Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Als sie sich der Herberge näherten, trat ein Mädchen aus dem grauen steinernen Hause und blieb an der Tür stehen, sie zu erwarten. Sie mochte achtzehn Jahre zählen, war mehr nach bäuerlicher als nach städtischer Art gekleidet und trug die schweren braunen Zöpfe wie eine Krone ums Haupt gewunden. Ihr Antlitz hatte etwas so Reines, Frisches und Klares wie das kristallhelle Bergwasser, das in armdickem Strahl aus dem Auslaufbrunnen an der Hauswand schoß, neben dem sie stand, während sie den Fremden mit der eigentümlich steifen Haltung des Bergvolks die Hand bot.

»Willkommen auf der Wegwacht!« sagte sie.

Der Vater hatte die Gäste bereits angekündigt. Sie führte sie in die Fremdenstuben unter Dach, der alte Herr Bornschbögel freute sich über die kleine hölzerne Altane, auf die man hinaustreten konnte, um die weite Bergwelt zu überblicken.

»Von da geh' ich nicht so bald wieder fort,« sagte er aufgeräumt. »Wenn man einen so schönen Fleck Erde gefunden, hat wie hier bei euch, so soll man ihn nicht gleich wieder mit dem Rücken anschauen.«

»Das ist recht,« sagte sie freundlich. »Hier oben sitzt es sich gut, immer in frischer Luft, und doch ist man vor dem rauhen Wind geschützt, der über die Sattelhöhe pfeift.«

»Im Winter wird es hier ordentlich blasen?«

Sie lachte.

»Ja, das tut es.«

»Und einsam mögt ihr es haben?«

»Das wäre das wenigste. Wenn der Abend lang wird, sitzen wir mit dem Vater zusammen. Er liest aus einem Buche, und wir spinnen oder nähen, so haben wir keine Zeitlang. Aber der weite Weg im Schnee!«

»Müßt ihr denn hinunter?«

»Wir andern nur am Sonntag in die Kirche. Aber die Kinder, die in die Schule gehn!«

»Die Kinder?«

»Die zwei jüngsten Geschwister halt.«

»Wie weit ist es bis zum nächsten Ort?«

»Zwei gute Stunden nach St. Jodok und eine schwache nach Gorenje.«

»So gehen die Kinder nach Gorenje in die Schule?«

»Herr, wir sind Deutsche!«

Nun kam auch Ambros herauf, der Wirt auf der Wegwacht. Er war keiner von denen, die viel reden. Er öffnete die Fensterläden, um die warme Sonne einzulassen. Und durch jedes Fenster sahen andere Felsberge herein. Dolls Brust war wie mit Dankbarkeit gefüllt, daß es so herrlich schön hier oben war, und er sprach es aus.

»Wenn Sie nur fürlieb nehmen,« sagte Ambros halb verlegen.

Während das Mittagessen gerüstet wurde, verfolgten Großvater und Enkel den Paßweg bis zu der Stelle, wo er sich nach der andern Seite zu neigen begann, Unerwartet erschloß sich da ein neues und ganz anderes Bild. Sie setzten sich auf einen mit Flechten überzogenen Stein, um es zu betrachten. Die jenseitigen Berge waren kahl, holzarm, fast abgestorben. Blendend starrten ihre hellgrauen oder rötlichen Kalkgebilde, über denen die Mittagssonne brütete, gegen den tiefblauen Himmel. So schoben sie sich ineinander, aufgetürmt wie erstarrte Wogen eines ungeheuren Meeres und wurden ferner und bläulicher. Dazwischen überblickte man weite Strecken des in der Tiefe eingebetteten Talbodens und Hügellandes. Und das weiße Fahrsträßchen, das sich gänzlich unbeschattet steil und schlangenweis hinunterwand, führte zu Ortschaften, die wie graue Schwalbennester in den Felsen klebten. Alles Stein, bis zu den Dächern, während herüben in St. Jodok die obere Hälfte der Häuser durchwegs aus altersbraunem Holze war.

»Rein, als ob man in eine andere Welt hineinblickt!« meinte der Großvater. »Man sieht es schon an der Bauart der Häuser, wie ganz verschieden die Menschen sind, hüben und drüben« ...

»Schon das nächste Dorf hier unten,« sagte Doll, »ist kein deutsches mehr, man erkennt es sofort.«

Der Großvater hatte abermals die Landkarte hervorgezogen und studierte sie.

»Es ist Gorenje,« entschied er.

»Wie ein Vorposten des deutschen Landes steht das Haus auf der Wegwacht!« sagte Doll.

»Und eigentlich stehen wir alle auf der Wegwacht,« sagte der Großvater. »Ist es in Nedweditz anders, wo der Moini die Fabrik neu einrichtet? Ist es in Prag anders, wo der Christl sich auf seinen Lehrberuf vorbereitet? Ist es in Wien anders, wo die Böhmen schon eine böhmische Schule haben wollen? Eigentlich stehen wir alle auf der Wegwacht« ...

»Fest und treu auf der Wegwacht!« sagte Doll.

»Zu meiner Zeit,« sagte der Großvater, »da haben wir immer bloß die österreichische Volkshymne gesungen. Heute singen sie in Versammlungen und auf Studentenkommersen fast noch öfter die Wacht am Rhein. Weil die Regierung jetzt so verdreht ist, daß sie die Deutsch-Österreicher, die das ganze Reich zusammenhalten, drangsalieret, so glauben die Deutsch-Österreicher, sie müssen geschwind auch verdreht sein und schauen zu den Deutschländern hinüber, die von uns gar nichts wissen wollen, weil sie mit sich selbst genug zu tun haben. Die Wacht am Rhein ist ein wunderschönes Lied, ich hab' es gern, wenn es die Deutschen im Reiche singen. Aber es bleibt eine Äfferei, wenn es die Österreicher singen. Unsere Grenzen liegen doch nicht am Rhein! Im Süden, im Osten und im Norden, überall wo die Slawen anfangen, da soll der deutsche Österreicher fest stehen und treu – auf der Wegwacht!«

»Wie ein Sperrfort gegen das fremdsprachige Land steht das Haus auf der Wegmacht!« sagte Doll. »Man würde es mit schweren Geschützen und eisernen Drehtürmen armieren, wäre das fremde Sprachgebiet auch fremdes Staatsgebiet.«

Der Großvater schwieg, während er mit der Spitze seines Stockes eine tote Raupe, die auf dem Boden lag, gegen eine Heerstraße von Ameisen beförderte, die quer über den Weg zog. Sie beugten sich nieder und warteten, was geschehen würde. Sie sahen, wie zuerst einzelne von den Waldameisen auf den unbekannten Gegenstand stießen, ihn untersuchten und andere herbeizurufen schienen, und wie es binnen kurzem schwarz um die tote Raupe wimmelte. Sie hob sich, als hätte sie wieder Leben bekommen, und schwankte, gezogen, geschoben, getragen, langsam in der Richtung gegen den Bau, der sich aus dürren Nadeln unter einer vereinzelt stehenden Bergkiefer türmte.

Fast mit Spannung hatten sie den unscheinbaren und alltäglichen Vorgang beobachtet. Nun richtete der Großvater sich wieder empor. Er sah nachdenklich aus, wahrend er den Gedanken von vorhin zu Ende spann.

»Wenn uns mit Kanonen und Panzertürmen geholfen wäre,« sagte er, »dann hätten wir es leicht. Aber uns kann nur die Friedensarbeit retten. Mit Fleiß und Eintracht, mit Werkzeugen und Maschinen müßten wir unsere Forts armieren. Lauter Stätten deutscher Arbeit müßten es werden, ein ganzer Festungsgürtel ...«

Und er schloß, indem er wiederholte: »Denn wir stehen alle auf der Wegwacht!«

»Fest und treu auf der Wegwacht!« sagte Doll.

Zum Mittagsbrot saßen sie mit den Wegwachtleuten um den Tisch, der mit einem Wachstuch bedeckt war. Es war keine Mutter mehr da, Martina, das älteste Mädchen, das sie bereits kannten, führte mit der Nächstjüngeren die Wirtschaft. Ambros schnitt das Roggenbrot vor, nachdem er vorher mit der Spitze des Messers drei Kreuze auf den Brotlaib gezeichnet hatte. Die noch halbwüchsigen Kinder benahmen sich manierlich und verhielten sich still, um den Erwachsenen das Wort zu lassen. Es war leicht zu merken, daß es anständig zuging in diesem Hause, und daß ein guter Geist darin herrschte.

Doll hatte zufällig unter einem Dickicht von Legföhren nahe an der Straße altes Mauerwerk entdeckt und erkundigte sich, woher es stamme. Er erfuhr, daß es die Grundmauern eines Werkshauses seien, das die frühere Steinbruchunternehmung zu bauen beabsichtigt hätte.

»Es ist ihnen das Geld ausgegangen, noch bevor sie recht angefangen haben,« sagte Ambros. »Alles war bloß auf Schwindel angelegt.«

Der Großvater behauptete scherzend, er hätte die Mauern für die Überreste einer militärischen Befestigung gehalten.

»Es müßte auch so etwas sein, wenn es in die rechten Hände gekommen wäre,« sagte Umbros lebhaft. »Ein Bollwerk gegen die Wendischen könnten wir gut brauchen auf der Wegwacht!«

Überrascht, daß der Wirt den gleichen Gedanken aussprach, der ihnen selbst vorgeschwebt hatte, gestand Doll, warum er hier sei. Er eröffnete ihm, daß die Marmorwerke auf der Wegwacht in verläßliche und leistungsfähige Hände übergegangen seien, und weihte ihn in seine Absichten ein. Er bemerkte, wie Ambros aufhorchte. Die Züge des Wirtes nahmen einen entschlossenen Ausdruck an, und seine Augen blitzten, während er sagte: »Wenn es so steht, dann ist es mir recht!«

Er schwieg und schien zu überlegen.

»Bauen wir die Festung auf,« rief er munter, »und mit Gottes Hilfe soll uns kein Welscher und kein Wendischer mehr in die Lüsen kommen!«

»Wo nehmen wir aber die Kanonen her?« scherzte Herr Bornschbögel.

»Die brauchen wir gar nicht! Aber donnern und krachen soll es doch, daß die Berge widerhallen. Es liegt ja das pure Gold da oben nur so herum. Und in St. Jodok gibt es müßige Hände genug, die sich Arbeit wünschen. Stellen Sie sich vor, was für ein Segen ins Land strömen kann, wenn die Leute wieder verdienen! Wenn sie nicht auf die Bauernwirtschaft allein angewiesen sind, wenn sie wieder zu Wohlstand kommen und ihre Heimat halten können!«

Glücklich, einen so überzeugten Bundesgenossen gefunden zu haben, forderte Doll gleich nach Tisch, während der Großvater ruhte, den Wegwachtwirt auf, mit ihm in die Steinbrüche hinaufzusteigen, die er in Augenschein zu nehmen schon ungeduldig war. Sie wanderten über Halden von grobem Geröll und durch zähes Dickicht von Zwergkiefern, dann wieder an Felsabstürzen entlang, wo der Pfad sich fast im Gewand verlor, und standen schließlich, um einen Felsenvorsprung biegend, vor einem weiten Halbkessel, den nicht die Natur geschaffen hatte, das ließ sich leicht erkennen, sondern die Arbeit der Menschen. Der Berg war sozusagen angebrochen, blendend lag sein Inneres zutag, weißer Marmor, zwischen dem Alpenrosen in unübersehbarer Fülle blühten, wo der Wind Erde angeweht hatte. Gleich Feuerbüschen flammten sie zwischen den Marmorstufen empor, in jauchzender Farbenpracht wogte und lohte ihr Purpur rings um den reinen Schnee des Gesteins, wie Kühlung suchend für zehrende Glut. Es war, als sei die kalte Pracht eines ungeheuren Cäsarenpalastes zusammengestürzt, und als wucherten noch zwischen den marmornen Trümmern die Wälder blühender Azaleen, die man zu seinem Schmucke auf Freitreppen und Veranden, in Säulengängen und lauschigen Gartengrotten angepflanzt.

»Man heißt es hier: Im Rosenbruch,« sagte Ambros. »Die Bergsteiger, die zu uns heraufkommen, glauben, weil man Alpenrosen brechen kann. Denn die wenigsten wissen, daß es ein alter, verlassener Steinbruch ist.«

Die verblichene Pentelikongesellschaft hatte hier die Arbeit überhaupt nicht aufgenommen, denn der Rosenbruch war der am schwersten zugängliche. Wenn es noch einer Bestätigung bedurft hätte, jetzt war für Doll der Beweis geschlossen, daß die Marmorbrüche auf der Wegwacht schon vor hundert Jahren und länger bekannt gewesen. Denn dieses riesige Amphitheater konnte kaum während eines einzigen Menschenalters aus dem Fels gehöhlt worden sein, und Ambros erinnerte sich nicht, von seinem Vater etwas darüber gehört zu haben, daß der Rosenbruch jemals in Betrieb gestanden hätte.

Sie gingen wieder ein Stück zurück und dann die Grashänge entlang und kamen an viele Stellen, wo Stein gebrochen worden war oder leicht gebrochen werden konnte. Überall hatte es Ortsnamen, womit die einzelnen Teile des Gebirges sich bezeichnen und auffinden ließen. Und überall konnte Doll, der seine Taschen mit Gesteinsproben füllte, die Vortrefflichkeit des Materials und seine schier unerschöpfliche Mächtigkeit feststellen.

Noch höher als der Rosenbruch, aber leichter zugänglich als dieser, lag ein zweiter, der die Steingewinnung in großem Maßstab ermöglichte. Man mußte aus dem sogenannten Gsölk, einer weiten, mit Schutthalten durchwachsenen Grasmulde, durch ein Felsentor in eine Schlucht einsteigen, die sich zu Füßen des Mahrkopfes hinzog. Hier stieg die hunderte von Metern hohe Marmorwand des Mahrkopfes fast senkrecht empor, und der Fleiß früherer Geschlechter hatte sich in sie hineingenagt, wie ein Mäuslein einen riesigen Käseleib anbeißt. Das war der Steinbruch, den Ambros den Edelweißbruch nannte, und es blieb ungewiß, ob er seinen Namen dem wie Zucker glänzenden herrlichen Gestein dankte, das an den Bruchstellen zutage lag, oder den wolligen Sternen der edlen Bergblume, die in seltener Größe hier gediehen.

Ein Klirren und Pochen schlug plötzlich an Dolls Ohr, daß er aufhorchte. Es klang, als ob mit Hämmern auf stählerne Meißel geklopft würde.

»Wird hier gearbeitet?« fragte er erstaunt.

»Es sind Leute, die von Gorenje heraufkommen,« sagte der Wirt.

Nach wenigen Schritten erblickten sie in den Felsstufen die Arbeiter verstreut, wohl an die zwei Dutzend, die damit beschäftigt waren, Bohrlöcher ins Gestein zu treiben. Doll redete einen von ihnen an, konnte sich aber nicht mit ihm verständigen, da er eine mit welschen Brocken untermischte slawische Mundart sprach.

Während des Abstiegs gab er dem Wirte gegenüber seinem Befremden Ausdruck, daß der Berg widerrechtlich ausgebeutet werde.

»Es ist Freibeuterei, die da getrieben wird,« sagte er. »Wir werden den Leuten das Handwerk legen müssen.«

»Es wird so sein, wie Sie sagen,« meinte Ambros. »Aber es steht einer dahinter, mit dem ich lieber nichts zu tun haben möchte.«

»Der Edelweißbruch ist Eigentum der ehemaligen Pentelikongesellschaft gewesen,« sagte Doll, »und alle Rechte dieser Gesellschaft sind aus der Konkursmasse an Direktor Haarhammer übergegangen. Ich habe die Pläne genau im Kopf und die Übertragungsurkunden selbst gesehen.«

»Es wird so sein, wie Sie sagen,« wiederholte der Wirt; »aber die Behörden sind weit.«

»Ein klares Recht wird sich leicht durchsetzen lassen.«

»Es wird sich durchsetzen lassen, aber leicht nicht! Der Freiherr aus Grahovo ist mit allen Salben geschmiert.«

»Grahovo?« fragte Doll aufhorchend.

»Es liegt eine Stunde hinter Gorenje.«

»Mir ist, als ob ich den Namen schon gehört hätte.«

»Sie werden ihn in der Lüsen gehört haben. Der Freiherr von Gall-Nastenburg-Grahovo war früher Besitzer des Klosterschlössels.«

Der Freiherr von Gall-Rastenburg-Grahovo! Was weckte der stolze Klang dieses Namens nicht für Erinnerungen! Die Erinnerung an das glänzende Fest bei Pinkenfelds, auf dem sich das nahende Erdbeben wie mit unterirdischem Grollen ankündigte. Die Erinnerung an Ludger Herrnfelds Spottlust und Anzüglichkeiten. Die Erinnerung an eine unberatene kleine Braut ohne Bräutigam, die sich in den Gedanken an die Ehe ungefähr mit dem gleichen kindlichen Gehorsam zu fügen schien, als handelte sich's darum, die Gouvernante zu wechseln.

Und in demselben Augenblicke wußte Doll auch, wer die junge Frau gewesen war, die ihm diesen Morgen auf der Sattelhöhe hinter der Wegwacht vom Jagdwagen aus zugenickt hatte.

»In der Lüsen,« sagte er, »erzählen sich die Leute, der Freiherr hätte schon vor Jahren abgewirtschaftet?«

»Es muß so sein,« antwortete Ambros; »sonst wäre das Klosterschlössel und alles, was dazugehört, nicht unter den Hammer gekommen. Es hat auch jahrelang vom Freiherrn niemand etwas gesehen noch gehört. Erst in der letzten Zeit ist er wieder aufgetaucht; aber freilich – auf der andern Seite von der Wegwacht.«

»Ist er kein Deutscher?«

»Diese Herren sind manchmal, was ihnen gerade paßt. Dem Freiherrn von Gall-Rastenburg ist es erst kürzlich eingefallen, daß er auch den Namen Grahovo führt. Er hat sich vom slawischen Großgrundbesitz in den Landtag und in den Reichsrat entsenden lassen.«

»So ist ihm das Gut Grahovo geblieben?«

»Es war gar kein Gut da. Bloß die paar verfallenen Mauern einer Ruine, die auf Abbruch hätte sollen versteigert werden. Aber niemand hat die fünfzig Gulden dafür geben wollen, so ist sie ihm geblieben. Jetzt hat er am Fuß des Schloßhügels von Grahovo ein neues Herrenhaus gebaut und einen Großgrundbesitz in der Gegend erworben. Es heißt, daß er reich geheiratet hat.«

»Und Sie glauben,« forschte Doll weiter, »daß der Freiherr von Grahovo die Arbeiter heraufgeschickt hat, die im Edelweißbruch Steine brechen?«

»Ich glaub' es nicht, ich weiß es. Er hat es mir selbst angekündigt, daß er den Betrieb in den Brüchen, die früher zu Grahovo gehört haben, wieder aufnehmen will. Die Bergrechte waren nämlich nicht alle in einer Hand. Ein Teil hat zum Klosterschlössel gehört, ein Teil zu Grahovo und ein Teil zur Wegwacht. Ich habe meinen Anteil an die Pentelikongesellschaft verkauft. Es war nicht viel, aber zum Glück hab' ich bares Geld dafür bekommen. Was der Freiherr mit seinen Anteilen von hüben und drüben damals getan hat, weiß ich nicht.«

»Er muß sie ebenfalls verkauft haben,« behauptete Doll. »Sonst könnte das ausschließliche Recht des Betriebes sich jetzt nicht in der Hand Haarhammers befinden.«

»Es wird so sein, wie Sie sagen,« antwortete Ambros zum drittenmal. »Am besten, Sie erkundigen sich beim Freiherrn selbst.«

»Er ist heute Morgen auf die Jagd gefahren?«

»Er wird im Jagdhaus auf dem Mahrkopf übernachten und wahrscheinlich im Lauf des morgigen Tages zurückkommen. Sein Wagen stellt bei uns ein, und er selbst hält sich sicher eine Stunde oder zwei auf der Wegwacht auf.«

»Die Gelegenheit ist mir erwünscht,« sagte Doll.

Als sie das Haus erreichten, stand der Jagdwagen des Freiherrn bereits ausgespannt unter dem offenen Schuppen. Der Großvater hatte sich zu Martina gefeilt, die Erbsen lesend am Brunnen saß, und unterhielt sich mit ihr, während er heiter die Abendkühle genoß, die von den verglühenden Felsgipfeln niederstieg. Doll erfuhr, daß die Baronin im Wagen des Freiherrn auf die Wegwacht zurückgekehrt sei, um im Hause zu übernachten und sich morgen wieder von ihrem Mann abholen zu lassen. Der Aufstieg war ihr beschwerlich gefallen, so hatte sie vorgezogen, umzukehren.

Während Doll noch mit dem Großvater und Martina plauderte, trat sie im Oberstock auf den hölzernen Söller heraus, der zu ihrer Stube gehörte, er grüßte hinauf, sie dankte und kam bald danach herunter. Sie schien in ihrem Wesen so offen und natürlich wie damals und sah auch ungefähr so aus wie früher, nur bedeutend größer und schlanker war sie geworden, und ein abgespannter Zug um Augen und Mundwinkel ließ das einst fast kindliche Gesicht reifer und geistiger erscheinen.

Doll entschuldigte sich, daß er am Morgen beinahe versäumt hätte, sie zu grüßen. Es machte sich wie von selbst, daß sie im Gespräch auf der Hochstraße nebeneinander hingingen, zwischen den saftgrünen Matten, die bis zu den Schutthalden anstiegen. Eine erfrischende Luft, die man nach dem fast wolkenlosen Tage wohltuend empfand, strich über die Paßhöhe, die Rinder stiegen mit klingenden Glocken von den Weideplätzen nieder, um den Stall aufzusuchen, der hinter dem Hause lag, und jenes erlösende Gefühl des Friedens, das klaren Abenden in der hohen Einsamkeit der Berge eigen ist, entfernte alles Fremde zwischen den beiden jungen Menschen, die einander so wenig kannten, daß sie eigentlich nur eine einzige gemeinsame Erinnerung hatten, die Erinnerung an jenen Abend im Hause Pinkenfeld, jene seltsame Dissonanz von Festesfreude und geheimem Bangen.

Herrn von Pinkenfeld hatte die Erschütterung von dreiundsiebzig schwer mitgenommen, aber es war kein Fleck auf seiner Ehre zurückgeblieben. Er kam allen seinen Verpflichtungen nach, niemand erlitt Schaden durch ihn, und daß viele, die mit ihm an Gründungen beteiligt waren, mit ihm Schaden erlitten, konnte ihm nur die Unbilligkeit zum Vorwurf machen. In einer Hinsicht verdiente er sogar Bewunderung. Er hatte sich nicht geschäut, den geänderten Umständen offen Rechnung zu tragen, und mit dem Mute, der dazu gehört, sich von hundert gewohnten Beziehungen loszureißen, die schwierigste Transaktion durchgeführt, die er je unternommen, indem er die Lebenshaltung seines ganzen Hauses von heute auf morgen aus den Höhen des Reichtums in die Alltäglichkeit des Mittelstands herabdrückte.

Offen und ohne jede falsche Scham erzählte Natalie Pinkenfeld, die jetzt Baronin Gall-Rastenburg hieß, von jenen Nöten.

»Damals,« sagte sie, »hab' ich erst erkannt, daß mein guter Vater in seinem Innersten ein wahrhaft vornehmer Mensch ist, wenn auch die Leute sich darüber lustig machen, daß er manchmal beim Sprechen den Daumen ins Ärmelloch seiner Weste steckt.«'

Doll konnte nicht umhin, das entschiedene Eintreten der Tochter für den Vater liebenswürdig zu finden.

»Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht,« sagte er aufrichtig teilnehmend.

»Und das ist so merkwürdig,« sagte sie: »gerade die schweren Zeiten, wenn man dann auf sie zurückblickt, sind manchmal die glücklichsten gewesen. Wir waren ja so unsagbar oberflächlich erzogen, Siddi und ich. Papa fehlte es an Zeit, sich um uns zu kümmern, und Mama – die war durch gesellige Verpflichtungen in Anspruch genommen. Nun denken Sie, das Unglück! Der erste Gedanke war hart. Stellen Sie sich vor, wenn man gestern noch geglaubt hat, ein reiches Mädchen zu sein! Und nun soll man auf einmal sich alles einteilen lernen. Leicht ist es nicht, sich hineinzufinden. Aber dann tauchen die neuen Pflichten auf, und die sind wie gütige Feen. Der gute Vater, dem man sonst einen Kuß mühsam ablisten mußte, ist jetzt liebebedürftig. Man kann ihm etwas sein, man richtet ihn auf, indem man fröhlich tut und sich nichts merken läßt. Das Haus, in dem man nie recht zu Hause war, weil so viele Fremde ein und ausgingen, wird einem erst zur Heimat, weil es jetzt einen Wirkungskreis für Liebe, Hingebung und Dankbarkeit bietet. Man ist plötzlich zum Gebenden geworden, während man sonst immer nur empfing, und man fühlt sich reicher als zuvor.«

Sie gingen immer nebeneinander her, er half ihr einen Mantel um die Schultern legen, weil die Luft schon fast schneidend wurde. Auf dem noch ganz hellen Himmel stand der Abendstern, knapp über der Sattelhöhe, mit dem beweglichen Funkeln und Sprühen eines offenen Feuers.

»Ich wollt', es wär' immer so geblieben,« sagte sie mit einem Seufzer. »Damals sah ich Ziele vor mir, einen Lebenszweck. Ich war wie erlöst, alles Falsche fiel von mir, ich fühlte mich frei. Ich war ja wie eine Puppe gewesen, jetzt erst wurde ich ein Mensch, ich entdeckte so viele neue Fähigkeiten in mir, auch die Fähigkeit – zu lieben. Wen hatte ich bis dahin geliebt? Siddi und den Vater allenfalls – soweit ich eben Gedanken übrig hatte, und dann noch einen, den ich kaum kannte, und der nicht an mich dachte« ...

»Sie feierten an jenem Abend, als ich das Vergnügen hatte, Sie kennen zu lernen, das Fest Ihrer Verlobung mit dem Freiherrn.«

»Gut, daß Sie mich daran erinnern,« sagte sie mit Bitterkeit. »Der Freiherr hatte sich jetzt zurückgezogen, ich verachtete ihn, aber ich pries mich glücklich, denn nun erkannte ich, daß er nicht mich geliebt hatte, sondern mein Geld. Die Eltern nahmen ihn in Schutz und wollten mir klar machen, daß es seine Pflicht gewesen sei, mir mein Wort zurückzugeben, denn er stand ja selbst vis-à-vis du rien. Und ich hatte auch eigentlich kein Recht, ihn zu verachten, ich hatte ihn ja ebensowenig geliebt, wie er mich. Seine guten Formen, der Titel, die Vorstellungen der Eltern hatten mich gewonnen. Aber jetzt, da alles Menschliche in mir erwacht war, jetzt hätte ich ihn lieben können. Ich wäre bereit gewesen, Not und Entbehrung mit ihm zu teilen, ich wäre nach Amerika mit ihm gegangen, wenn es darauf angekommen wäre, wir hätten ein neues Leben begonnen und uns vielleicht emporgerungen. Zu allem wär' ich bereit gewesen. Und er schien mir feige und verächtlich, weil er nicht auf denselben Gedanken kam wie ich, sondern bloß einen Absagebrief auf parfümiertem Papier schrieb. Ich war fertig mit ihm, ich glaubte es wenigstens zu sein.«

»Und schließlich fand er sich doch wieder zu Ihnen zurück?« fragte Doll behutsam.

»Ich hatte jahrelang nichts mehr von ihm gehört, ich ging ganz in der Arbeit meines Bruders auf. Sie wissen, er ist Künstler. Ich konnte ihm etwas geben, was keines von den gewöhnlichen Modellen ihm hätte geben können, das Weltentrückte, das nirgends auf der Erde zu Hause ist, und das er gestalten wollte: ein durchgerungenes Leid, das seelischer Ausdruck geworden war. Eine Liebe, die sich nicht klug abgefunden hatte, die noch immer liebte, wenn auch hoffnungslos.«

Doll verstand nicht recht, wie sie es meinte. Hatte sie den Freiherrn dennoch geliebt? Oder von welcher Liebe sprach sie?

»Der Freiherr war Ihnen also doch nicht ganz gleichgültig geblieben?«

»O es war nicht Neigung zum Freiherrn, es war die Liebe zu jenem andern, von dem ich sprach. Zu jenem andern, an den ich immer denken mußte, und dem ich nichts war als eine gleichgültige Begegnung, die vorübergleitet ... An den Freiherrn dachte ich damals überhaupt nicht mehr. Er war nicht nach Amerika gegangen, er hatte sich nicht durch eigene Kraft hinaufgearbeitet, er hatte die ganze Zeit nur von seinen Schulden gelebt. Das erfuhr ich freilich erst viel später. Erst nachdem ich ihn – geheiratet hatte.«

Sie waren auf der Sattelhöhe angelangt und ließen sich ins blumige Gras nieder, um auf die Wegmacht zurückzuschauen. Leise schlich die Dämmerung über die fahl gewordenen Gipfel, und da der hellfunkelnde Abendstern jetzt in ihrem Rücken stand, so konnten sie die ersten winzigen Lichtpunkte, blaß und noch kaum sichtbar, auf dem weiten Firmamente wahrnehmen. Die Schindeldächer der kleinen Siedlung auf der Wegwacht waren von den Felsen nicht mehr zu unterscheiden, aber ein Fenster, das mit orangerotem Lichte gefüllt war, bezeichnete die Stelle, wo Menschen wohnten, in dieser hochgelegenen Einöde von grauem Stein.

»Die Stille, die hier oben herrscht,« sagte die Baronin, »wird bald dem Lärm der Arbeit weichen. Ich weiß, was Sie hierher geführt hat, Herr Mairold.«

Da sie merkte, daß Doll sich wunderte, fuhr sie fort: »Mein Mann ist Großaktionär der ehemaligen Pentelikon-Gesellschaft gewesen; so konnte es uns kein Geheimnis bleiben, daß die langwierige Abhandlung des Konkurses endlich abgeschlossen ist. Ich weiß, daß die Rechte der Pentelikon an Direktor Haarhammer übergegangen und daß Sie beauftragt sind, sozusagen den ersten Augenschein hier aufzunehmen. Sie werden es dabei mit meinem Manne zu tun bekommen, und ich bin eigens deshalb schon heute auf die Wegwacht zurückgekehrt, um ungestört mit Ihnen zu sprechen. Ich wollte Sie darauf vorbereiten, daß der Freiherr Ihnen hier arge Schwierigkeiten in den Weg legen wird. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ich mag nicht den Zwischenträger spielen. Aber wissen sollen Sie, daß ich zwar die Gattin des Freiherrn von Grahovo, aber durchaus nicht mit allem einverstanden bin, was er unternimmt, und daß mein Vater, so arg man in Wien jetzt auch die Juden beschimpft, doch ein ehrlicher und rechtlicher Mann ist, der mit den Machenschaften meines Mannes keine Gemeinschaft hat.«

Außerstande, einen gewissen Unmut zu unterdrücken, den ihre Worte in ihm aufregten, fragte Doll schroff, warum sie schließlich den Freiherrn doch geheiratet hätte, wenn sie so gering von ihm dächte, wie es offenbar der Fall wäre?

»Es ist ein Widerspruch, ich weiß es,« sagte sie. »Sie müssen mich für ganz töricht halten.«

»Das wäre nicht einmal das Schlimmste.«

»Also für schlecht?«

»Wer das Richtige erkennt und das Falsche tut, dem ist allerdings nicht zu helfen.«

»Sie sind hart,« sagte sie traurig.

»Ich bin nicht Ihr Richter und erlaube mir kein Urteil. Leider gibt es viele unglückliche Ehen, und die Ursachen sind oft dunkel.«

»Sie halten mich für berechnend, als ob mich schließlich doch der Titel verführt hätte?«

»Ich würde beides gleich aufrichtig bedauern,« sagte Doll, »ob ich Sie nun für berechnend halten müßte, oder ob Sie selbst das Opfer einer Berechnung geworden wären.«

Es war ihm bekannt, daß Herr von Pinkenfeld seither längst wieder zu Vermögen gekommen war. Er hatte seine Fabrik in Nedweditz nicht ohne Gewinn an die Firma Mairold verkauft. Die Zeit begünstigte die Riesenbetriebe, wie in der organischen Welt fraßen die Großen die Kleineren auf. Die zahllosen Seidenfabriklein, die es in den Tagen der Großväter und Urgroßväter auf dem Schottenfeld gegeben hatte, gehörten längst der Sage an. Aber auch die immer noch stattliche Anzahl größerer Fabriken, die in den sechziger und siebziger Jahren vom Schottenfeld aus in den Provinzen betrieben worden waren, schmolz mehr und mehr zusammen, seit das lange schwebende Problem des mechanischen Webstuhls für Seide eine befriedigende Lösung gefunden hatte. Bald würde es in diesem Zweig nur noch wenige Weltfirmen geben, wer nicht ein großes Kapital auf eine einzige Karte zu setzen hatte, der tat besser, seinen Schmer zu verkaufen, solange er noch vorhanden war. Und Pinkas u. Co. hatten damals weder über so viel überschüssiges Kapital verfügt, um den Betrieb im großen zu mechanisieren, noch war Herr von Pinkenfeld geneigt gewesen, alles auf eine Karte zu setzen, die schließlich doch den Einsatz nur anständig verzinste, nicht verzehnfachte oder verhundertfachte. Weniger als je war er gerade damals dazu bereit gewesen. Er fing an, ein alter Mann zu werden, er hatte Eile. Er mußte es noch erleben, daß er wieder der Herr von Pinkenfeld wurde. Denn das war er jetzt nur mehr in den Augen weniger, ja, in deren Augen war er es jetzt erst recht geworden, aber die zählte er bloß, er wog sie nicht.

»Schade, ich hätte schon beinahe Achtung vor dem Mann bekommen,« hatte Ludger Herrnfeld gesagt, nachdem er einmal mit ihm zusammengetroffen war. »Aber der ist ja, seit er seine Millionen verloren hat, sogar in seinen eigenen Augen nichts anderes mehr als der Urenkel des Hausierers Schaufel und der Sohn des Leb Pinkas, der sich an der Revolution sein Süppchen kochte. Kann er verlangen, daß ich den Herrn von Pinkenfeld in ihm sehe, wenn er vor seinem eigenen Richterstuhl als nackter Pinkas dasteht?«

Inzwischen hatte das Blättchen sich gewendet. Dem nackten Pinkas stand der Schaum an den Lippen und seine Wangen waren weiß wie Kreide, wenn er an der Börse arbeitete, aber er erreichte es, daß wieder der vornehme Herr von Pinkenfeld aus ihm wurde, in den Augen der Vielen und damit auch in seinen eigenen. Die Spekulation hatte ihn innerhalb weniger Jahre ans Ziel geführt; auf dieses Metier verstand er sich doch noch ungleich besser als auf jedes andere, es lag ihm im Blute, es vibrierte ihm in den Fingerspitzen. Und den neuen Millionen wohnte dieselbe magische Macht inne wie den alten, man konnte sich alles darum kaufen, Ehre, Ansehen, Glanz, sogar Schwiegersöhne – nur Glück nicht.

»O wenn wir in der Enge geblieben wären,« sagte Natalie, »mir wäre besser! Wie auf eine Idylle blick' ich auf die Zeit zurück, da es knapp herging. Nun fing das nichtige Leben der großen Geselligkeit wieder an. Nun machten wir wieder ein Haus und hatten keine Heimat, gehörten jedermann, nur nicht uns selbst und kannten keine Ziele als die Unterhaltung, die so rasch aufhört, ein Vergnügen zu sein. Nun stellten sich auch die Freier wieder ein. Es schmeichelte mir, daß der Baron Gall-Rastenburg mir die Treue bewahrt hatte. So legte ich mir's nämlich aus. Die verzichtende Liebe fordert eine starke Seele – können Sie ahnen, wie hart es ist, sich verschmäht zu wissen? Und das Glück – was man so Glück nennt, macht die Seelen schwach. Meine wahre Liebe hatte nichts zu hoffen, der, an den ich dachte, ahnte nichts davon, daß er nur die Hand hätte auszustrecken brauchen. Er hatte mich nicht beachtet, ich war ihm zu unbedeutend, ich glaube, er verwechselte mich halb und halb mit meiner Schwester Siddi und kannte uns kaum auseinander. Sehen Sie, das ist das Los von uns Frauen, wir dürfen keinen ersten Schritt tun, wir müssen schweigen und entsagen. Wir müssen warten, ob es einem Herrn der Schöpfung vielleicht beliebt« ...

Sie lachte bitter vor sich hin.

»Dem Baron beliebte es – leider!« sagte sie, stand auf und fing an, den Weg zurückzugehen. Sie schritt sehr rasch aus, als fürchtete sie sich plötzlich, mit Doll allein zu sein. Es war ganz dunkel geworden, unzählige Sterne flimmerten am Himmel. Doll konnte nur die schwarzen Umrisse ihrer Gestalt erblicken, aber er fühlte, daß eine bebende Unruhe in ihr war, und ihre Stimme klang, als ob es bergauf ginge und der Atem ihr benommen wäre, während die Straße nach der Wegwacht sich doch im Gegenteile abwärts senkte.

»Nun kennen Sie meine ganze Geschichte,« sagte sie schroff, wie mit Zorn erfüllt. »Ich weiß nicht, warum mir daran liegt, Ihnen nicht als ein albernes oder gar verworfenes Geschöpf zu erscheinen. Schließlich könnt' es mir gleichgültig sein, was Sie von mir denken. Aber das eine sollen Sie doch noch wissen: Ich nahm den Freiherrn trotz alldem – aus Liebe, wenn auch nicht aus Liebe zu ihm, wie er tatsächlich war. Daß in meinem Herzen nichts vorgegangen wäre und ich aus Eitelkeit oder Vernunftsgründen mich hätte verkaufen wollen, das dürfen Sie nicht glauben! In den Jahren der Trennung hatte ich mir ausgemalt, wie es sein könnte, wenn mein Verlobter jener Mann gewesen wäre, der Not und Entbehrung auf sich genommen hätte, mich zu erringen. Und dieses Bild floß mit dem Bilde jenes anderen zusammen, der mich längst vergessen und überhaupt nie an mich gedacht hatte. Denn dieser, glaub' ich, wäre einer solchen Entschlossenheit fähig gewesen – hätte er mich geliebt. So täuschte ich mich selbst, oder meine Einbildungskraft täuschte mich, und meine Sehnsucht verwechselte den Wahn mit der Wirklichkeit. Ich war damals ganz verblendet, ich sah in dem, der vorgab, mich zu lieben, jenes Traumbild, das ich liebte. Können Sie dies verstehen? Bin ich die erste, die einer solchen Irrung unterlag? Oder kommt dergleichen öfter vor? Ich weiß es nicht. Lachen Sie darüber, wenn Sie können. Verurteilen Sie mich, wenn Sie wollen. So war es, ich kann's nicht ändern. So wurde ich die Gattin eines Mannes, an dessen Seite alles Gute verkümmert, das noch in mir war.«

»Aber genug davon!« rief sie in verändertem Ton. »Ich spreche immer bloß von mir und langweile Sie. Wie geht es der blonden Bethy Leodolter?«

»Ich weiß nichts von ihr,« sagte Doll gepreßt.

Sie scherzte und neckte ihn.

»Tun Sie bloß nicht so unschuldig, dann merkt man ja erst recht, daß etwas daran ist.«

Doll fühlte keine Neigung, auf einen so alltäglichen Ton einzugehen. Wie kam diese Frau, mit der er nichts gemein hatte, dazu, sich in ein Bereich zu drängen, das sein eigenstes war? Er hatte Bethy Leodolter nur selten gesehen. Und wenn er sie oft gesehen hätte, was ging es sie an?

»Wenn Sie auf der Wegwacht bleiben,« sagte die Baronin gleichsam mütterlich, »so werden Sie öfters mit ihr zusammentreffen. Sie bringt jeden Sommer eine Zeit bei ihrer Tante im Klosterschlössel zu.«

Sie fing ganz ausfallend an, Bethy Leodolters Lob zu singen. Er hatte den Eindruck, daß sie ihn ausholen wollte, und antwortete zurückhaltend. Irgendein Mißtrauen, von dem er sich keine Rechenschaft zu geben wußte, war in ihm aufgestiegen. Wenn eine Frau die andere lobt, so steckt etwas dahinter, Liebe oder das Gegenteil, aber nicht Gleichgültigkeit. Warum sollte Natti Pinkenfeld die blonde Bethy lieben? Wenn eine Frau, die ihr Liebesziel verfehlt hat, eine andere lobt, die sie in der Liebe für glücklich hält, so steckt etwas dahinter, unendliche Güte oder Eifersucht. Woher sollte Natti Pinkenfeld unendlich gütig, oder auf wen sollte sie eifersüchtig sein?

Das waren schwer zu lösende Rätsel.

»Sie gleicht in so vielem Frau Gioja, ihrer Großtante,« sagte sie. »Sie liebt wie diese die Einsamkeit, ist ebenso heiter, ebenso mild und ebenso abgeklärt. Für ein junges Mädchen fast – zu abgeklärt; unmodern möcht' ich sagen.«

»Kann man – zu abgeklärt sein?« fragte Doll.

»Ich mag die unmodernen Menschen nicht.«

»Nun waren Sie wenigstens aufrichtig.«

Sie näherten sich dem Hause.

»Die unmodernen Menschen,« sagte die Baronin, und es brach auf einmal wie lange verhaltener Haß aus ihr hervor – »die sind wie der Hans im Glück. Sie wissen mit dem Gold nichts anzufangen, das man ihnen schenkt.«

Ging das auf Bethy? Oder auf wen sonst? Hatte es irgendeinen, auch nur den leisesten Bezug auf Bethy?

»Sie werfen es verächtlich hin, sie wissen seinen Wert nicht zu schätzen. Sie verschmähen das Gute, das sie hätten besitzen können, sie geben sich nicht einmal die Mühe, es festzuhalten, obgleich es schon so gut wie ihr Eigentum war, wenn sie es nur wollten. Und was bringen sie schließlich heim? Genau so wie der Hans im Glück nicht einmal einen Wetzstein. Der ist ihnen in den Brunnen gefallen. Schade! Wer hat schließlich etwas von einer solchen Dummheit? Wäre Hans nur um ein klein bißchen klüger gewesen, das Märchen hätte so reizend ausgehen können!«

Er stand verwirrt und betreten, sie sagte ihm Gutnacht und begab sich auf ihr Zimmer.

Diesen Abend sagte Doll zum Großvater: »Der allgemeine Eindruck, den man von einem Menschen in Erinnerung behält, kann doch leicht ein ganz falscher sein, kommt mir jetzt vor. Seelen sind eben kein Massenartikel.«

»Kannst recht haben,« sagte der Großvater versonnen.

Den andern Tag kam der Freiherr von der Jagd zurück, und Doll nahm Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Er war ein glatter Weltmann mit jener Liebenswürdigkeit von oben herab, die keine Annäherung zuläßt. Seine Art hätte sich am zutreffendsten mit dem Worte »uneinläßlich« bezeichnen lassen. Er behandelte alles Geschäftliche als Lappalie, glitt mit einem Scherzwort darüber weg, widersprach niemals und meinte höchstens, es werde sich schon finden, und man könne noch darüber reden. Mit diplomatischer Hinterhältigkeit ging er jedem klaren Wort aus dem Wege, stellte keinerlei Behauptungen auf, machte keine Rechte geltend. Aber der Grundton, der überall herausklang, enthielt auch keine Anerkennung der Rechte des andern, es lag nur ein halbunterdrücktes Gähnen darin: »Was werde ich mich deinetwegen echauffieren?«

Der Freiherr wußte offenbar, was er wollte, und war entschlossen, sich nicht in die Karten sehen zu lassen. Schließlich gewann Doll den Eindruck, daß hier jede Mühe vergeudet sei, und brach das Gespräch mit der Bemerkung ab, daß er zu seinem Bedauern den Schutz der Behörden in Anspruch nehmen müßte, wenn die Arbeit im Edelweißbruch nicht eingestellt würde. Darauf versicherte der Baron, daß es ihm ein Vergnügen sein werde, den Herrn Ingenieur auf Schloß Grahovo zu begrüßen, und befahl seinem Jäger, den Wagen vorfahren zu lassen.

Wenige Minuten später rollte der elegante Jagdphaëton mit dem freiherrlichen Paare die steile Straße gegen Gorenje hinunter.

Auch die Baronin hatte Doll eingeladen, auf Grahovo Besuch zu machen. Sie war an der Seite ihres Gatten ganz Form, ganz Dame, ganz Baronin und gewann dabei eine gewisse fatale Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, deren Ehrgeiz es doch einst gewesen war, einen Salon zu gründen.

Das unerwartete Zusammentreffen mit ihr, ihre Bekenntnisse, ihre Versuche einer freundschaftlichen Annäherung, ihre halbverhüllten Andeutungen, ihre plötzlich vorbrechenden Leidenschaftlichkeiten – das alles ließ geteilte Gefühle in Doll zurück. Einen gewissen Anteil konnte er ihr nicht versagen, aber auch keinen Einfluß auf ihr Schicksal nehmen, das er für das Ergebnis einer unglückseligen Zeit und Umgebung hielt. Wir gehen ja an so vielem vorüber im Leben, das uns nicht berühren kann, nicht berühren darf, weil wir keine innere Gemeinschaft damit haben. Wir sind nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, innerhalb des Kreises zu bleiben, der unsere Wirksamkeit, unser Wesen, unsere Neigungen umschreibt, und den wir nicht sprengen können, ohne uns selbst zu verlieren.

Dolls Weg führte von der Lüsen aus auf die Wegwacht, hier lagen seine Ziele. Mit dem Land und den Menschen auf der andern Seite hatte er nichts gemein, die natürlichen Grenzmarken des Herzens trennten ihn davon.

Und er beschloß, der Einladung nach Grahovo keine Folge zu geben und dem Schloße des Freiherrn fernzubleiben.

*


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