Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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In allen Klassen gab es »Franzosen« und »Preußen«, die einander befehdeten.

»Merkwürdig«, sagte Ludger Herrnfeld; »da zerbrechen die Leute sich den Kopf, was hinter den Kulissen vorgehe? Die Buben in der Schule könnten es ihnen sagen. Jedes Gezwitscher, das da vernehmbar wird, ist ein entfernter, aber getreuer Reflex der großen Opernarien, die auf der Weltbühne hinter herabgelassenem Vorhang gesungen werden.«

»Wie wäre das möglich?« sagte Frau Mairold, »die Buben wissen doch eigentlich gar nichts.«

»Die Aufklärung über Dunkles muß man immer bei den Nichtwissenden suchen. Die Wahrheit, die kein Urteilender ergraben kann, sickert auf rätselhaften Wegen in die Gemüter der Einfältigen. Seit Doll mir erzählt hat, daß es in seiner Klasse auch Franzosenfreunde gibt, weiß ich auf einmal, was unser Reichskanzler, der Graf Neust, hinter den Kulissen treibt.«

»Und was treibt er?« fragte sie.

»Mit dem Napoleon konspiriert er und möchte den deutschen Brüdern gern in die Flanke fallen, um die österreichische Vorherrschaft in Deutschland neu zu begründen. Gottlob, daß die ersten französischen Siegesnachrichten erlogen waren! Nun wird das gebrannte Kind die bereits ausgestreckte Hand rasch wieder zurückziehen, um sich nicht abermals die Finger zu verbrennen. Wir können von Glück sagen, daß die deutschen Waffen von Sieg zu Sieg eilen!«

»Von Glück –?« rief Christl Mairold, der schon ein flammender Jüngling war. »Waren es denn nicht die Preußen, die uns aus Deutschland hinausgedrängt haben?«

»Hältst du es für wünschenswert, daß wir uns wieder hineindrängen?« fragte Ludger dagegen.

»Ich halte es für ein Unglück, daß Österreich den tausendjährigen Zusammenhang mit dem Reiche verloren hat.«

»O, Segen des Unglücks,« sagte Herrnfeld; »wer könnte dich missen? Es ist eine weit verbreitete Meinung unter den Menschen, daß das Glück Glück und das Unglück Unglück sei, und doch ist nichts irriger, und – ach, wie oft! – gerade das Gegenteil der Fall. Wer ist stark genug, Glück zu ertragen? Wen narrt es nicht auf Irrwege, wen macht es nicht hoffärtig und überkühn, wem verkümmert es nicht oft seine besten Kräfte? Geh hin und frage herum, was Glückliche dir zu sagen haben? Leer und hohl wirst du sie finden wie tönendes Erz und klingende Schellen, blöde im Ausdruck, steinern in ihrem Lächeln, plump wie eine Kröte, beschränkt wie ein Huhn, kahl wie Totenschädel, selbstsüchtig wie Pastoren, unfähig, dir ein Wort des Trostes zu spenden, das über Redensarten hinausgeht. Ich preise mir das Unglück, den Urquell alles Guten, das Stahlbad der Gesinnung, den Eisenhammer, der starke Herzen schmiedet, den Anfang aller Vernunft, den Mutterschoß jedes festen Willens! Alle Erkenntnis, alle Besinnung, alle Feinheit des Empfindens, alles Begreifen und Verstehen, alle Güte und alle Kraft fließen aus dem Leid. Mach mich zum Gott über eine Welt, in der es kein Unglück gibt, und ich werde lieber zu den Teufeln flüchten, als über blutlose Zerrbilder von Engeln herrschen wollen!«

Er hatte sich erhoben und ging erregt im Zimmer auf und nieder.

»Sieh mich an!« sagte er. »Mein Leben ist viel zu glücklich gewesen. Hätte ich nicht wenigstens den Zorn in mir, so wär' es überhaupt nicht auszuhalten!«

»Bester Ludger – setzen Sie sich wieder!« mahnte Frau Mairold lächelnd.

Er gehorchte und sagte: »Nutzanwendung! Österreich ist kein nationaler Staat – verstehst du? Österreich hat eine ganz einzige, eigenartige und hohe Mission zu erfüllen, und die hätte es noch lange nicht begriffen, ohne das Unglück von sechsundsechzig.«

»Und was für eine Mission wäre dies?« fragte Frau Therese.

»Der Welt zu zeigen, wie man aus der Not eine Tugend macht.«

»Ist das alles?«

»Der Welt zu zeigen, wie unverdorbene, gesunde, arbeitsame Völker, auch wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen, sich zu einer gemeinsamen Kultur emporringen können, die der Kultur national geeinter Reiche in nichts nachsteht.«

»Das wäre schon etwas.«

»Der Welt zu zeigen, wie harte geschichtliche Notwendigkeiten, durch welche Schwächlinge über den Haufen geworfen wurden, alle schlummernden Kräfte wecken und alle Hoffnungen stärken können, wo ehrlich Ringende mit gutem Willen nach dem Lichte streben. Der Welt zu zeigen, daß auch im Völkerleben unglückliche Verhältnisse zum Segen ausschlagen und dazu beitragen können, den Blick zu erweitern, das Menschliche zu vertiefen, die Geister vornehmer, die Herzen nachsichtiger zu machen.«

»Das wäre freilich viel,« sagte Frau Therese ernst. »Aber Sie träumen Zukunftsträume! Wir wären schon mit einer leidlichen Gegenwart zufrieden.«

»Das neunzehnte Jahrhundert,« sagte er, »steht unter dem Banne des nationalen Gedankens. Ich verstehe ihn nicht nur, ich liebe ihn auch, ich selbst hänge mit allen Fasern meines Herzens an meinem Volke. Aber auch der nationale Gedanke bedarf noch der Läuterung. Wie die Religion soll er aufhören ein Schwert zu sein. Gleich einer durch edles Räucherwerk genährten Flamme brenne er im stillen Dämmer des Allerheiligsten! Vielleicht wird die Zukunft es verlernt haben, sich in nationalen Kriegen zu zerfleischen, so wie Religionskriege heute undenkbar geworden sind. Vielleicht wird die Zukunft es verlernt haben, sich in nationalen Rüstungen zu verzehren, und es für einen Frevel halten, die besten Kräfte des Wohlstands den höherstehenden Aufgaben der Gesittung zu entziehen.«

»O, was könnte dann alles geleistet werden!« rief Frau Therese.

»Gerade darin,« sagte Herrnfeld, »daß Österreich kein nationaler Staat ist und sein kann, liegt seine geschichtliche Mission. Seine Existenz deutet eine bessere Zukunft vor: den Völkerbund der Nationen, die sich in gemeinsamer friedlicher Arbeit zusammenschließen.«

»Man sagt, der Weltfriede sei eine Utopie. Aber was hindert uns daran, an holde Utopien zu glauben?«

»Nichts!« sagte Herrnfeld, sich vergnügt die Hände reibend.

Die Tür sprang auf, der Lois Birenz flog herein, ihm auf den Fersen Doll. Im nächsten Augenblick waren sie zu einem Knäul ineinander verstrickt, stampften den Boden, wogten hin und her, fielen schließlich auf den Teppich nieder und balgten sich. Der Lois war stämmig, starkknochig und bei weitem der Kräftigere, Doll dagegen, geschmeidig wie ein junger Panther, behende und leidenschaftlich im Angriff. So hielten sie einander die Wage. Erschrocken hatte Frau Therese sich erhoben. Sie eilte zu den Kämpfenden, rief sie bei ihren Namen, mahnte sie und schalt. Nicht ohne Anstrengung gelang es ihr endlich, sie zu trennen.

»Was habt ihr miteinander?« fragte sie streng.

»Gar nichts,« sagte Lois keuchend. »Der Doll ...«

»Was gibt es?« fragte Herrnfeld. »Doll, sprich du!«

»Ach nichts weiter,« sagte Doll. »Der Lois ...«

»Also redet und laßt euch die Worte nicht so aus dem Munde ziehn!« mahnte Christl.

Da legten sie plötzlich los, beide zugleich, und sprudelten etwas hervor, das niemand verstehen konnte.

»Haltet ein! Schön sachte, bitte, und einer nach dem andern!« rief Ludger belustigt.

Allmählich kam es heraus, worum es sich handelte. Über die kriegführenden Mächte waren sie in Streit geraten, und da sich durch bloße Worte eine Einigung nicht erzielen ließ, so hatten sie die Entscheidung den Fäusten anheimgestellt.

Herrnfeld lachte und schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel, Christi aber sagte: »Es ist dafür gesorgt, daß die Utopien nicht in den Himmel wachsen!«

»Wir werden schon sehen, wer den andern zwingt!« rief Doll, noch immer kampflustig.

»Ja, das werden wir sehen!« sagte Lois.

Es klopfte an die Tür, Thom Bornschbögel mit seiner Frau trat ein. Es war ein Sonntag, sie kamen den üblichen Abschiedsbesuch zu machen, weil sie in den nächsten Tagen nach Weidlingau übersiedelten, wo sie ein Landhaus besaßen.

Frau Therese war rot geworden, weil sie fürchtete, daß die Szene zwischen Doll und Lois ihrem Bruder Thom Anlaß geben würde, ihr ein paar Bissigkeiten über ihre Kinder zu sagen. Denn er ließ nicht leicht eine Gelegenheit vorübergehen, ohne dies zu tun. Er hielt es für Verwandten- und Freundespflicht, unliebenswürdig zu sein. Vielleicht fand er, daß man durch das glatte Zustimmen und Süßtun der Übelwollenden ohnedies genügend in seinen Fehlern bestärkt werde. Beständig schliff, hobelte und feilte er an allen Nebenmenschen, die ihm irgend näher oder nahestanden, mit demselben Fleiße wie an sich selbst; denn daß er das Schleifen, Hobeln und Feilen an sich selbst unterlassen hätte, konnte kein Feind ihm nachsagen. Sein sterblicher Adam bestand aus zwei symmetrischen, gleichmäßig ausgebildeten und gleichaltrigen Menschen, einem ältlichen Lehrbuben und einem schroffen Meister, und der letztere schurigelte den ersteren nach Noten, manchmal auch umgekehrt, nicht der eine den andern, sondern der andere den einen. Vereint aber schurigelten sie jeden, den beim Ohr zu nehmen sich auch nur ein blasser Rechtstitel fand.

Zum Glück hatte Thom die kriegerische Situation nicht erfaßt, er blieb an Lois Birenz hängen, der ihm von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war, und sagte: »Hm – das ist dieser Bursch, dieser gewisse Beppi, oder wie er heißt, ich erinnere mich ... Unser lieber Vater hat ihm gestattet, ihn Großvater zu nennen – eine besondere Ehre für die übrigen Enkelkinder.«

Frau Therese schwieg und forderte auf, Platz zu nehmen, Ludger aber sagte artig: »Sie sind Menschenkenner, Herr Bornschbögel, ich bewundere ihr Urteil. Der Lois Birenz ist in der Tat ein tüchtiger Junge und ein wackerer Kerl. Wie stellen Sie es bloß an, daß Sie auf den ersten Blick dahinter kommen?«

Etwas unsicher sah Thom zu ihm hinüber und wußte wieder einmal nicht recht, wie er mit diesem Menschen daran sei, den er »ein Schnittl auf alle Suppen« nannte. Herrnfeld aber benützte die Pause, wendete sich herum und sagte: »Geh jetzt mit Doll aufs Zimmer, Lois! Ich will später nachsehen kommen, ob ihr eure Lektion über die Beendigung des Peloponnesischen Krieges ordentlich gelernt habt. Ihr versteht mich?«

Und sich wieder an Herrn Bornschbögel wendend, setzte er ihm auseinander, wieviel man den Jungens in den Schulen jetzt zumute, und wie schwierig es sei, alle Kämpfe und Friedensschlüsse zwischen Athenern und Spartanern im Gedächtnis zu behalten.

»Was gehn uns die Raufereien der alten Griechen an?« brummte Thom. »Die Schöne Helena versteht man auch ohne das. Überhaupt diese ganze Lernerei! was kommt dabei heraus? Höchstens daß die jungen Leute die Freud' zu einem nützlichen Metier verlieren!«

Die Knaben hatten eine Verbeugung gemacht und waren abgeschoben. Draußen stießen sie einander an und lachten. An Feindseligkeiten dachten sie nicht mehr. Sie hatten Ludger verstanden, waren ihm dankbar und froh, dem gefürchteten Oheim aus den Augen gekommen zu sein.

»Was hast du eigentlich mit diesem Burschen vor, diesem Louis, oder wie er heißt?« wendete Thom Bornschbögel sich an seine Schwester.

»Mit dem Lois Birenz? Er geht mit Doll in die Schule. Ursprünglich sollte er Weber werden ...«

»Also laß ihn auch! Wir brauchen doch Weber, du so gut wie ich. Studierte gibt's genug, ist es vielleicht gescheiter, wenn er Professor wird? Daß er dann unsern Enkeln abermals den Peloponnesischen Krieg eintrichtert!«

»Professor braucht er ja nicht gerade zu werden,« meinte Frau Therese lachend.

»Es wäre schade um ihn gewesen,« sagte Christl. »Was der für einen Kopf hat!«

»Eben darum hab' ich ihm erlaubt zu studieren.«

»Weil du noch nicht genug Kinder zu versorgen hast ...« sagte Thom und schnappte nach einer Fliege. Frau Minka Bornschbögel legte besänftigend ihre Hand auf den Rockärmel ihres Gatten.

»Reg' dich nur um Gottes willen nicht auf, Thom, du weißt, es könnte dir schaden!«

»Der Lois ist eine Waise, vollständig mittellos und dabei ein so aufgeweckter Junge,« gab Frau Therese zu bedenken.

»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, wegen eines hergelaufenen Buben deine eigenen Kinder zu benachteiligen!«

»Ob eins mehr ist oder weniger – das spürt man schon nicht mehr.«

»Wenn deine Verhältnisse danach sind – mich geht's natürlich nichts an.«

»Sehr richtig!« bemerkte Ludger.

»Wie meinen Sie?« wendete Thom sich scharf gegen Herrnfeld herum.

»Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht, Herr Bornschbögel!« sagte Ludger ebenso zweideutig als verbindlich.

»Wir hoffen bestimmt, euch in Weidlingau zu sehen,« rief Frau Minka, schon im voraus hinschmelzend vor Entzücken über den lieben Besuch.

Aber Thom ließ noch nicht locker.

»Ich bin von früh bis abends im Geschäft und rackere mich. Aber ich weiß auch, für wen ich's tu'. So ein – Hausmeisterskind auf meine Kosten studieren lassen, das ginge mir gerade noch ab!«

»Dafür besitzen Sie eine Villa in Weidlingau,« sagte Herrnfeld.

»Haben Sie vielleicht etwas dagegen?«

»Im Gegenteil, ich würde Sie darum beneiden, wenn ich Talent zum Villenbesitzer hätte.«

»Eine Erholung braucht jeder Mensch. Das ist aber auch der einzige Luxus, den ich mir gestatte.«

»Er überarbeitet sich noch!« rief Frau Minka Bornschbögel. »Sag' ihm doch, Therese, er soll nicht so viel arbeiten!«

»Mein Luxus ist der Lois Birenz,« sagte Frau Therese lachend.

Vor dem Hause hatte man einen Wagen vorfahren hören. Die Luftschützgasse war noch eine von den stillen Gassen, in der es auffiel, wenn ein Wagen rasselte. Der gewaltige Xaver Wegrad trat ein. Alle freuten sich, ihn zu sehen. Der Wille zur Macht gab ihm etwas Sieghaftes, das wohltuend berührte, wenn man ihn bloß als Schauspiel betrachtete und vor dem bißchen Großsprecherei ein Auge zudrückte. Er gehörte zu denen, die zu blenden wissen, und selbst wenn man sich dessen bewußt blieb, so gewann man doch unwillkürlich ein Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe.

Heiter und aufgeräumt, weil er gut gefrühstückt hatte, kam er geradenwegs aus dem ausgelassenen Kreise von jüngeren Freunden, mit denen er sich's gut sein ließ, und deren geistiges Oberhaupt er war. Sie bildeten eine Art Geheimbund, einen Verein ohne Statuten, und nannten sich die Vorurteilslosen. Es waren lauter Helden, und jeder hatte sich durch eine Heldentat in die Gemeinschaft eingekauft. Der Franzi Kleebinder, der Bandmachers-Sohn und -Enkel, hatte einmal ein Paar Fiakerpferde zuschanden gejagt, um ein Stelldichein im Prater nicht zu verpassen. Jeder Kuß im Grünen hundert Gulden. War das nicht Poesie? Der herzige Fredl Beywald, aus der weitverzweigten Sippe der Samt- und Plüsch-Beywalde in der Rittergasse, hatte es zuwege gebracht, seinem Leporelloalbum kürzlich auch das Bild der schönsten und sprödesten Frau vom Schottenfeld einzuverleiben, um die mit allen Künsten der Belagerungstechnik lange vergeblich gekämpft worden war, und tat sich nicht wenig darauf zugute, daß es ihm einmal gelungen sei, sich ohne Alimente aus einer solchen Affäre zu ziehen.

»Ihr Gatte gehört nicht zu unserm Bund,« sagte er lachend; »er leidet an dem Vorurteil, die Kinder seiner Frau für die seinigen zu halten.«

Der elegante Felix Schönhof, der sich in Gemeinschaft mit seinem Bruder der Aufgabe widmete, die altrenommierte Tüll-Anglais-Fabrik in der Lindengasse allmählich auf den Hund kommen zu lassen, hatte einmal der Primadonna vom Carltheater die Trikots versteckt, so daß sie unter dem Sturmläuten des Regisseurs sich schließlich gezwungen sah, die schöne Galate mit nackten Beinen zu singen. War das nicht Schönheit, vorurteilslose Schönheit? Und wenn Felix Schönhof davon erzählte, so faßte er die Schöße seines Gehrocks zierlich mit zwei Fingern und lüpfte sie kokett, wie die marmorne Operettengriechin ihren Chiton, während er dazu trällerte: »Jaha, das war klassisch – klassisch – klassisch ...«

Andere Helden hatten wieder andere Heldentaten verrichtet. Gesinnung übt werbende Kraft, es fehlte nicht an Neophyten, die ihren Ehrgeiz darein setzten, in die Heldenbrüderschaft der Vorurteilslosen aufgenommen zu weiden. Oder waren es mehr Priester als Helden? Dann konnte der gewaltige Xaver Wegrad für den Oberpriester der übermütigen Klerisei gelten, die ihre Weihrauchfässer zum Preise der neuen Religion schwang. Der Kult war kurzweilig, wenn auch manchmal etwas anstrengend, und je gründlicher es den Teilnehmern gelang, sich von überlebten Vorurteilen zu befreien, um so mehr wuchsen sie in ihre Aufgaben hinein. Es war kein platter, es war sozusagen ein mystischer Kult. Denn die Gottheit, die auf dem Altar thronte, hielt sich verborgen, und jedem stand es frei, sich über sie die Gedanken zu machen, die ihm am besten zusagten. Also nannten einige sie die Freude, andere die Göttin der Vernunft, noch andere die moderne Zeit. Ludger Herrnfeld aber behauptete, es sei eine uralte Gottheit, die ebenso wie Jehova aus der Bibel stamme: Das goldene Kalb.

»Ich komme, Ihnen eine Proposition zu machen, schöne Cousine,« sagte der gewaltige Xaver Wegrad. »Sie sollen sich davon überzeugen, daß verwandtschaftliche Freundschaft nicht bloß Himmelslohn einträgt.«

»Lassen Sie hören!«

»Er soll nur drauf los propositionieren,« brummte Thom; »ich werde schon aufpassen, daß nichts passiert.«

»Proponieren sagt man, nicht propositionieren. Übrigens – mit dir, lieber Thom, rede ich gar nicht. Du gehörst zu den Ganzverstockten und Verbohrten. Das Glück begegnet den Narren, aber sie haschen es nicht, und wer einem Narren einen Rat geben wollte, der gösse Wasser in ein Sieb. Zu Ihnen rede ich, schöne Cousine. Wollen Sie Geld verdienen?«

»Gern!« sagte Frau Therese lachend.

»Kommt er schon wieder mit seinen Börsenspekulationen!« rief Thom.

»Es handelt sich um ein reelles Geschäft, das mit der Börse so viel wie nichts zu tun hat. Um große Steinbrüche, die ausgebeutet werden sollen. Sie liefern den herrlichsten Marmor von der Welt, wir haben sie um eine Bagatelle in der Hand. Es ist ein Wert von vielen Millionen. Die Aktie soll auf fünftausend Gulden lauten. Nominale! In ein paar Jahren wird sie das Fünffache wert sein.«

»Wer sind die Gründer?« fragte Herrnfeld.

»Die Hauptaktionäre sind Pinkenfeld und ich. Die Aktien notieren natürlich gar nicht auf der Börse; es wäre ein Schwabenstreich, ein solches Papier aus der Hand zu lassen!«

»Fünftausend Gulden?« sagte Frau Therese nachdenklich.

»Was haben Sie und Herr von Pinkenfeld mit Marmor zu tun?« fragte Ludger. »Verstehen Sie denn was davon?«

»Gott, sind Sie naiv! Wissen Sie nicht, daß Geld alles kann und alles versteht? Was brauch' ich etwas zu verstehen, wenn ich Geld habe? Kann ich vielleicht ein Bild malen? Nicht einen Pinselstrich! Und doch hängen in meiner Wohnung die wunderbarsten Gemälde. Kann ich Klavier spielen, kann ich geigen? Nicht einen Ton! Und doch widerhallen meine Salons von süßen Melodien. Oder verfüge ich über die Muskelkraft und über den Atem eines Pferdes? Und dennoch jage ich mit acht Hufen über das steinerne Pflaster der Straßen. Wer hat mir meine Bilder gemalt? Das Geld! Wer macht mir Musik, wenn mich danach verlangt, bald fröhliche und bald ernste, je nachdem es mir behagt? Das Geld! Wer trägt mich wie der Wind von einem Ende der Stadt zum andern, während ich ruhig meine Zeitung lese? Abermals das Geld!«

»Wo liegen die Steinbrüche?« fragte Frau Therese.

»Die stehn wahrscheinlich bloß auf dem Papier,« spottete Thom, indem er mit dem Unterkiefer in die Luft schnappte.

»In den Alpen liegen sie,« sagte Wegrad. »Da irgendwo im Süden, wo das Slowenische oder Italienische schon bald anhebt. Tief im Gebirg drin und ziemlich hoch oben. Auf der Wegwacht heißt die Paßhöhe. Ganze Felsenkoppen aus Marmor gibt es da. Man braucht das Gestein nur herunterzuholen und zu verkaufen. Wenn wir nicht vierzig oder fünfzig Prozent Dividende zahlen, so könnt ihr mich Veitel heißen.«

»Was haben wir davon, wenn wir Sie Veitel heißen dürfen?« sagte Ludger.

Alle lachten. Frau Therese aber fühlte, daß sie schwach wurde.

»Fünftausend Gulden« – sagte sie unsicher; »so viel würden gerade meine kleinen Ersparnisse betragen.«

»Sie übernehmen selbstverständlich einen ganzen Posten, sonst zahlt es sich gar nicht aus.«

»Du wirst dein bißchen Erspartes doch nicht in die Lotterie setzen!« rief Thom Bornschbögel entrüstet.

»Reden wir von etwas anderem,« bat Frau Minka; »es regt ihn zu sehr auf!«

»Der Thom braucht sich gar nicht aufzuregen, er bekommt ohnedies keine Aktie,« sagte Wegrad behaglich. »Eigentlich ist der Betrag längst überzeichnet. Bloß für Sie, schöne Cousine, nehme ich noch eine Vormerkung an, wenn Sie mögen. Weil es mir Vergnügen macht, daß Sie auch einmal eine Chance haben sollen.«

»Es ist nett, daß Sie an mich denken,« sagte Frau Therese, schon ganz bestrickt. »Die Sparkasse zahlt nicht mehr als fünf vom Hundert.«

»Ein schönes Beispiel gibst du deinen Kindern!« rief Thom außer sich, sprang auf und trat ans Fenster.

»Ich denke an den Lois Birenz. Du meinst, ich benachteiligte meine Kinder, indem ich für ihn sorge. Also muß ich doch trachten, es irgendwie wieder hereinzubekommen?«

»Durch leichtsinnige Manipulationen? Weiberlogik!«

»Einmal in meinem Leben will ich auch leichtsinnig sein,« sagte sie lachend.

Xaver Wegrad hatte sein Notizbuch hervorgezogen.

»Leichtsinnig – wenn man sein Geld günstig placiert? Wie soll es denn tragen, wenn Sie sich draufsetzen.? Dann gab' es überhaupt kein Wagen und Gewinnen. Dann wäre ein jedes Geschäft, das über eine Greislerei hinausgeht, purer Leichtsinn. Dann würden wir uns halt in der gewohnten Langeweile fortfretten und schön brav mit Wasser kochen. Dann sparen wir uns halt keuzerweis ein Sparkassenbüchel zusammen, verzichten auf jeden großen Zug, lassen die Schätze, die in unseren gesegneten Ländern im Boden schlummern, ungehoben und bekreuzen uns, wie vor dem Beelzebub, vor jedem Menschen, der im Geruche steht, keine Schlafmütze zu sein. Nein – eine so kleinliche Seele sind Sie nicht, Therese, ich weiß, Sie haben eine heimliche Freude an allem, was mutig ist. Da liegt das Gold auf meiner flachen Hand, greifen Sie zu! Also wieviel soll ich notieren? Sagen wir zehn Stück?«

»Wo denken Sie hin! Das sechsundsechziger Jahr geht mir noch lange nach. Ich habe damals mein ganzes Privatvermögen eingebrockt.«

»Eine schöne Wirtschaft, das!« sagte Thom vom Fenster her.

»Inzwischen geht's ja wieder aufwärts. Aber mehr als fünftausend Gulden kann ich vorderhand nicht dran wagen.«

»Das gäbe also gerade eine Aktie,« sagte Wegrad schreibend. »Abgemacht! Viel ist es nicht, ich hätte Ihnen mehr vergönnt, aber wenigstens haben Sie meinen guten Willen gesehen.«

»Wir empfehlen uns, Minka,« sagte Thom, seinen Platz am Fenster verlassend.

»Gott, du wirst mir doch nicht bös sein, Thom?« rief Frau Therese bestürzt.

»Könnte mir einfallen. Ein jeder erntet, was er sät; es ist ein Unsinn, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.«

»Sehr richtig, Herr Bornschbögel,« sagte Herrnfeld. »Mäusedreck, der sich in Koriander mischt, kommt mit ihm in die Gewürzmühle.«

»Wie meinen Sie?«

»Was kümmert's mich, wenn Quakus' Haus brennt, sagte der Neger von Surinam; brennt doch mein Schurzband noch nicht!«

»Sie belieben in Rätseln zu sprechen.«

»Wer in Rätseln beichtet, den läßt auch der strengste Pfaffe laufen.«

*


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