gemacht,« sagte Zweig.

»Ich habe nie anders gehört, als daß die Marmorwerke auf der Wegwacht prosperieren.«

»Es gibt überhaupt keine Marmorwerke auf der Wegwacht,« sagte Zweig.

Wenn das altdeutsche Lüsterweibchen, das über dem Tisch schwebte, sich auf einmal heruntergeschwungen und einen Cancan getanzt hätte, die Verblüffung hätte nicht größer sein können.

»Es gibt überhaupt keine Marmorwerke auf der Wegwacht?«

»Ein Steinbruch ist da, in welchem ein paar Dutzend Arbeiter herumklopfen. Das sind die mit drei Millionen fundierten Marmorwerke Pentelikon.«

Mit zitternder Hand führte Pinkenfeld sein Glas an die Lippen, um die plötzlich ausgetrocknete Kehle zu befeuchten.

»Man hat offenbar noch nicht genügend Gestein erschlossen,« sagte er mit heiserer Stimme.

»Vorderhand hat man bloß erst die Börsen der Geldgeber erschlossen.«

Und Herr Zweig schilderte die Verhältnisse, die er vorgefunden hatte. Das große Werkshaus, für das in der Generalversammlung ein außerordentlicher Kredit in Anspruch genommen worden war, bestand aus einem elenden Holzschuppen, mit ein paar Strohschütten für die Arbeiter; der Betrieb war bloß an einigen wenigen, leicht zugänglichen Stellen und zwar nur ganz oberflächlich in Angriff genommen, von den Werkstätten für Steinbearbeitung, die es der Sage nach geben sollte, sah man vorderhand nichts als die Grundmauern, und die großartigen Anlagen für Steinsägen und -schleifereien im Tale unterhalb der Wegwacht, von denen man den Aktionären erzählt hatte, existierten ebensowenig wie die Förderbahnen, deren Anlage für eine ausgiebige Steinverwertung unbedingt notwendig gewesen wäre.

»Mit einem Wort: trostlos!« sagte er die Hände zusammenschlagend. »Ich weiß keinen besseren Vergleich als: Potemkinsche Dörfer!«

»Wie rechtfertigt sich Herr Polschitzky, unser Direktor?« fragte Wegrad aufgebracht.

»Den hat seit längerer Zeit überhaupt niemand mehr gesehen.«

»Wo soll er um Himmels willen stecken?«

»Wahrscheinlich in Amerika.«

»Der hätte uns also 'reingelegt?« rief Pinkenfeld, seine Bartkoteletten zerrend.

»Die Herren waren offenbar zu vertrauensselig.«

»Ich habe mich auf Wegrad verlassen,« sagte Pinkenfeld.

»Ich habe mich auf den Polschitzky verlassen,« sagte Wegrad.

»Und der Polschitzky hat sich auf Ihre ...«

Er brach ab, machte »Na!« und sah von einem zum andern.

Da fuhr aber der gewaltige Xaver Wegrad in die Höhe.

»Was wollen Sie sagen, Herr? Sprechen Sie zu Ende!«

Zweig machte eine müde abwehrende Bewegung mit der Hand und schien zu überlegen.

»Ich hätte mir's gleich denken können; schon der Name riecht nach ... nach – na!«

»Sprechen Sie nur zu Ende, bitte, sprechen Sie zu Ende!«

»Wir wollen uns doch lieber nicht ereifern, nicht wahr? Aber – Pentelikon, ich bitte Sie! Der Pentelikon liegt in Griechenland, so viel ich weiß, nicht bei St. Jodok in der Lüsen.«

»Mein Gott, man braucht eben einen gangbaren Namen!« sagte Wegrad, während er die Augen zudrückte und die Flügel seines Bartes durch die Hände gleiten ließ. »Der Marmor ist prachtvoll und gibt dem griechischen nichts nach. Ich habe die Proben durch hervorragende Fachleute prüfen lassen. Ein solches Material findet sich in ganz Österreich nicht wieder.«

»Wir sind 'reingelegt worden!« jammerte Pinkenfeld. »Ich bin ein ehrlicher Mann, ich verliere mein gutes Geld, wenn die Pentelikon abkracht.«

Herr Zweig neigte sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme zum Flüsterton herab.

»Wir haben das Publikum an der Nase herumgeführt, meine Herren, und unsere einzige Entschuldigung ist, daß auch wir selbst an der Nase herumgeführt wurden.«

»Wer hat Sie an der Nase geführt?« brauste Wegrad abermals auf.

»Nur ruhiges Blut, bitte, wir bessern nichts, wenn wir hitzig werden!«

Alle drei schwiegen. Pinkenfeld schluckte und bemeisterte kaum seine Unruhe, während er mit groß aufgerissenen Augen wie in einen Abgrund starrte. Wegrad sah trotzig vor sich nieder. Zweig aber machte den Eindruck eines Schiffskapitäns, der angestrengt darüber nachdenkt, wie er sein Fahrzeug gegen die heranwälzenden Wellenberge steuern soll.

»Ich will Ihnen sagen,« begann er endlich, »wer mich, wer uns alle an der Nase herumgeführt hat. Das war die blinde Vertrauensseligkeit, die die ganze Geschäftswelt jetzt ergriffen hat, und die an kein Mißlingen mehr glauben will. Das war der Genius der Zeit, wenn Sie wollen, der großsprecherische Windbeutel, der den Menschen, die sich wie hungrige Mücken um ihn drängen, das Klingeln seiner Schellenkappe für klingendes Gold einzureden weiß. Ihm sind wir aufgesessen, meine Herrn, gestehn wir es nur offen ein, sprechen wir ein aufrichtiges Pater peccavi und suchen wir zu retten, was zu retten ist.«

»Und ist da überhaupt noch etwas zu retten?« rief Pinkenfeld mit verzerrtem Gesicht, während er sich den Schweiß von der Stirn trocknete. Es hatte ihn jene nervöse Zaghaftigkeit ergriffen, die auf den Börsen die oft unbegreiflichen Kursstürze verursacht und Glauben und Vertrauen plötzlich einschrumpfen und in sich selbst zusammenfallen läßt wie einen gefüllten Luftballon, in den man ein großes Loch geschlagen hat.

Herr Zweig, ein positiver und klarer Geschäftsmann, war nicht mit der Absicht gekommen, die Pentelikongesellschaft zugrunde zu richten. Im Gegenteile, es lag ihm daran, sie zu halten, er wollte sie nur auf eine neue Grundlage stellen, sie an Haupt und Gliedern reformieren, um über die hineingesteckten Kapitalien nicht das Kreuz machen zu müssen. Darum ließ er es sich angelegen sein, Pinkenfelds gesunkenen Mut wieder aufzurichten. Er führte aus, die Sache an sich sei nicht schlecht, nur der bisherige Betrieb unzulänglich und betrügerisch gewesen. Gegen die Qualität des Marmors wüßte er in der Tat nichts einzuwenden, und die Reichhaltigkeit der Lagerungen spotte aller Beschreibung; ganze Bergkoppen rings um die Wegwacht bestünden aus weißem Marmor. Um ein Nichts hätte man seine Aktien also doch nicht in der Hand, Werte, unermeßliche Werte lägen sicher da oben bereit und warteten nur darauf, heruntergeholt zu werden. Mit der Ausbeutung des unerschöpflich scheinenden Gesteins hätte man nun freilich kaum erst angefangen, und doch schon Unsummen Geldes dabei vertan. Aber er wolle nicht kleinmütig darüber klagen und sich lieber des Schützen erinnern, der dem verschossenen Bolzen noch einen zweiten Bolzen nachgesendet und dadurch den verlorenen zurückgewonnen hätte.

»Es bleibt nichts übrig,« schloß er, »als daß wir noch einmal von vorne anfangen. Die aufgewendeten Millionen sind hin; aber wenn es uns gelingt, noch ein paar weitere Millionen aufzubringen, so kann aus den Steinbrüchen auf der Wegwacht noch immer eine Goldgrube werden.«

Es gibt eine Bundesgenossenschaft der Hoffnung und eine solche der Verzweiflung. Die erstere, hungrig nach Erfolg, geht leicht an Ungenügsamkeit zugrunde; die letztere, die im Mißerfolg wurzelt, ist zäh wie Kakteen, die aus dürrem Sande wachsen. Als Herr Zweig diesen Abend von den beiden Geschäftsfreunden an seinen Wagen geleitet wurde, war das Händedrücken so warm und das Abschiednehmen so herzlich wie nie zuvor. Der Geist der Zeit mit der wie Gold klingelnden Schellenkappe hatte für die Schuld der drei betrogenen Betrüger die erlösende Absolutionsformel gefunden: Sanierung der Pentelikon in camera caritatis.

Der gewaltige Xaver Wegrad aber, der bei dieser Sanierung nur ehrenhalber mitwirkte und sich hütete, Pentelikon-Aktien der neuen Emission zu zeichnen, tat sich im stillen nicht wenig auf seine feine Nase zugute. Für einen ganzen Kerl hatte er sich schon lange gehalten, nun verschränkte er, wenn er über eine Transaktion grübelte, die Arme wie Napoleon – wie der Oheim natürlich, der Neffe war abgetan – und richtete den gedankenschweren Blick mehr nach innen als nach außen. Er erstand einen Großgrundbesitz im Waldviertel von Niederösterreich, ein Wald- und Wiesengut von fürstlicher Ausdehnung, schickte einen Agenten in die russischen Steppen, um dreihundert Mutterstuten aufzukaufen, und beschloß eine Kumysaktiengesellschaft mit zehn Millionen Grundkapital zu gründen. In dem Kurhaus, dessen Risse er selbst entwarf, sollten die zahlungsfähigen Lungenkranken von ganz Europa Unterkunft und Heilung finden. Im nächsten Frühjahr bereits, zugleich mit der großen Weltausstellung, zu der sich Wien und Österreich, ja die ganze zivilisierte Welt rüstete, würde die neue Anstalt eröffnet werden.

»Besen müssen sich sputen,« sagte er, »wenn ich kommandiere. Denn die geniale Konzeption allein tut es nicht, es gehört auch die Lancierung im richtigen Augenblick dazu.«

Und er entließ drei Architekten hintereinander, weil sie ihm nicht fix genug in der Herstellung der Pläne waren, und übergab die ganze Ausführung schließlich einer großen Baugesellschaft, an deren Spitze Haarhammer stand. Die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwunges, die eifrig auf der Suche nach Fähigkeiten war, hatte diesen kenntnisreichen Mann aus seiner Verborgenheit gezogen und auf einen der verantwortungsvollsten Posten des Bauwesens berufen, wo er seine reiche Erfahrung, seinen eisernen Fleiß, seine mit Behutsamkeit verschwisterte Zuversicht mit Glück in den Dienst der Öffentlichkeit stellen konnte. Er war ganz plötzlich zu einer viel genannten und viel umworbenen Persönlichkeit geworden, und Thom Bornschbögel, der ihn immer unterschätzt hatte, meinte eines Tages halb beschämt und halb spöttisch: »Jetzt wird man schon bald Sie zu dir sagen müssen.«

Aber Haarhammer schmetterte bloß sein ehernes Lachen und verstand nicht recht, wie der Schwager es meinte; wie er früher dessen Geringschätzung nicht bemerkt hatte, so bemerkte er jetzt nichts davon, daß sein Wert in Thoms Augen gestiegen war. Mit dem unbewußten Eifer eines aufgeweckten Knaben, der nicht hört und nicht sieht, wenn er mit seinem Steinbaukasten beschäftigt ist, war er an seiner Arbeit, niemandem zulieb und niemandem zuleid, und blieb, während er unter seinen Berufsgenossen für einen hervorragenden Fachmann galt, in allen menschlichen Dingen nach wie vor ein fröhliches großes Kind.

Im Laufe des Winters besuchte er einmal Frau Therese, um Erkundigungen über einen Instruktor einzuziehen, der ihm für seine Buben empfohlen war.

Haarhammer war ein seelenguter Mensch, er wäre sicher nicht gekommen, hätte er geahnt, was er tat. Er konnte nicht wissen, daß er eine schmerzende Stelle in Frau Mairolds Gemüt berührte, indem er den Namen Lois Birenz aussprach. Wußte er denn, welche Wohltaten sie dem Fabriksarbeiterskind erwiesen hatte? Wußte er, daß der kräftig herangewachsene junge Mensch eines Tages ohne Dank und Abschied dem Hause entflohen war, in welchem man ihm fast die Stellung eines gleichberechtigten Sohnes, Bruders und Enkels eingeräumt hatte? Und wußte er, wie weh, wie bitter weh Undank tut? O er wußte es nicht, sonst hätte er den Namen Lois Birenz nicht ausgesprochen! Nein er wußte von dem allen nichts, konnte nichts davon wissen, denn es war nie darüber geredet worden. Vermutlich tat es auch den jungen Leuten, besonders Doll bitter weh, daß die Sache mit Lois Birenz ein solches Ende genommen; wie auf Verabredung hatte man den Mantel des Schweigens darüber gebreitet.

Frau Therese wollte dem jungen Menschen nicht schaden. Sie beschränkte sich auf die Erklärung, daß Lois Birenz stets ein vorzüglicher Schüler gewesen sei.

»Das wurde mir am Gymnasium erzählt,« sagte Haarhammer. »Er soll ganze Klassen übersprungen und trotzdem seine Prüfungen mit ausgezeichnetem Erfolg bestanden haben. Das Lernen wird ihm leicht, es muß ein aufgeweckter Bursche sein. Aber damit allein ist mir nicht gedient. Ich möchte auch wissen, was für eine Gattung Mensch es ist, dem ich meine Kinder anvertraue. Und da ich höre, daß er eine Zeitlang in Ihrem Hause gelebt hat, so komme ich zu Ihnen.«

»Sonach bin ich zu voller Aufrichtigkeit verpflichtet,« sagte Frau Therese. »Der Lois Birenz war Jahre hindurch bei uns aufgenommen wie ein Kind des Hauses. Eines Tages aber, ohne jeden ersichtlichen Grund, hat er uns verlassen, ohne Dank, ohne B'hüt Gott. Sie werden begreiflich finden, daß mir das nicht gefallen hat. Wenn ich dadurch nicht irre an ihm geworden wäre, so würde ich ihn nicht nur für einen außerordentlich begabten, sondern auch für einen gutgearteten Menschen halten.«

»Und wodurch erklären Sie sich sein Verschwinden?« fragte Haarhammer.

»Ich habe keine Erklärung dafür. Sein Benehmen schmerzte mich, nicht als ob ich die kleinen Wohltaten, die ich ihm erweisen konnte, hoch anschlagen würde – nein! Seinetwegen hat es mich geschmerzt. Aber weil auch eine Ziehmutter die Liebe, die sie einmal an ein Kind gewendet hat, nie ganz verleugnen kann, so möchte ich Sie bitten, es trotzdem mit dem jungen Mann zu versuchen. Wahrscheinlich bereut er heute seine Unüberlegtheit von damals, und sicher hat er sie schwer gebüßt. Denn mittellos, wie er war, mag es ihm hart genug angekommen sein, auf eigenen Füßen zu stehen, nachdem er sich einmal an das Leben in unserem Hause gewöhnt hatte.«

»Vielleicht ist eine Art Proletarierstolz in ihm?« meinte Haarhammer.

»Jedenfalls hat er es mir unmöglich gemacht, ihm die Geldunterstützungen zuzuwenden, mit denen ich ihm auch nachher noch gerne geholfen hätte. Denn er war und blieb für uns verschollen.«

»Nicht hübsch in der Form, aber achtenswert,« sagte Haarhammer. »Sehr achtenswert sogar! Es ist nicht leicht für einen jungen Studenten, sich mit Lektionieren durchzuhungern, das weiß ich noch aus meiner eigenen Hauslehrerzeit!«

Er schmetterte sein ehernes Lachen.

»Dieser Lois Birenz interessiert mich,« sagte er sich erhebend. »Er muß ein ganzer Kerl sein! Wenn Sie mir's nicht übel nehmen, so versuch' ich es mit ihm.«

»Sie kränken mich!« sagte Frau Therese.

Haarhammer stutzte.

»Ich bin ein Esel!« rief er, sich vor die Stirn schlagend. »Übelnehmen! Sie! Als ob Sie etwas nachtragen könnten! Es war nur so eine ungeschickte Redensart. Weil das wirklich nicht schön von dem jungen Menschen ist, wissen Sie, daß er Ihre Wohltaten mit Durchbrennen lohnte. Nicht jede Frau hätte es über sich gebracht, ihm das heute nicht entgelten zu lassen! Aber so ein Gedanke reicht nicht an Sie heran, ich weiß es! Verzeihen Sie mir! Ich bin und bleibe halt ein ungehobelter Maurerpolier!«

Und abermals ließ er sein Lachen dröhnen und beugte sich nieder, um zutäppisch wie ein Bär Frau Mairolds Hand zu küssen. Er machte nie eine lächerlichere Figur, als wenn er galant sein wollte. Dann hätte auch ein Blinder es dem schwerfälligen und ungelenken Manne angemerkt, daß er aus den niedrigen Ständen hervorgegangen war. Aber Frau Therese sah wie der liebe Gott mehr aufs Herz als auf glatte und gewandte Umgangsformen. Sie hatte Zutrauen zu ihm und schätzte ihn aufrichtig. Und mit einem liebreizenden Lächeln, das von der Sonne ihrer Gunst vergoldet war, neigte sie ihr Haupt und entließ den wackeren Baudirektor mit dem Wunsche, er möchte den richtigen Lehrer für seine Buben gefunden haben.

*


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