Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einmal, solange die Witterung es noch zuließ, kamen die drei lieben Menschen aus dem Klosterschlössel im Wagen auf die Paßhöhe, Doll zu besuchen, und für diesen einen Tag wurde es noch einmal Frühling auf der Wegwacht, und die zahllosen Herbstzeitlosen auf den Wiesen sahen aus, als wären es Frühlingskrokusblüten ...

Als der erste Schnee oben fiel, wanderte Doll mit seinen jungen Leuten in die Lüsen hinunter, und sie waren bepackt mit Reißbrettern, Requisiten und Instrumenten, wie Senner, die im Herbst ihre Alpe verlassen und wehmütig zu Tal ziehen. Da lag das Klosterschlössel eingewintert und wie vergessen und sah fast traurig drein mit seinen geschlossenen Fensterläden.

Vielleicht war es gut so. In der Lüsen gab es wieder neue Vermessungen, und ob fußhoch Schnee fiel oder nicht, sie duldeten keinen Aufschub, denn im ersten Frühling sollte mit den Erdaushebungen für die Gebäude begonnen werden. Auch Geleise wurden trassiert.

»Man muß die einzelnen Ubikationen durch kleine Förderbahnen miteinander verbinden,« sagte Herr Zwicknagel; »denn Marmorblöcke sind keine Baumwollballen.«

Und niemand widersprach ihm.

Vielleicht war es gut, daß das Klosterschlössel seine Fensterläden zugemacht hatte; wenn die Schneestürme das Arbeiten im Freien völlig unmöglich machten, so hatte Doll dafür um so mehr in seiner Stube, am Reißbrett zu tun. Er hätte nur wenig Zeit gefunden, Besuch im Klosterschlössel zu machen. Die langen Winterabende allenfalls – aber da gab es wieder lange Briefe zu schreiben, Abend für Abend ...

Allerdings! Hätte das Klosterschlössel seine Fensterläden nicht zugemacht gehabt, so wären vielleicht weniger Briefe zu schreiben gewesen. Das ist aber bloß eine Vermutung.

*

Frau Therese hatte sich längst von den Geschäften zurückgezogen, aber der Sorgen war sie darum nicht ledig. Eine Mutter, deren Kinder eins nach dem andern flügge werden, ins Leben hinaustreten, in fremde Verhältnisse kommen, die Härte der Menschen kennen lernen und die Liebe mit ihren Nöten – die sollte ohne Sorgen sein?

»Du mein liebes Kind, ich segne dich! Du hast dir deinen Weg gewählt. Er führt dich von meiner Seite fort, du verlässest mich, und es steht geschrieben, daß es so sein soll. Ich werde nicht mehr die schirmenden Arme um dich breiten können. Ich werde nicht mehr an deinem Lager wachen, wenn du krank bist. Meine Liebe wird nur aus der Ferne dich begleiten, eine andere Liebe wird dir näher sein. Ich werde dir nicht mehr raten können, wenn du im Zweifel bist, ich werde dir nicht mehr helfen können, wenn du in Not bist, ein anderer Rat wird dir maßgebender sein als der meine, die Hilfe, deren du bedarfst, wird von anderer Seite kommen müssen als von mir, soll es die rechte Hilfe sein. Du mein liebes Kind, ich segne dich! Was kann ich dir mitgeben außer meine Hoffnungen und Wünsche? Alles übrige, was dir not tut, mußt du mit der Muttermilch eingesogen, mußt du in dich aufgenommen haben, während du die Kinderschuhe austratst, alles übrige muß ich dich längst gelehrt haben, während ich schwieg oder von hundert anderen Dingen sprach – jetzt wär' es zu spät dafür, ich könnte, wenn etwas versäumt wäre, es nicht mehr nachholen, dir das Fehlende nicht mehr ersetzen, jetzt, da du von mir scheidest.«

Ihr Mütter, die ihr es erfahren habt, ihr wißt es, daß eine Mutter nicht anders spricht und denkt, eine Mutter, deren Kind flügge wird und ins Leben hinaustritt, um in fremde Verhältnisse zu kommen, um die Härte der Menschen kennen zu lernen und die Liebe mit ihren Nöten ...

Von Niki Mairold sagten die Leute: »Sie ist ein Hausmütterchen. Sie geht nicht in Gesellschaft, sie geht nicht auf Bälle, sie wird sitzen bleiben. Schade um sie, es wäre eine tüchtige Hausfrau aus ihr geworden!«

»Sie muß eine unglückliche Liebe haben,« sagten andere. »Ihr Bruder Moini, der nur um weniges älter ist als sie, hat längst geheiratet, während sie gar nicht daran zu denken scheint. Wie soll man sich das anders erklären? Daß ein Mädchen aus solchem Hause keine Anträge gehabt hätte, ist doch kaum anzunehmen!«

Niki indessen sah keineswegs danach aus, als ob eine unglückliche Liebe an ihr zehrte. Entweder besaß sie kein liebebedürftiges Herz, oder sie war ihrer Sache sicher.

Herrnfeld, der sich als vertrauter Freund der Familie manches erlauben durfte, hatte sie einmal ins Gebet genommen.

»Was ist eigentlich mit dir los, törichte Jungfrau? Dein alter Onkel Ludger hat dich von Herzen gern, das weißt du – aber daß er sich schließlich noch zum Ehestand bekehrt und dich nimmt, darauf wirst du doch wohl nicht warten wollen?«

»Wer kann es wissen?« sagte sie lachend. »Bist du nun schon unter die Retter des Volkes gegangen, so streckst du vielleicht auch noch einmal einem alternden Bürger-Mädchen die hilfreiche Hand entgegen, damit es nicht den Stephansturm zu reiben braucht.«Wiener Ausdruck für Sitzenbleiben.

»Weißt du nicht, daß ich Wilder bin?« fragte er.

»Was ist das, ein Wilder?«

»Ein Wilder ist ein Abgeordneter, der keiner Partei angehört. Er hat nicht die Meinung anderer, er hat seine eigene Meinung, er steht allein auf einsamer Höhe. Er braucht sich von niemand etwas dreinreden zu lassen, er ist gewissermaßen unverheiratet. Du siehst, daß es zu meinen Bedürfnissen und Gewohnheiten gehört, alleinzustehen und unverheiratet zu sein.«

Die neue politische Bewegung hatte ihn in ihren Strudel gezogen. Wie war das zugegangen? Was hatte sich ereignet? Löse uns dieses Rätsel, Ludger Herrnfeld! Was kann dich, den spöttischen Zuschauer dazu bestimmt haben, deinen Sperrsitz zu verlassen und dich plötzlich auf die Bühne zu stürzen? Ist dir über der einsamen Wüste, in der du dein sehnsüchtiges Gemüt wie ein krankes Kind pflegst, endlich die Fata Morgana eines begeisternden Zieles erschienen?

Vielleicht, aber freilich bloß in unendlicher Ferne, wie ein blasser Zukunftstraum. Vorderhand sind es nur erst geringfügige Anzeichen, die ihn veranlassen, sich in Bewegung zu setzen. Die Regierung, die mit dem Namen des Grafen Taaffe verknüpft ist, interessiert ihn. Sie gibt vor, über den Parteien zu stehen, während sie nach seiner Meinung nur anderen Parteien als den bis dahin herrschenden zur Gewaltherrschaft zu verhelfen sucht. Der unerhörte Aufwand von rhetorischer Kraft und der verschwindend kleine Einsatz von Charakter und politischer Einsicht, womit er die alte Verfassungspartei den Kampf mit dem gefährlichen Gegner aufnehmen sieht, belustigen ihn. Die Tartüfferie der Tschechen, die sich herbeigelassen haben, endlich im Parlamente zu erscheinen, um die Deutschen »unbeschadet ihrer Rechtsüberzeugung« nach Kräften zu majorisieren, und die Unverfrorenheit der Polen, die ihre schwere Menge halbasiatischer Stimmen in die Wagschale werfen, um Millionen für Galizien und Steuergesetze für die anderen Länder des Staates durchzudrücken, ärgert ihn. Das alles aber hätte ihn sicher noch nicht bestimmt, sich die Sache aus der Nähe zu besehen. Indessen schien es ihm, als sollten allem wüsten Lärm, allem unseligen Partei- und Nationalitätenhader zum Trotz doch ganz neue und überraschende Dinge bei diesem scheinbar kopflosen Weiterwursteln zum Vorschein kommen. Und während man im Grunde den Eindruck gewinnen mußte, unter dem Zeichen des Rückschritts zu stehen, fesselte ihn die Beobachtung, daß eine allmähliche Gesundung der Finanzen, eine moderne Umgestaltung und heilsame Verjüngung des Vaterlandes besonders auf sozialpolitischem Gebiete sich vorbereitete und mitten im großen Durcheinander deutlich vollzog. Das setzte ihn in Erstaunen. Nie hatte er größeres Zutrauen in die Lebenskraft des Staates gesetzt als unter dem Eindruck einer solchen Genesung, während Fieberschauer die Völker schüttelten. Aus diesem Hexenkessel ging vielleicht noch einmal das wirkliche und endgültige Österreich hervor, die Idee des Vaterlandes, wie sie ihm vorschwebte. Und es lockte ihn, eigenhändig den Schaumlöffel zu ergreifen, um gelegentlich ein wenig abzuschöpfen, in die brodelnde Zukunftssuppe zu gucken und nachzusehen, was dabei herauskäme. Darum hatte er, als der Bezirk, in dem er wohnte, ihm ein Mandat anbot, seine Bereitwilligkeit erklärt und sich den Wählern zur Verfügung gestellt.

Riki Mairold belustigte es, daß man ihn einen Wilden nannte. Und es gefiel ihr, daß er auch im politischen Leben ein Eigenbrödler blieb.

»Der Name paßt zu dir, als ob sie ihn eigens für dich erfunden hätten!« sagte sie lachend. »Im Grunde bist du immer ein Wilder gewesen, lange bevor du im griechischen Tempel am Franzensring noch etwas zu suchen hattest.«

»Meinetwegen! Aber du weichst aus, liebe Niki. Wir sprechen von einer törichten Jungfrau, nicht von einem hilflosen Volkstribunen, der sich dazu hergeben muß, den armen Leuten Petroleum und Zucker zu verteuern.«

»Also, sprechen wir!« sagte sie spitzbübisch.

»Gut. Um es mit einem Wort zu sagen: ich möchte dich verheiraten.«

»Das ist wirklich sehr hübsch von dir, aber ich habe leider keine Zeit dazu. Sie brauchen mich hier. Ich bin unentbehrlich. Du glaubst es nicht? Bitte! Erst kürzlich war Frau Bohatschek vierzehn Tage lang krank. Hast du vielleicht für den Großvater gekocht und ihm aufgeräumt? Also! Wer hätt' es tun sollen, wenn nicht ich es tat?«

»Das sind Ausnahmsfälle,« sagte er. »Da nimmt man sich eine Aushilfsköchin, und die Sache ist erledigt. Für gewöhnlich ist eure Wirtschaft jetzt schon so klein, daß man nicht ein häusliches Genie, wie du es bist, dazu benötigt, um sie im Gange zu halten. Es wäre genau so, als ob man einen Bismarck und einen Moltke berufen müßte, das Fürstentum Liechtenstein zu regieren. Wer ist denn noch da, bitte? Der Christl führt in Prag seine Hörer an der Nase herum, der Moini hilft in Nedmeditz der Mara Nehuda, seine Kinder zu tschechischen Patrioten erziehen, der Doll klopft Steine auf der Wegwacht, der Wolfi guckt den Lyonern in die Karten, und der Franzl übt in Mährisch-Weißkirchen Rechtsum und Linksum. Bleiben außer der Mutter und dir noch Vefi und Käthi.«

»Und Yellow mit seiner Gattin!« sagte sie.

»Wer ist das?«

»Der neue Kanarienvogel.«

So wußte sie Gesprächen ähnlicher Art stets eine scherzhafte Wendung zu geben. Bis eines Tages abermals der Lois Birenz wie aus der Versenkung auftauchte und Frau Theresen um eine Unterredung ersuchte.

Er brachte diesmal selbst den Nußknacker mit.

Die Riki hatte er lieb gewonnen, schon als Bub, während er noch Hausgenosse der Familie Mairold gewesen war, und sich in den Kopf gesetzt, sie zu erringen. Aber kein Wort wollte er davon sagen, niemandem und am allerwenigsten der Riki selbst. Sie sollte nichts davon ahnen, kein Zeichen sollte es ihr verraten. Darum hatte er davonlaufen müssen. Er wollte zeigen, daß er imstande sei, sich allein durchzubeißen, und wiederkommen, sobald etwas aus ihm geworden wäre. Jetzt stand Doktor Alois Birenz auf seiner Karte. Er hatte bei Gericht gedient und war dann bei einem Rechtsanwalt als Gehilfe eingetreten. Er bezog schon ein ganz nettes Anfangsgehalt.

»Wenn die Riki mich mag,« sagte er, »so können wir zusammenheiraten. Klein anfangen müssen wir freilich, aber mit der Zeit komme ich schon hinauf, darauf können Sie sich verlassen!«

Das war der echte Lois Birenz, der fest in seinen Stiefeln stand, geradezu und selbstsicher wie immer. Frau Theresen gefiel diese Art, denn sie wußte, daß der Lois allen Grund hatte, sich selbst Vertrauen entgegenzubringen.

»Wir werden halt die Riki fragen,« sagte sie nach kurzer Überlegung.

Riki kam herein und wurde blaß, als sie den gesunden, derben jungen Menschen, der wie ein Sturmbock aussah, vom Sessel aufstehn und eine ungelenke Verbeugung gegen sie machen sah.

»Der Lois hat dich gern und möchte dich heiraten,« sagte Frau Therese einfach und ohne Umschweife.

Es war, als ob der Ton, den Lois Birenz angeschlagen, und das Tempo gerade aufs Ziel los, das er einhielt, auch auf die andern abgefärbt hätte. Und weil heute schon alles so knapp und entschieden zuging, so zögerte Niki nicht lange, sondern sagte mit fester Stimme kurz und bündig: »Ich hab' ihn auch gern und möchte ihn auch heiraten.«

Frau Therese wunderte sich.

»Du scheinst gar nicht überrascht – ahntest du denn etwas davon?«

Jetzt wurde Riki rot und sah den trotzigen Brautwerber von der Seite an.

»Freilich ahnte ich was, deswegen ist er ja davongelaufen. Gesagt hat er nichts, aber gemerkt hab' ich es doch. Und daß er einmal wiederkommen würde, das hab' ich mir schon gedacht.«

»Das nenne ich Zutrauen!« sagte Frau Mairold lachend. »Darauf kannst du stolz sein, Lois.«

Lois Birenz aber schien nicht sehr geneigt, stolz darauf zu sein.

»Es haben noch alle Menschen Vertrauen zu mir gehabt,« sagte er beleidigt; »und dieses Vertrauen ist auch nie getäuscht worden. Bloß Sie waren mißtrauisch und haben mich für undankbar gehalten.«

»Jetzt verlangt er am Ende noch, daß ich mich bei ihm entschuldige!« rief Frau Therese belustigt.

»Das wird er nicht verlangen,« sagte Niki, den Lois verstohlen bei der Hand fassend. »Aber einsehn müßt du jetzt doch, Mutter, daß er recht gehandelt hat?«

Sie überlegte einen Augenblick, erhob sich und schloß ihn in ihre Arme.

»Gut, ich sehe es ein!«

In der Tat mußte sie sich gestehen, daß der junge Mensch nicht nur recht gehandelt, sondern sich geradezu prächtig benommen hatte. Konnte ein erwachsener und reifer Mann sich besser in der Gewalt haben? Und wäre der Takt, das Zartgefühl, das Lois Birenz schon in so jungen Jahren bewiesen, bloß an einem Proletarierkinde aller Ehren wert gewesen? Sie verstand jetzt seine Worte von damals, daß gerade die Dankbarkeit ihn genötigt hätte, dem Hause seiner Wohltäterin zu entfliehen. Die Nuß, die sie nicht hatte knacken können, war aufgesprungen und enthüllte einen schönen und reinen Kern.

In solchen Augenblicken wußte sie herzhaft zu sein. Alle Bedenken beiseite setzend, gab sie ihre Zustimmung zur Verlobung.

Als Herrnfeld davon erfuhr, freute er sich, kam aber doch zu Frau Mairold, um ein wenig Trübsal zu blasen.

»Ich wünschte Niki so von Herzen ein volles Glück. Aber ich kann gewisse Zweifel nicht unterdrücken. Ein tüchtiger Kerl ist er ja, der Lois Birenz – aber aus einer so ganz anderen Sphäre ... Und sein Einkommen ist noch so knapp« ...

»Mir scheint, Sie fangen zu altern an, Ludger?«

»Wieso?« fragte er halb gekränkt.

»Nicht von außen besehen, natürlich!« sagte sie lachend. »Aber das ist das schönste Vorrecht der Jugend, daß sie eins nicht kennt: Bedenken wälzen! Sie sieht bloß auf die Hauptsache, auf das Große, auf etwas, das mitreißt, und dem gibt sie sich hin und springt kühn über alle kleinen Einwände hinweg. Und schließlich ist das in diesem verwickelten Durcheinander von Leben auch das Richtige, sonst würde man sich überhaupt nicht mehr auskennen und zurechtfinden vor lauter Wenn und Aber. Darum halte ich es auch mit der Jugend und verlasse mich auf ihren guten Stern.«

»Sie sind eine beneidenswert einfache Natur!« sagte Herrnfeld, den Kopf schüttelnd. »Wie stellen Sie es nur an, immer so ruhig und zuversichtlich zu bleiben? Manchmal denke ich mir, Sie wüßten rein nicht, was Sorgen sind?«

»Ei, meinen Sie?« sagte sie ernst. »Es gibt ein Sprichwort: Kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen. Dabei braucht man nicht an ungeratene Kinder zu denken. Das Hinaustreten ins Leben, das Finden des richtigen Berufs, die Wahl des Lebensgefährten oder der Lebensgefährtin – das sind Dinge, die selten ohne Schwierigkeiten nach außen, ohne harte Kämpfe im Innern vor sich gehen. Glauben Sie, daß eine Mutter nicht mit einem jeden Kinde wieder aufs neue diese Nöten mitlebt? Aber es gibt zwei Arten von Sorge. Die Sorge, die liebt und hofft, ist fördersam und stärkend, gibt Mut und erleichtert das Erreichen des Ziels. Die Sorge der zweifelnden Gemüter hingegen reibt auf, macht ungeduldig und lähmt die Spannkraft des Willens. Sie fällt wie Mehltau in unsre Herzen, die durch nichts empfindlicher gequält werden, als durch Mangel an Zuversicht, und ich müßte mir vorwerfen, meine Kinder schlecht erzogen zu haben, sollte es mir nicht gelungen sein, ihnen als kostbarste Mitgift fürs Leben die goldene Regel in die innerste Seele einzuimpfen: Sorget euch nicht! Fürchtet euch nicht!«

Herrnfeld schlug sich vor die Stirn, sprang auf und stürmte erregt im Zimmer auf und nieder.

»Hab' ich die gleichen Gedanken nicht selbst gedacht,« rief er aufgebracht, »die gleichen Worte nicht oftmals ausgesprochen? Sind sie mir nicht vertraut wie meine eigenen Gedanken und Worte? Aber was wollen Sie? Ich vergesse immer wieder meine schönsten Erkenntnisse! Es fehlt mir der innere Fixpunkt, um den die Ideen und Gefühle sich kristallisieren könnten, daß ein ganzer Mensch, eine volle Persönlichkeit daraus würde. So schwimmt bloß alles wie in einer langen Suppe in mir herum! Das Schönste ist darunter, das Gescheiteste, das Feinste und das Reinste, aber was nützt es mich? Es bleibt Sache des Zufalls, ob es mir gelingt, das Richtige im richtigen Augenblick, wo es überhaupt zu brauchen wäre, gerade herauszufischen!«

Einen Ausbruch von so aufrichtiger Desperation hatte Frau Therese nie an ihm erlebt. Er dauerte sie. Sie sprach ihm Trost zu und stellte ihm vor, keiner sei vollkommen, und ein jeder müsse sich mit dem begnügen, was ihm geworden.

»Seien Sie bloß zufrieden!« sagte sie, ihm die Hand hinstreckend. »Ihr Verstand ist ein zu strenger Richter, das ist alles. Was an uns ist, entscheiden wir nicht selbst, das Urteil darüber steht anderen zu. Und mir, Ludger, sind Sie immer ein lieber und treuer Freund gewesen und bleiben es für alle Zukunft!«

Das tat wohl. Er beugte sich nieder und küßte ihre Hand. Er war ihr unsäglich dankbar, daß sie von dem stärkenden Einfluß, der von ihr ausging, auch für ihn etwas übrig hatte. Es gab jetzt oft Augenblicke der Entmutigung für ihn, wo alles zusammenzufallen schien. Dann tat Trost ihm not und eine milde Hand. Immer häufiger kam es vor, daß der einst so glänzende und scharfe Geist sich nichtig fühlte und gleichsam die Arme herumwarf, irgendeinen Halt zu fassen. Es war wie die Sehnsucht des Mannes, der seinen Schatten verkauft hat, wie heißes Verlangen nach einer Seele, wie das Bedürfnis des Menschen, den tausend zersplitterten und zusammenhangslosen Erscheinungen der Natur zu entrinnen, sich nicht an sie zu verlieren, sie unter einen einheitlichen Gesichtspunkt zu zwingen, es war der Widerwille eines überreizten Gaumens, dem nahrhaftes Kornbrot not tut ...

Die Hochzeit fand bereits nach wenigen Wochen statt, und das Haus in der Luftschützgasse blieb unerschüttert stehen und fiel nicht zusammen, als die emsige Riki Mairold daraus schied. Die Wirtschaft ging nicht drunter und drüber, sondern bewegte sich ruhig im gewohnten Geleise weiter, und wieder einmal zeigte es sich, daß niemand so leicht unentbehrlich ist. Es war ja allerdings der Haushalt in den letzten Jahren immer kleiner und bescheidener geworden, Herrnfeld hatte recht: ihn zu führen, bedurfte es nicht gerade einer Riki. Jetzt lebten überhaupt nur mehr Vefi und Käthi bei der Mutter.

So eilt das Leben hin, jedes Heute denkt schon ans Morgen, und eh' es sich's versieht, ist es zum Gestern geworden.

Von den Mairold-Kindern ist selbst Franzi, der Jüngste, längst kein Kind mehr. Auch er hat das Haus in der Luftschützgasse bereits verlassen und sich wie ein junger Spartaner dem kriegerischen Berufe geweiht. Ihr erinnert euch daran, daß das Klirren der Säbel und das Rasseln der Kanonen in seine Kinderträume klang, während er noch an der Mutterbrust schlummerte. Und ihr erinnert euch vielleicht, wie er damals als guter Patriot seine Mahlzeit absichtlich in die Länge zog, um einen preußischen Prinzen von Geblüt samt seinen Generalen auf die ihrige warten zu lassen, weil er den Feinden des Vaterlandes nichts Gutes gönnen wollte. Sollten, ohne daß er selbst es ahnt, so frühe Eindrücke und Erlebnisse seinen Weg bestimmt haben? Jedenfalls hat dieser Weg ihn vorderhand in jene Gegend geführt, in der ein Teil der kriegerischen Ereignisse von damals sich abspielte, ins Kronland Mähren nämlich, wo er in einer Militärerziehungsanstalt zum künftigen Generalfeldmarschall der österreichischen und (wenn die Ungarn es erlauben) sogar der österreichisch-ungarischen Armee herangebildet wird. Und wenn der grasgrüne Federbusch auch bloß erst in fast unabsehbar weiter, märchenhafter Ferne schwebt, so winkt wenigstens das goldene Portepee schon so nahe, daß er im Schlafen und im Wachen davon träumen kann.

An den um acht Jahre älteren Wolfi könnt ihr euch wohl kaum mehr erinnern. Ich habe nicht viel von ihm erzählt, weil er ein Normalmensch ist, der gemächlich durchs Leben geht, ohne seine Pflichten zu versäumen, und ohne sich dafür gerade zu erhitzen, nach keiner Richtung ein Ausbund, aber ein praktisch beanlagter Verdiener von Bornschbögelschem Typus und sonst eine harmlose, gesellige Natur, der man gut sein kann. Er ist an Christls Stelle ins Geschäft eingetreten, hat wie dieser in Nedweditz unter Baudrillards und in Wien unter Fanedls Leitung seinen Kurs durchgemacht und befindet sich gegenwärtig in Lyon, um sich den letzten Schliff und Glanz in seinem Beruf zu holen, die Appretur gleichsam, die dem Teilhaber einer Seidenzeugfabrik so wenig fehlen darf wie den Seidenstoffen, die darin hergestellt werden. Wenn er zurückkommt, so wird er es leicht haben. Er braucht nur zu tun, was Moini ihm sagt, und sich weiter nicht zu sorgen. Das ist ihm gerade recht; er ist ein geborener Subalterner, der sich nichts verlangt als sein gutes Auskommen und in den Freistunden seine Tarock- oder Billardpartie.

So paßt er gut zum Gesellschafter Moinis, der eine herrische Natur ist und mit beispielloser Tatkraft in den paar Jahren, seit er selbständiger Chef geworden, die Nedweditzer Fabrik völlig verjüngt, erweitert und zu einem großartigen Unternehmen ausgestaltet hat. Er lebt den größten Teil des Jahres in Nedweditz, denn seine Stärke ist das Fabrikswesen selbst, und der Betrieb hat sich so vergrößert, daß Baudrillard allein ihn nicht mehr zu überblicken vermöchte. Mit Mara Nehuda, die er heimgeführt hat, bewohnt er das kleine, traute Gartenhaus an der Fabrik, in welchem Frau Therese im Jahre sechsundsechzig so schwere Stunden verlebt, in welchem die heranwachsenden Geschwister so viele schöne, fröhliche Sommer verbracht, an die sich unauslöschliche Kindheitserinnerungen knüpfen. Und schon sieht er, wenn er am Feierabend seine Behausung betritt, ein paar kleine Mairolde um seine Knie wimmeln, die er streng und hart erzieht, als wär' er nicht ein Sohn Frau Theresens, sondern Thom Bornschbögels.

Ein sonniger Augustabend glühte über dem mährischen Land, als die schwere, alte Postkutsche, die zwischen Nedweditz und der nächsten Eisenbahnstation verkehrt, langsam die steil ansteigende Straße auf den sogenannten Hals hinaufklomm, den langgestreckten Höhenrücken, zu dessen Füßen das industriereiche Fabriksstädtchen sich ausbreitet. Viel Passagiere hatten die Pferde nicht zu ziehen, eine einzige Frau saß in dem offenen Wagen, aber ihr Herz war voll und schwer, voll von Erinnerungen, die beim Anblick dieser Gegend auf sie einstürmten, schwer von sorgenden Gedanken über die Umstände, die den Anstoß zu dieser Reise gegeben. Sie sah die Felder und Wiesen wieder, durch die sie in längst vergangener Zeit, noch jung und blühend, mit ihrem Gatten gewandelt war, hier ein altbekanntes Bauernhaus unter verwittertem Strohdach, ein Dörfchen, einen Waldschachen, dort einen Bildstock am Wegrain, einen freistehenden Baum, an den sich schon halb sagenhaft gewordene kleine Begebenheiten knüpften, Gespräche, die sie mit ihren Kindern geführt, unbedeutende Alltagserlebnisse, die sich doch ihrem Gedächtnis eingeprägt hatten, weil irgendein Anstoß davon ausgegangen war, irgendein Scherz sich darum gesponnen hatte, oder auch ein Ernst, mit neuen Erkenntnissen, neuen Vorsätzen, neuen Absichten.

Nie hatte sie es deutlicher empfunden als in dieser stillen Sommerstunde, wo Längstvergangenes erwachte, daß mehr, weit mehr als die Hälfte ihres Lebensweges hinter ihr lag. Und während die Pferde langsam Schritt vor Schritt setzten und die Räder im Straßenschotter ächzten, überließ sie sich ihren rückschauenden Betrachtungen. Hatte sie ihr Tagwerk getan? Dem Hingeschiedenen, dem Vater ihrer Kinder, das Wort gehalten, daß sie freudig durfte Rechenschaft vor ihm ablegen, wenn es ein Wiedersehen gab? Hatte sie die Aufgabe erfüllt, die ihr vorschwebte, damals, als sie Xaver Wegrad, der nach Nedweditz gekommen war, mit heißen, stummen Worten um sie zu werben, schonend abwies, indem sie sagte: »Man darf nur eines lieben, nur eines wollen«?

Wann wäre für eine Mutter der Augenblick gekommen, die Hände in den Schoß zu legen und zu sprechen: »Ich habe das Meinige getan, ich bin müde«? Wer nur eines liebt und nur eines will, für den gibt es keine Vollendung des Lebenswerkes, kein Ausruhen vor dem letzten Atemzug, kein Müdewerden, bevor nicht das letzte Pochen des Herzens verklingt. Immer noch ist etwas zu leisten, zu bessern, zu vollenden für den, der nur eines liebt und nur eines will. Erreichbare Ziele und volle Erfüllungen winken bloß den Halben, deren Herz an vielem hängt.

Lange hat Frau Therese aus der Ferne dem Treiben in Nedweditz zugesehen, Jahre hindurch hat sie ihren Besuch verschoben, besonnen abwartend, damit kein vorschnelles Urteil ihren Blick trübe. Nun hält sie den Zeitpunkt für gekommen, wo die Pflicht sie ruft, ihrem Kinde zur Seite zu stehen. Ist es nicht immer noch ihr Kind, das sie unter dem Herzen und auf den Armen getragen hat, dessen erste Schritte sie bewachte und lenkte, dem sie Gepräge und Richtung zu geben bemüht war, damit es nicht in Versuchung falle? Und ist der reife, selbständig im Leben stehende Mann gegen Irrtümer gefeit, vor Abwegen gesichert? So groß das Ansehen wäre, das er genösse, und so klug er sich dünke – wie oft in entscheidenden Augenblicken bedürfte er doch des Rats und der warnenden Stimme einer Mutter nicht minder dringend als in frühen Kindertagen, wo seine Fehler und Unzulänglichkeiten noch klein und harmlos waren wie er selbst!

Der Wagen hat die Höhe erreicht und rollt jetzt eine Zeitlang auf ebener Straße hin, während unten die Vororte und näheren Umgebungen des Städtchens sichtbar werden. Wie haben die Fabriken sich vermehrt und die Fabriksschlote, denen dicker Qualm und Schwaden entquillt! Wo sind die langgestreckten Gebäude der Mairoldschen Weberei, die sonst so frei zwischen Feldern, Wiesen und Gärten lagen? Der Kutscher muß ihr behilflich sein, sie aufzufinden, kaum daß sie sie wiedererkennt. Die riesigen Schornsteine dort drüben, mitten in der neu erstandenen Arbeiterstadt, bezeichnen die Stelle, die langgestreckten roten Ungetüme, die im Schein der Abendsonne glühen. Ein entschlossenes Herz gehört dazu, nicht Anstoß an ihnen zu nehmen, ein freies, jugendliches Auge, das auch im Zweckmäßigen noch die Schönheit erkennt. Wie schweigende Riesen stehen sie da, ungeschlacht aber gewaltig in ihrer Art, das Sinnbild einer neuen Zeit, die stählernen Mechanismen Menschengeist einhaucht, um Menschenhände von niedriger Arbeit zu entlasten. Und die schweren, goldbraunen Wolken, die sie in wildem Ungestüm aus ihren heißen Lungen hauchen, wälzen sich wie brauende Gewitter, vom Strahl der sinkenden Sonne durchflammt, gegen den reinen Abendhimmel und schweben dann ernst und friedvoll hoch über dem weiten, grünen, fruchtgesegneten Lande hin wie ein lautlos-feierliches Preislied der neuen, ins großartige gehenden Arbeit.

Trabende Hufe klingen dem Wagen entgegen, ein Offizier und eine Dame zu Pferd fliegen an Frau Therese vorüber. Nur im Husch hat sie die Amazone ins Auge fassen können, ein schwarzes, wehendes Reitkleid, ein jugendlich lachendes Gesicht unter dem schleierumwundenen Herrnhut. War das nicht die Mara Nehuda, die Gattin Moinis, die jetzt Frau Mairold heißt und als Herrin in der Nedweditzer Fabrik schaltet?

Der Kutscher auf seinem Bocke wendet sich um und blickt den Reitenden nach. Ein verschlagenes Lächeln lauert in seinem breiten Gesicht, als ob er sich etwas dächte, als ob er wünschte, gefragt zu werden, als ob er bereit wäre, Klatsch weiter zu geben und Böses auszusagen. Aber Frau Therese fragt nicht. Mit knappen Worten macht sie ihn darauf aufmerksam, daß die große Steile kommt, wo die Straße sich ins Tal senkt, und daß es Zeit sei, den Radschuh einzulegen.

Weniges später hält der Wagen am großen Fabrikstor. Der alte Hummer springt aus seiner Loge und reißt den Schlag auf. Er ist weiß geworden, hat aber noch seine stramme militärische Haltung. Die freudige Überraschung verschlägt ihm die Stimme, zitternd faßt er nach der Hand der früheren Herrin und beugt sich nieder, ihren Handschuh zu küssen. Sie wehrt ihm und erkundigt sich wohlwollend, wie es ihm gehe? Da richtet er sich auf, und ein paar Tränen rollen ihm über die gefurchten Wangen.

»Muß schon gut sein!« sagt er. »Und jetzt, wo sich die gnädige Frau endlich einmal die Ehre geben, uns zu besuchen, jetzt wird es auch wieder besser werden!«

Sie lacht über das ganze Gesicht und schüttelt den Kopf, als begriffe sie nicht, warum er bei ihrem Anblick weint.

»No, no, wer wird denn so verzagt daherreden? Ein bissel was hat jeder auszusetzen. Man muß nicht gleich aus jeder Mücke einen Elefanten machen! Haben wir nicht miteinander das Jahr sechsundsechzig erlebt?«

Und während sie aus dem Wagen steigt und ihr Gepäck abgeladen wird, gibt sie dem alten Hummer den Auftrag, ihrem Sohn zu melden, ein Besuch sei angekommen und bitte um bescheidene Unterkunft.

»Aber daß Sie ihm nicht verraten, wer es ist! Er soll sich nur den Kopf zerbrechen und selbst nachsehen kommen!«

Eifrig enteilt der alte Hummer, Herrn Moini Mairold aufzusuchen. Und als er ihn gefunden, stellt er sich in Positur und sagt geheimnisvoll: »Wenn der gnädige Herr vielleicht Zeit hätten? Der gnädige Herr werden sich wundern!«

Moini, der gerade einer Kettenschermaschine in die Eingeweide guckt, richtet sich empor und fragt barsch: »Wundern? Warum soll ich mich wundern?«

»Ein Besuch wär' angekommen, sollt' ich melden.«

»Wer ist es denn?« herrscht Moini ihn an.

Und diplomatisch lächelnd antwortet der alte Hummer: »Das darf ich nicht verraten! Die gnädige Frau Mama hat mir's verboten.«

Eine Kettenschermaschine ist etwas Schönes, sie ist fast so gescheit wie ein Mensch und hat einen wunderbaren Organismus. Aber ein Herz fehlt ihr doch, und an der Brust eines wirklichen Menschen zu ruhen, der ein treues, warmschlagendes Herz für uns hat, ist noch tausendmal schöner, als einer Kettenmaschine in die Eingeweide zu gucken. Darum wundert sich auch der alte Hummer nicht, daß der gestrenge Chef die Maschine Maschine sein läßt und aus dem Fabrikssaal hinaus- und die Treppe hinunterrennt, als wär' er noch der halbwüchsige Moini von einst, der sich mit den Geschwistern in Hof und Garten tummelte.

*


 << zurück weiter >>