Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Die Festreden und Jubelgesänge waren verhallt, die Weltausstellung hatte ihre Pforten geöffnet.

Schon lange vorher waren Christi und Moini ständige Gäste im Prater gewesen, es fiel ihnen die Aufgabe zu, mit Baudrillard die großen Warenschränke im Südtransept der Rotunde einzurichten, hinter deren Schaufenstern die Seidenstoffe und Samte des Hauses Mairold schimmerten. Am Tage der feierlichen Eröffnung durfte auch Doll die Mutter begleiten. In schier endloser Reihe bewegte der Zug der Mietwagen und Equipagen sich über die Ringstraße bis zum Praterstern und die Hauptallee des Praters entlang bis zum Eingangstor des umfriedeten Ausstellungsplatzes. Ganz Wien schien in Bewegung. Aber es war, als ob der Himmel nur zögernd die Festesfreude der Menschen segnen wollte. Ein scharfer Wind fegte durch die Straßen, und hie und da ging ein feiner Strichregen nieder. Erst gegen Mittag klärte die Witterung sich auf, ein Strahl Sonne brach aus dem Gewölk, gerade noch rechtzeitig, daß Doll, ehe er mit der Mutter und den Brüdern die Stufen zum Hauptportal hinanstieg, die goldene Kaiserkrone konnte aufleuchten sehen, deren stattliche Größe er erst jetzt recht zu schätzen vermochte, wo sie so nahe, wenn auch immer noch in unermeßlicher Höhe über ihm, auf dem umgestülpten Riesentrichter der Rotunde schwebte.

Es war eine verwirrende Fülle von Eindrücken, die sein empfängliches Gemüt berauschten. Die Flaggen aller Völker des Erdballs flatterten im Winde, und in das Hochrufen einer unübersehbaren frohbewegten Menschenmenge mischte sich das feierliche Donnern der Geschütze. Die Uniformen der Hofwürdenträger und der Erzherzöge, die sich einer nach dem andern einfanden, bildeten mit den erlesenen Frühlingskostümen der Damen einen Halbkreis von nie gesehener Pracht vor der riesigen Eingangspforte der Rotunde, und als, auf die Minute genau, zur festgesetzten Stunde der Kaiser im sechsspännigen Galawagen vorfuhr, brausten, von einem Dutzend Militärkapellen gleichzeitig gespielt, die Klänge der Volkshymne gegen den Himmel. Doll sah, wie der Monarch mit einer Ansprache begrüßt wurde, und wunderte sich, daß er, nachdem er dem Erzherzog Protektor und den Präsidenten der Ausstellung die Hand gereicht hatte, nicht eintrat, sondern sich umwendete und mit seinem elastischen Schritt in militärischer Haltung die wenigen Stufen wieder hinabstieg. Doll stellte sich auf die Fußspitzen und reckte seinen Hals, das Herz begann ihm mächtig zu pochen. Denn während die Musik plötzlich absetzte und gleich einer gewaltigen Fanfare das »Heil dir im Siegerkranz« intonierte, sah er die Hünengestalt des deutschen Kronprinzen, seines herrlichen blonden Helden, aus dem Galawagen steigen, der eben vorgefahren war, sah den Kaiser von Österreich ihm entgegeneilen und ihm mit jener warmen Herzlichkeit die Hand entgegenstrecken, mit der man einen lieben Freund begrüßt.

Es war wie ein großes Symbol, dieses Ereignis, das er mit eigenen Augen mitangesehen hatte, und es blieb ihm unvergeßlich.

Nachmittags, während der Jause, als die erwachsenen Brüder den jüngeren Geschwistern von den geschauten Herrlichkeiten erzählten, fiel Frau Theresen Dolls stumme Weihestimmung auf. Und mit dem Scharfsinn der Mutter erriet sie halb und halb, daß er einen unsichtbaren deutschen Eichlaubkranz im Haare trug, der wie mit einem leisen Trauerflor umwunden war.

Da legte sie ihre Hand auf die seinige und fragte lächelnd: »Denkst du an deinen blonden Helden?«

Er mußte an sich halten, daß ihm die Augen nicht feucht würden. Ohne daß er sich recht klar darüber gewesen wäre, fühlte er das Leid des Ausgeschlossenseins aus der natürlichen Gemeinschaft der Nation, die jedem Volke heilig ist, und deren begeisterter Kult auf dem ganzen Erdenrunde die Herzen der Jugend höher schlagen macht. Und dennoch war er dankbar zugleich. Dankbar dafür, daß er in dem hohen Gast des Kaisers den einstigen Feind Österreichs jetzt offen lieben durfte.

»Laß gut sein!« sagte Frau Therese milde und unendlich verstehend. »Gehören wir auch nicht zum Reich, so sind wir darum keine geringeren Deutschen. Und haben wir es schwerer als die andern – vielleicht ist es gut so, denn Not stählt die Herzen ...« Und indem sie sich an Herrnfeld wendete, der in ihrem Wagen aus dem Prater in die Luftschützgasse mitgekommen war, meinte sie lächelnd: »Unglück ist doch ein Segen, wenn ich nicht irre – ?«

»Daß ich nicht wüßte,« sagte er Kuchen essend.

»Sie waren es, der einmal diese Ansicht vertrat.«

»Tat ich dies? Es läßt sich alles vertreten. Aber die Dinge sind in beständigem Flusse, und nur eine einzige Wahrheit steht fest wie ein eherner Fels: daß es nichts Unzweckmäßigeres gibt, als ein gutes Gedächtnis. Es hindert uns an jeder Entwicklung, es nagelt uns an unsere Irrtümer und versperrt uns den Weg zu neuen Erkenntnissen. Ein gutes Gedächtnis ist der Vater des Vorurteils, der Großvater der Parteisucht und der Urgroßvater der Verbohrtheit. Warum sollte Unglück ein Segen sein? Haben Sie die Güte, sich näher zu erklären! Da Sie die Bälge meiner Gedanken so sorgfältig konservieren, so dürfen Sie sich auch die Mühe nicht verdrießen lassen, sie auszustopfen, damit sie wenigstens etwas wie einen Schein von Leben gewinnen.«

»Nichts einfacher als das,« sagte sie. »Ihr Gedankengang war, soweit ich mich erinnere, ungefähr folgender: Das Unglück von sechsundsechzig übertrug uns eine ganz eigenartige weltgeschichtliche Mission. Es schuf in Österreich das Vorbild des friedlichen Völkerbundes der Zukunft. Hier soll der Kampf um die nationale Existenz durch fruchtbare Arbeit, nicht durch die Gewalt der Waffen entschieden werden. Und wenn wir unsere Aufgabe recht verstehen, so wird auch uns Deutschen in Österreich das Unglück zum Glück ausschlagen. Meinten Sie es nicht so?«

»Gut, daß Sie getreulich bewahren, was ich angeblich einmal gesagt haben soll. Ich bin freudig überrascht, mich einer so idealen Auffassung fähig zu wissen.«

»Ich habe dich diese Auffassung oft vertreten hören,« sagte Christ!.

»Es muß schon eine Weile her sein,« meinte Ludger; »denn ich bin längst zu der Überzeugung gelangt, daß das neue Österreich nicht den Völkern dieses Staates, sondern der Börse zulieb begründet wurde. Wenn Anglo fallen, so ist es ein Pech. Wenn ich aber zufällig auf Baisse spekuliert habe, so schlägt mir der Kurssturz zum guten aus. Insofern ist es richtig, daß ein Unglück zum Segen werden kann. Anders hab' ich es sicher nicht gemeint.«

»Pfui, schämen Sie sich!« rief Frau Therese erzürnt.

»Warum soll ich mich schämen?« fragte er.

»Weil Sie Fangball spielen, mit Ihrem Patriotismus wie mit Ihren schönsten Gesinnungen! Noch dazu heute, wo wir eben von einem für ganz Österreich so bedeutungsvollen Feste kommen!«

»Die wahre Bedeutung dieses Festes,« sagte Herrnfeld, in seiner wilden Laune beharrend, »wird am zutreffendsten durch den Weihegesang illustriert, mit dem die Weltausstellung heute eröffnet worden ist.«

Und er fing feierlich zu singen an:

»Auf, ihr Völker, strömet her
Zu der großen Geisterschlacht,
Euer Fortschritt eure Wehr'
Und die Bildung eure Macht! ...«

Er hielt inne, stand vom Jausentische auf und warf sich auf den Divan, während er sich vor Lachen wand.

»Was haben Sie an den Worten eigentlich auszusetzen?« fragte Frau Therese streng.

»Gar nichts!« sagte er. »Nur die Melodie find' ich so unbändig heiter, die man dem Text des Festliedes untergelegt hat.«

»Heiter?« wunderte sich Frau Therese. »Es ist eine feierlich getragene Weise. Man wird sie wohl für diesen Zweck eigens komponiert haben?«

»Es wäre überflüssige Mühe gewesen,« sagte er, sich die Lachtränen abwischend; »denn keine andere Melodie hätte sich für diese Festfeier besser eignen können, als gerade diese. Es ist nämlich, wenn Sie es wirklich nicht wissen sollten, der Siegesgesang aus ›Judas Makkabäus‹!«

Und indem er den Daumen in den Ärmelausschnitt seiner Weste steckte, begann er neuerdings, diesmal in mauschelndem Jargon, zu singen:

»Auf, ihr Völker, strömet her
Zu der großen Geisterschlacht ...«

»Geisterschlacht!« rief er. »Wörtlich, Geisterschlacht! Heißt das nicht, den Teufel an die Wand malen? Wir können es leicht erleben, daß die Gespenster von hunderttausend zugrunde gerichteten Existenzen um die Kaiserkrone auf der Rotunde einen Geistertanz aufführen!«

»Sie müssen auch an allem nörgeln!« rief sie empört. »Das kommt davon, daß Sie keinen bestimmten Beruf ausfüllen!«

Sie empfand sofort, daß sie zu weit gegangen war. In Gegenwart der Kinder hätte sie ihm das nicht sagen dürfen. Er war ernst geworden und empfahl sich bald. Sie bedauerte im stillen, ihn gekränkt zu haben. Der Wahrheit entsprach es ja, was sie gesagt hatte, aber gerade darum hätte sie es nicht sagen dürfen. Die Aufrichtigkeit unter Freunden muß mit Schonung Hand in Hand gehen. Wer würde ohne Fehl befunden? Gerade darin besteht ja die Freundschaft, daß wir das Gute, das in einem Menschen ist, so hoch schätzen, daß wir auch seine Schwächen willig zu dulden bereit sind. Das wiederholte sie sich jetzt Tag für Tag, solange Herrnfeld ausblieb. Und er betrat viele Wochen lang nicht mehr ihr Haus. Sie entbehrte ihn unsagbar und gewann erst jetzt ein Maß dafür, wieviel in ihrem Dasein dieser seltsame Mensch bedeutete, dieser feine, vornehme, bittersüße Ausbund von Widersprüchen, der sonst mit fast rührender Treue an ihr hing und ihren Kindern halb Vater und Erzieher, halb Kamerad und Spießgeselle war.

Der Gedanke, daß er vielleicht für immer wegbleiben würde, wurde ihr schließlich unerträglich. Da schrieb sie ihm eine ganz kurze Zeile: »Haben Sie wirklich ein so gutes Gedächtnis, lieber Freund?«

Weiter nichts.

Es lag aber alles in den wenigen Worten, was not tat.

Und Herrnfeld kam wieder. Es wurde nichts über sein langes Fortbleiben gesprochen. Er war unverändert, und der kleine Zwischenfall fiel bald der verdienten Vergessenheit anheim.

Wenige Tage nach Eröffnung der Weltausstellung gab Frau von Pinkenfeld einen Adoleszentenball. Von ihren beiden noch sehr jugendlichen Töchtern Sidonie und Natalie, die Zwillinge waren, hatte sich eine verlobt, niemand konnte behalten, welche, denn sie glichen einander zum verwechseln. Für die meisten Bekannten, ja sogar für den Vater selbst, der mit inniger Liebe an den beiden Mädchen hing, aber als vielgeplagter Geschäftsmann wenig Zeit für sie übrig hatte, waren sie mehr ein Gattungsbegriff als zwei getrennte Individualitäten. Man fagte Siddi und Natti, als ob man von einer Krachmandel mit zwei lieblich süßen Kernen gesprochen hätte, oder von einem Paar Würstchen, oder von einem Joch Öchslein.

Eigentlich kannte nur die Mutter sie auseinander.

»Die Siddi hat ein Sprachentalent,« pflegte sie zu sagen. »Französisch oder englisch, das ist ihr alles ganz gleich. Die Natti dagegen ist mehr für das Klavierspielen.«

Das war das Kennzeichen und Merkmal, das in den Augen Frau von Pinkenfelds die Zwillingsschwestern zu zwei voneinander immerhin noch unterscheidbaren Menschenkindern differenzierte.

Die Torfahrt und die Stiegenhalle des Pinkenfeldschen Hauses in der Dreilaufergasse waren in einen Hain von immergrünen Gewächsen verwandelt, zwischen denen man auf purpurnen Laufteppichen die Treppenstufen emporstieg, und prächtige Kamelienbäume, deren dunkles Laub mit kalten, wachsartigen Blüten übersät war, füllten die Ecken mit erlesenen Bosketts.

Ein frischer, weißhaariger alter Herr, der in die zu ebener Erde eingerichtete Garderobe getreten war, ließ mit einem nachlässigen Ruck der Schultern seinen Überzieher in die Hand eines dienstfertigen Lakaien gleiten, und Doll, der zufällig im Begriffe stand, die Garderobe zu verlassen, machte ehrfurchtsvoll Platz, um dem andern, der ihm kein Unbekannter war, den Vortritt zu lassen. Da redete der alte Herr, auf dessen linker Frackseite ein Kettchen mit einer Menge winziger Orden in Gold und Email schimmerte, ihn leutselig an: »Na, junger Mann, tanzen Sie gern?«

»Für mein Leben gern!« sagte Doll fröhlich.

Sie stiegen nebeneinander die Treppe hinan, und Doll konnte bemerken, daß unter der weißen Krawatte des alten Herrn erst die allerhöchsten Trümpfe hervorlugten, die Großkreuze und Komture, die an buntseidenen Halsbändern hingen.

»Bravo, das läßt sich hören!« sagte die besternte Exzellenz, mit einer mechanischen Bewegung der Hand den in Brillanten glitzernden Medjidie über der gesteiften Hemdbrust zurechtrückend. »Da sind Sie also noch keiner von den – Gebrochenen?«

»Es wäre etwas verfrüht,« lachte Doll.

»Lassen Sie sich mal ansehen!«

Er wendete sich halb nach dem jungen Manne herum, der ehrerbietig etwas zurückgeblieben war, und nötigte ihn dadurch an seiner Seite zu gehen.

»Freilich, freilich, Sie sind jünger, als ich dachte, wenngleich schon hoch aufgewachsen. Übrigens gibt es auch in Ihrem Alter bereits genug Gelangweilte, heutzutage. Als wir Jubelgreise jung waren, da ging es anders her, was haben wir damals getanzt! Der Lanner und der Strauß standen in Flor, es war eine fröhliche Zeit, trotz aller Drangsalierung durch die hohen Behörden. Handel und Gewerbe blühten, die Musik war heiter und sinnlich, der Bauernfeld schrieb für die Burg, und die Maler malten Bilder, die den Leuten und nicht bloß den Malern gefielen. Viel kluge und schöne Menschenkinder strömten in den Salons zusammen und vereinigten sich in harmloser Geselligkeit, bei der man noch kein protzenhaftes Großtun kannte. Ich wollt', ich könnt' diese Zeit noch einmal erleben und wie einst beim Dommayer oder in den alten Redoutensälen das Tanzbein schwingen. Aber diese jungen Herrn von heute stehen am liebsten in den Ecken herum und machen Gesichter, daß einem gähnerlich zumut wird, wenn man sie bloß ansieht. Ist das nicht ein Gesindel, wie? Ich trau' keinem was Rechtes zu, der nicht in seiner Jugend ein flotter Tänzer ist, und mag er dabei hopsen wie ein Böcklein.«

Er blieb stehen und faßte Doll vertraulich an der Klappe seines Fracks.

»Wenn wir die Treppe wieder heruntersteigen, soll es hier recht glänzen und flimmern, wünsch' ich Ihnen, und von der Herzerwählten soll auch einer darunter sein. Es ist kein übles Alter, wo einem der Sinn nur erst nach Kottilonorden steht. Bei mir ist es vorbei, ich muß mich mit solchem Zeug begnügen.«

Mit einer lässigen Handbewegung strich er über seine Auszeichnungen hin, daß sie mit leisem metallischen Klang aneinanderklirrten. Dann nickte er seinem Begleiter noch einmal leutselig zu und schickte sich an, den letzten Treppenabsatz hinaufzusteigen.

Die Flügeltür zu den Festgemächern flog auf, lauter ertönte der weiche, schwermütige Jubel der Geigen. Atemlos kam der beflissene Hausherr dem hohen Gaste entgegengeeilt. Die schwarzen Bartkoteletten, die auf dem gesteiften Glanzhemd lagen, zitterten unter den kurzen Stößen seiner etwas asthmatischen Brust.

»Welche Ehre, Exzellenz, welche Ehre!« ...

»Nur auf eine kurze Stunde, Herr von Pinkenfeld. Ein alter Knabe, dessen Uhr bald abgelaufen ist, sollte sich kein anderes Vergnügen mehr gönnen wie die Arbeit. Aber ich gestehe, ich sehe noch immer gern blühende Mädchengesichter und Augen, die von Frohsinn leuchten. Übrigens vergesse ich das Wichtigste – meinen herzlichen Glückwunsch! Haben sich denn die jungen Leute auch rechtschaffen gern?«

»Das wollen wir hoffen, Exzellenz, das wollen wir hoffen!«

Mit aufdringlicher Unterwürfigkeit schassierte der Hausherr um den Gast hinten herum, die linke Seite zu gewinnen, und streifte dabei knapp an Doll vorüber, der bescheiden zuwartend stehen geblieben war und auf einen günstigen Augenblick paßte, seine Verbeugung anzubringen; aber Herr von Pinkenfeld war von seiner Aufgabe, die Exzellenz würdig zu empfangen, so erfüllt, daß er ihm keine Beachtung schenkte. Der alte Herr bemerkte es und vertrat mit einer lebhaften Wendung dem eifrigen Gastgeber den Weg.

»Hier bringe ich Ihnen noch eine wichtigere Persönlichkeit, Herr von Pinkenfeld, als ich es bin. Einen Tänzer, was sagen Sie? Einen flotten Tänzer!«

Nicht ohne Schüchternheit näherte sich Doll.

»Ihr Sohn Leo, mit dem ich auf der Hochschule bekannt geworden bin, war so gütig« ...

»Der junge Herr Mairold, wenn ich nicht irre?« unterbrach ihn Pinkenfeld, während er ihm vor Liebenswürdigkeit fast zerfließend die Hand schüttelte.

Der besternte alte Herr hatte aufmerksam hingehört.

»Sind Sie ein Sohn des verstorbenen Fabriksbesitzers Mairold? Nun, dann freut es mich doppelt, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Mit Ihrem trefflichen Vater hatte ich vor Jahren auf dem Handelsamt zu tun. Wir verstanden einander gut. Ich bin der alte Marr.«

Doll verneigte sich erfreut und befangen.

»Ich habe das Glück, zu Ihren begeisterten Hörern zu zählen, Exzellenz!«

Auf Ludgers Rat hatte er seine Studien nicht auf das Ingenieurwesen beschränkt, sondern auch die volkswirtschaftlichen Kollegien des alten Marr an der Universität belegt, die großen Ruf genossen. Denn der gelehrte alte Herr, obgleich er seit langer Zeit zu den leitenden Staatswürdenträgern zählte, hatte als Freund der Wissenschaft und der Jugend es nicht über sich gebracht, der akademischen Tätigkeit, aus der er hervorgegangen war, gänzlich zu entsagen.

»Somit wären wir also alte Bekannte?« sagte er jetzt sichtlich erfreut. »Sie sind Jurist?«

»Nein, Techniker.«

»Um so besser! Und glauben Sie in meinen Vorlesungen etwas gewonnen zu haben?«

»Wenn ich einmal ins tätige Leben trete, hoff' ich es zu beweisen.«

Der alte Marr reichte ihm die Hand, während er seinen Blick mit offenkundigem Wohlgefallen auf dem Jüngling ruhen ließ.

»Ich sage Ihnen nicht adieu, ich sage: Auf Wiedersehen!«

Die Dame des Hauses war herangerauscht und begrüßte die Exzellenz mit süßer Überschwenglichkeit.

»Liebe Sidonie,« sagte Pinkenfeld, »erlaube, daß ich dir einen jungen Herrn Mairold, den Freund unseres Leo vorstelle.«

Sie neigte für einen Augenblick den mit Silberflitter besetzten Reiher ihres Kopfputzes, und Doll fühlte, daß er nicht nur begrüßt, sondern auch gleichzeitig wieder entlassen war.

»Darf ich Ew. Exzellenz vielleicht eine Tasse Tee anbieten?«

Und holdselig lächelnd flutete sie am Arm des alten Herrn in den Saal, eine endlose Schleppe hinter sich nachziehend.

Die Musik machte eben eine Pause, zahlreiche Paare strömten aus den anstoßenden Räumen, und Doll schob sich durch das Gewühl der schwarzen Fräcke und entblößten Schultern, um Leo Pinkenfeld aufzusuchen und sich von diesem den jugendlichen Haustöchtern vorstellen zu lassen. Auf seiner Wanderung durch die Gemächer geriet er unversehens in ein mit exotischen Blattpflanzen geschmücktes Zimmer, wo es ganz still und kühl war, hörte sich beim Namen rufen und fand Herrnfeld unter den Wedeln einer riesigen Phönix einsam bei einer Flasche Wein sitzen.

»Ludger!« rief er erstaunt. »Was treibst du hier?«

»Ich feiere Orgien,« sagte der Freund aufgeräumt. »Weißt du, wie es an den Ufern des Zambesi aussieht? Wenn nicht, so brauchst du nur diese Palmenwälder mit Papageien und die Blumen dieses geschmacklosen Teppichs mit Klapperschlangen zu bevölkern, die darauf lauern, nach deiner Ferse zu schnappen. Komm, sei kein Frosch, setz' dich zu mir und laß uns eine Flasche Kokosnußmilch miteinander ausstechen!«

»Ich bin soeben eingetreten,« sagte Doll, »und habe die primitivsten Pflichten des Gastes noch nicht erfüllt.«

»Ich befinde mich in der gleichen Lage,« sagte Herrnfeld; »aber ich komme immer mehr dahinter, daß es für den Menschen wichtiger ist, an seine Rechte als an seine Pflichten zu denken. An die Pflichten denken ohnedies die andern, an seine Rechte muß man selbst denken, sonst geraten sie überhaupt in Vergessenheit.«

»Eine nette Moral, die du predigst. An den Ufern des Zambesi mag sie Geltung besitzen.«

»Ich sehe, du bist gekommen, der Sittsamkeit zu frönen. Also geh' und laß dich in deinem edlen Beginnen nicht stören. Ich mag nicht in die Gefahr geraten, ein Verführer der Jugend zu heißen.«

»Komm mit und begleite mich!« drängte Doll. »Es geht nicht an, daß du dich von der Gesellschaft absonderst und dir auf eigene Faust eine gemütliche Stunde bereitest!«

»Ich sehe nicht ein, warum ich es ebenso ungemütlich haben soll wie die andern?« erwiderte Herrnfeld.

Er leerte sein Glas und schenkte es bedächtig wieder voll.

»Auch kann ich wahrhaft nichts dafür,« sagte er, »daß man mich hier allein läßt. Dieser Mosel ist ein hochanständiger Tropfen, und ich würde ihn ebensogern in froher Gesellschaft trinken, wenn es auf mich ankäme. Aber die übrige Menschheit setzt einen Ehrgeiz darein, sich drüben mit den Ellenbogen in die Lenden puffen zu lassen, ein Vergnügen, das nicht jedermanns Sache ist. Übrigens kann ich unserer schönen Hausfrau das ehrenvolle Zeugnis nicht versagen, daß sie sich redlich Mühe gegeben hat, uns das Leben halbwegs erträglich zu machen. Ich möchte darauf schwören, daß sie für diese Nacht sogar ihr eigenes Bett auf den Dachboden hat schaffen lassen, um ihre zahlreichen Gäste vor dem Tod des Erdrücktwerdens zu bewahren, und wenn ich aus den Wasserspritzern schließen darf, die hier auf der Tapete ihre bleichen Spuren zurückgelassen haben, so steht an derselben Stelle, wo ich jetzt sitze, für gewöhnlich ihr Waschtisch. Sie wird sich uns zuliebe morgen früh nicht waschen. Das ist edel von ihr, aber warum hat sie sich so viele Menschen auf einmal eingeladen? Vielleicht, damit die Leute sich zwei Tage, lang erzählen sollen, wie großartig es bei Pinkenfelds hergegangen sei? Mir kann es recht sein, ich habe nichts dagegen, aber ich sehe auch nicht ein, warum ich dafür büßen und mich all den ungezählten nackten und befrackten Ellenbogen aussetzen soll, die nur auf eine Gelegenheit lauern, mich in die Lenden zu puffen. Wie komme ich dazu, mich für den Ruhm des Hauses Pinkenfeld aufzuopfern?«

»Es ist Zeit, daß wir uns um die jungen Damen kümmern,« sagte Doll ungeduldig. »Bist du wenigstens auf eine Quadrille engagiert?«

»Quadrille? Was ist das?« fragte Herrnfeld. »Ach – so nennt sich wohl dieses wunderliche Gesellschaftsspiel, wobei man immer bloß ratlos hin und her geht und sich vergebens bemüht, seinen Platz wiederzufinden, den man unvorsichtigerweise verlassen hat. Warum gebrauchst du Fremdwörter? Wenn mir recht ist, kann man für Quadrille auf gut deutsch auch ›Vater leih' mir die Scher'‹ sagen.«

»Mit dir ist heute wirklich nicht zu reden,« sagte Doll lachend. »Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Tugendbold! Amüsiere dich, wenn du kannst! Die Jugend hat ein Recht dazu, auf dem Vulkane zu tanzen. Mein Herz ist zu bange dafür. Ich will inzwischen die meteorologischen Berichte studieren und mir ausrechnen, wann die Eruption erfolgen muß.«

Er zog ein Abendblatt aus der Brusttasche und begann zu lesen. Der Grundton von Ernst, der plötzlich hinter seinen Worten vernehmbar geworden war, befremdete Doll. Neugierig trat er näher und sah ihm über die Schulter.

»Hat irgendwo ein Erdbeben stattgefunden?«

»Ganz in unserer Nähe sogar!«

Er bezeichnete ihm mit dem Finger eine Stelle in der Zeitung. Doll las die Spitzmarke: »Fallimente«.

»Eine wirtschaftliche Erschütterung?« fragte er erschrocken.

»Eine ganze Spalte Fallimente!«

»Was hat das zu bedeuten?«

»Den Anfang vom Ende.«

»Schwarzseher!«

Der Sohn des Hauses trat ins Zimmer, die jungen Leute begrüßten einander. Leo Pinkenfeld war ein auffallend blasser Jüngling mit schief gescheiteltem dunklen Haar, der den Kopf wie leidend, wie eine müde Blume, etwas zur Seite geneigt hielt, was ihm den Ausdruck einer fast mädchenhaften Sanftmut gab. Die Musik hatte wieder eingesetzt, Sehnsucht weckend lockten die Töne aus der Ferne, ein Jubeln und Leiden, halb Ländler, halb Csardas, die reinen Lüfte der Berge, die sinnlichen Gluten des magyarischen Flachlands zitterten darin.

Arm in Arm schritt Leo mit Doll durch die Räume, das Zutrauen der Jugend, das keine Begründung braucht, schloß sie aneinander. Ihre Herzen wurden weit unter diesen Klängen, die nur an der Donau gedeihen konnten, wo die letzten Höhenzüge der Alpen in die weite, schwärmerisch-schwermütige Ebene hinausschauen.

Im Tanzsaal wirbelten die Paare durcheinander. Doll tanzte mit Siddi.

»Sind Sie die Braut?« fragte er.

»Nein, das ist Natti.«

Es war ein sehr liebes, einfaches Mädchen, sehr schwarz, nicht eben hübsch, aber anmutig, wenn auch ein bißchen zu voll.

»Ich beneide Natti nicht,« sagte sie. »Ich bitte Sie! In so einem alten Schloß auf dem Lande leben! Wenn dann der Mörtel in den dicken Mauern rieselt und die Dielen knacksen! Ich hielt' es vor Angst nicht aus.«

Bald darauf bat er Natti um eine Tour, glaubte es wenigstens zu tun. Als er sie aber zu ihrer Verlobung beglückwünschen wollte, sagte sie: »Ich bin nämlich abermals die Siddi!«

»Da werden Sie mich jetzt für zudringlich halten?« meinte er bestürzt.

»Nein, deswegen dürfen Sie mich nicht gleich wieder absetzen!«

»Ein Tänzer, der so rasch zweimal hintereinander kommt, hätte eigentlich einen Korb verdient.«

»Aber ich tanze ja recht gern mit Ihnen! Ich tanze überhaupt so gern« ...

Doll konnte sich nicht genug darüber wundern, wie natürlich dieses Mädchen war, ganz wie ein rechtes Wiener Kind. Zu einer solchen Tochter schienen ihm diese Eltern gar nicht zu passen.

Später gelang es ihm, der wirklichen Natti habhaft zu werden. Sie war ebenso lieb und natürlich wie Siddi, ebensowenig eine Schönheit und ebenso anmutig. Nur war ihr Haar vielleicht noch schwärzer, geradezu blauschwarz, eine wahrhaft prangende Mähne!

»Sie werden auf dem Lande leben?« fragte er.

»Wenigstens einen Teil des Jahres. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, wie ich es ohne Siddi aushalten soll!«

»Ist es eine entlegene Gegend?«

»Die Besitzung meines Bräutigams liegt bei St. Jodok in der Lüsen. Da, wo Papa die großen Marmorwerke besitzt.«

Doll hatte schon davon gehört. Er wußte, daß seine Mutter von Xaver Wegrad vor Jahren ein paar unbedeutende Anteile an den Marmorwerken Pentelikon erworben hatte.

»Heißt es dort nicht auf der Wegwacht?« fragte er.

»Ganz recht, die Steinbrüche befinden sich auf der Wegwacht. Mein Bräutigam besaß da oben die Bergrechte, oder wie man es nennt. Aber das Schloß, in dem wir wohnen werden, liegt unten im Tal. Schön soll die Gegend ja sein, bloß vor der Einsamkeit bangt mir.«

»Ihr Mann wird Ihnen Gesellschaft leisten.«

»Die Herren gehen ihren Geschäften nach, oder auf die Jagd. Ich fürchte, ich werde viel allein sein müssen. Und den ganzen Tag kann man doch nicht Klavier spielen?«

»Sollte sich wirklich keine andere Beschäftigung finden lassen?«

»Vielleicht französische Aufgaben machen?« sagte sie. »Wozu würde man dann heiraten?«

Er lachte, aber es mißfiel ihm, daß eine Braut so sprechen konnte. Scherzte sie, oder bewegte sie sich wirklich noch in einem so völlig kindischen Gesichtskreise?

Als sie dann Arm in Arm durch den Saal gingen, bemerkte er, daß sie doch reifer war, als sie schien.

»Ich heirate nicht, ich werde verheiratet,« sagte sie traurig. »Vielleicht hätt' ich es mir nicht gefallen lassen sollen.«

»Nein! Das hätten Sie sich nicht gefallen lassen sollen!« sagte er unumwunden.

»Wirklich? Meinen Sie?« rief sie sichtlich aufgewühlt und sah ihn strahlend dabei an.

»Ja, das meine ich wirklich!« sagte er.

Er spürte, daß ihr Arm in dem seinen bebte. Wie war es möglich, Sidonie und Natalie miteinander zu verwechseln, wenn man sie einmal kannte? Das waren geradezu weltverschiedene Naturen! In dieser kleinen Natti kochte es ja förmlich von heißem Geblüt!

»Vielleicht läßt es sich noch rückgängig machen?« sagte sie, während gleichsam alle Fibern an ihr in Aufruhr gerieten.

»Das kann ich natürlich nicht beurteilen,« sagte er kühl.

Da wurde sie wieder traurig und sah zur Seite.

Die Wände entlang saßen die Mütter. Sie ließen ihre Töchter nicht aus dem Auge und lebten noch einmal die Freuden und Sorgen der Jugend. Mit verstehendem Herzen verfolgten sie die kleinen Triumphe und leisen Enttäuschungen. Es spannen sich Bekanntschaften zwischen ihnen an, unter dem deckenden Mantel der Musik erschloß sich oft unerwartet ein weitgehendes Vertrauen. Eine Ballnacht dehnt sich lange für die Mütter.

»Wer ist der hübsche junge Mensch, liebe Sidonie, der mit der jüngsten Leodolter tanzt?«

»Ein junger Mairold, für den Leo ein Faible hat.«

Frau von Pinkenfeld schmückte ihre Salons gerne mit jungen Leuten aus der Aristokratie, der Künstlerwelt oder der Hochfinanz. Mit Fabrikantenskreisen Verbindungen zu unterhalten, ließ sie sich nur herbei, soweit sie dazu gezwungen war.

»Man braucht auch Tanzmaschinen,« sagte sie gleichsam zu ihrer Entschuldigung.

»Leo soll mit Nattis Verlobung nicht ganz einverstanden sein, hör' ich?«

»Leo ist prinzipiell stets anderer Ansicht ... Findest du nicht, daß die fesche Wegrad es ein wenig à outrance treibt?«

Die Bemerkung galt einer nicht mehr ganz jungen stattlichen Erscheinung, die soeben am Arme ihres Gatten eingetreten war. Sie trug ihr eidottergelbes Haar offen mit einem Zweig a l'Ophelia und ein hochrotes Kleid mit Goldtaille, die bis zur äußersten Grenze des Möglichen ausgeschnitten und nur durch goldene Achselkettchen zusammengehalten war, die an der Stelle, wo sonst die Ärmel sich befinden, über die sehnigen Schultern liefen.

»Ein wahrer Horreur!«

»Sie ist eine Gefahr für jeden Ball,« sagte Frau von Pinkenfeld; »weil sie immer einen ganzen Kometenschweif von Herrn hinter sich herzieht und geradezu einen Ehrgeiz darein setzt, den jungen Mädchen die Tänzer zu kapern.«

Sie winkte ihrem Schwager Jacques, der sich allfälliger Befehle gewärtig in ihrer Nahe hielt, und flüsterte mit ihm.

Jacques Pinkas war eine Art Faktotum des Hauses. Der Geschäfts- und Unternehmungsgeist des jüngeren Bruders, den die Eiserne Krone in einen Herrn »von Pinkenfeld« umgewandelt hatte, und vielleicht mehr noch dessen sicherer Instinkt, fehlten ihm. Man erzählte sich, er hätte nicht ganz glücklich operiert und sei dem Bruder zu Dank verpflichtet. Jedenfalls war er aus dem Dunkel, das sein Vorleben deckte, erst emporgetaucht, nachdem Herr von Pinkenfeld es zu Glanz und Ansehen gebracht hatte. Seither hatte man sich daran gewöhnt, den ältlichen Junggesellen, der sich nach Möglichkeit nützlich zu machen suchte, als Familienanhängsel zu betrachten. Obgleich Stotterer und karg von Worten, erfreute er sich wegen seines gutmütigen und zartfühlenden Wesens bei Angestellten und Gästen doch einer weit größeren Beliebtheit als der Chef des Hauses selbst.

Offenbar mit einer diplomatischen Mission betraut, lavierte er jetzt vorsichtig an die neue Erscheinung heran. Man sah ihn dem Ehepaar Wegrad in die Flanke fallen, sah, wie er unterhandelte und schließlich der Goldgepanzerten den Arm reichte. Er führte sie der Hausfrau zu, wo die üblichen Redensarten getauscht wurden; als aber Frau Wegrad sachte ihren Arm aus seiner Umklammerung lösen wollte, gab er plötzlich Volldampf und steuerte wie ein mutiger kleiner Propeller, der eine schwerbeladene Brigg in den Hafen schleppt, mit seiner schönen Last, deren Bergung ihm aufgetragen war, gegen das Büfettzimmer davon.

Der gewaltige Xaver Wegrad sieht heute blaß und angegriffen aus. Er schreitet ein wenig gebeugt, ist es nicht, als ob er plötzlich alt geworden wäre, als ob er sich nur mühsam aufrecht hielte? Wenn er spricht, so schlagen ihm die Zähne aufeinander, wie wenn ihn ein Fieberfrost schüttelte. Er zieht sich bald in ein Nebengemach zurück und nimmt mit einigen Genossen vom Klub der Vorurteilslosen am Kartentische Platz. Aber es wird unaufmerksam gespielt, keiner ist recht bei der Sache. Der elegante Felix Schönhof läßt sich zweimal hintereinander den Pagat abstechen, der herzige Fredl Beywald spielt immer wieder die falsche Farbe aus, und Wendelin Hirnschal, der Jüngere, verlegt in der Zerstreutheit gar den Sküß. Sie geraten in Streit miteinander und machen sich gegenseitig Vorwürfe. Ein jeder ist froh, daß er einen Grund gefunden hat, sich zu erhitzen, und zankt um so hartnäckiger, ereifert sich um so wütender, je mehr er hofft, die andern dadurch zu täuschen und ihnen den Glauben einzuflößen, als hätt' er wirklich keine Sorgen wie das Spiel, als dächt' er an keine empfindlicheren Verluste als an eine verlorene Tarockpartie. Und ein jeder, während er sein angstgemartertes Herz hinter erheucheltem Interesse für die Karten zu verstecken sucht, ringt dabei insgeheim mit Gedanken, die sich um Leben oder Sterben drehn.

Für wen führt ihr eigentlich diese Posse auf? Wo ist euer Publikum? Seid ihr denn nicht alle vom Handwerk, Hauptdarsteller oder wenigstens Komparserie? Durchschaut ihr nicht jeder die Komödiantenkünste des andern? O legt die falschen Kostüme ab, die Panzer aus Pappe, die unechten Steine, die niemanden mehr täuschen! Beratet euch lieber über die Rollen, die ihr morgen spielen sollt! Oder wird es sich dann um Rollen handeln, die jeder für sich allein studieren und in der Einsamkeit zu Ende spielen muß?

Wovor bangt euch insgeheim, ihr Vorurteilslosen? Fürchtet ihr, daß die Gottheit auf dem Altar, vor dem ihr kniet, sich plötzlich enthüllen könnte? Und daß dann hinter den fallenden Schleiern statt der Göttin der Vernunft ein höhnischer Schalksnarr sichtbar würde, der Genius der Zeit mit dem grinsenden Totenschädel unter der klingelnden Schellenkappe?

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