Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Ihr, die ihr am Gelde hängt, ihr wißt es, daß es keine Kleinigkeit ist, das Seinige zu verlieren. Die Häuser stehen fest und die Grundstücke sind mit der Erde verwachsen, aber der reichere Gewinn, den die Arbeit der keuchenden Maschinen und der tausend schwieligen Hände verheißt, schwankt wie eine Schiffsladung auf den trügerischen Wellen des Marktes. Wenn es Dinge gibt, denen das Bedürfnis ihren Wert verleiht, so gibt es auch Werte, die nur durch den Glauben der Menschen bestehen. So kann bedrucktes Papier unendlich viel schwerer wiegen als Gold; sobald aber der Zauber schwindet, der es mit Kraft, Willen und Macht umkleidete, wird es plötzlich leicht wie – Papier, und jeder Windzug weht es unter den Tisch. Dort mag es ruhig liegen bleiben, niemand bückt sich mehr, es aufzuheben.

Herr Fanedl ist, seit er Herrn von Pinkenfeld Aug in Auge gegenüber sitzt, auf einmal ganz klein, zaghaft und demütig geworden.

»Entschuldigen Sie bloß! Ich wollte wirklich nicht stören! Es war nur die Angst, die mich verrückt gemacht hat. Es war nur die Sorge um mein Geld, um mein gutes Geld, um meine kleinen Ersparnisse! Sie werden Mitleid mit mir haben. Sie sind ein umsichtiger Mann, Sie sind ein weitblickender Mann, Sie sind ein ehrlicher und ein reicher Mann! Sie werden einen armen Familienvater nicht im Stiche lassen!«

Das Spiel der Kräfte beginnt. Von zwei Menschen, die miteinander zu tun haben, ist immer der eine oben und der andere unten. Als Pinkenfeld den halb wahnsinnigen Herrn Fanedl in sein Privatkontor hineinkomplimentierte, war er ganz tief unten. Nun hat der unvorsichtige kleine Buchhalter die gefährliche Waffe, mit der er angerückt kam, aus der Hand gegeben: seinen Zorn. So kommt es, daß jetzt auf einmal Herr von Pinkenfeld Oberwasser gewinnt.

»Was ist das für ein unqualifizierbares Benehmen?« sagt er empört. »Mitten in einem Fest kommen Sie mir mit Gezeter daher! Was wollen Sie eigentlich? Ich verbitte mir solche Impertinenzen!«

Immer kleiner wird Herr Fanedl, immer zerknirschter und weinerlicher. Er ist stundenlang durch die Gassen der Stadt gelaufen, in seiner Not. Er war bis an der Donau unten und hat lange ins dunkel ziehende Wasser gestarrt, aus dem der Tod ihm entgegengrinste. Aber so viel Mut, als dazu gehört, ihn freiwillig zu umarmen, so viel Mut kann ein Fanedl nicht aufbringen. Da rannte er vor ihm davon, zitternd vor Angst, von Grauen gepackt. Und der schon halb durchlebte Tod pulverte ihn auf, daß er plötzlich nicht mehr der Herr Fanedl, sondern ein brüllender Löwe war. Die Übernatur, die sich seiner bemächtigt hatte, jagte ihn durch die Straßen in seine Gegend zurück. Ein paarmal war er hingefallen, den Hut vom Kopfe hatte er verloren, und der Kopf selbst wußte nicht mehr, daß er Herrn Fanedl gehörte. So stand er unversehens im Ballsaal und balgte sich mit ungeschlachten Menschen, die die Livree von Lakaien trugen. Das war alles wie ein Fieberschauer. Und jetzt, da der Taumel von ihm gewichen ist, jetzt fühlt er sich ermattet wie ein Kranker und zur Empfindsamkeit geneigt wie ein Genesender.

»Oh, Herr von Pinkenfeld, wenn Sie sich in mich hineindenken könnten! Sie würden mich nicht verurteilen, Sie würden begreifen und verzeihen.«

Fünfunddreißig Jahre hat er gearbeitet und gespart, fünfunddreißig lange Jahre Kreuzer auf Kreuzer gelegt. Keine Zerstreuung, keine Aufheiterung, kein Wohlleben, keine Reise, kein Theater hat er sich gegönnt, fünfunddreißig Jahre lang. Kein Vergnügen außer seine Briefmarkensammlung, die ihn ja nichts kostete; er hatte sie zusammengebettelt, oder im Tauschwege erworben. Zur Aussteuer für seine Tochter war das Geld bestimmt gewesen, sie war sein einziges Kind, sein alterndes Herz hing an ihr. Was übrig blieb, das sollte einen Notpfennig abgeben für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit. Und nun war auf einmal alles dahin.

»Da sind sie, die Papiere,« sagte er, ein Paket aufwickelnd, das er krampfhaft unter dem Arme gegen die Brust gepreßt hielt. »Ich habe mich auf Sie verlassen, Herr von Pintenfeld! Pentelikon muß gut sein, hab' ich mir gedacht, wenn der Herr von Pinkenfeld Präsident des Verwaltungsrates ist. Meine Hand hätte ich ins Feuer gelegt für Pentelikon. Wem soll man noch Vertrauen schenken, wenn man einem Herrn wie Ihnen nicht mehr vertrauen darf? Ich weiß, es ist nicht wahr, was die Leute sagen! Bestätigen Sie, daß es nicht wahr ist! Pentelikon ist gut! Es müßten ja lauter fiktive Bilanzen gewesen sein, die man den Aktionären vorgelegt hat. Es wäre geradezu eine Irreführung gewesen! Das wird nicht sein, das kann nicht sein, sagen Sie, daß es nicht sein kann, daß nur ein blinder Schreck in die Leute gefahren ist, wenn sie auf Pentelikon nichts mehr halten! Denn Sie halten nichts mehr darauf, Herr von Pinkenfeld, nicht so viel« – er schnalzt mit zwei Fingern in der Luft – »nicht so viel, Herr von Pinkenfeld, halten sie mehr auf Pentelikon!«

In einem hilflosen Wimmern erstirbt seine Stimme. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und die Tränen aus den Augen. Und mit dem letzten Atem, der ihm noch geblieben, stößt er stöhnend hervor: »Von einem Wechsler zum andern bin ich gelaufen ... Ausgelacht haben sie mich ... Nicht den Papierwert geben sie für Pentelikon-Aktien!«

Immer kühler, immer größer ist Pinkenfeld inzwischen geworden. Er fühlt, daß ihm Unrecht geschieht, daß er für Dinge zur Rechenschaft gezogen wird, die er nicht verschuldet hat, oder für die wenigstens hundert andere mit demselben Rechte verantwortlich gemacht werden könnten wie gerade er. Ungehalten wirft er sich in die Brust, jetzt ist er ganz mächtig hoch oben.

»Gott, was sind Sie verdreht, Fanedl! Reden daher wie ein Dilettant und nicht wie ein Mann, der sich auskennt in den Geschäften. Wissen Sie nicht, was ein Aktienunternehmen ist? Oder glauben Sie, man kann spekulieren, ohne daß man ein Risiko dabei auf seinen Buckel nimmt? Was gehen mich Ihre Ersparnisse an? Bin ich Pentelikon? Und verliere ich nicht mein Geld so gut wie Sie, wenn Pentelikon notleidend wird? Wie soll ich die Wechselstuben zwingen, Ihre Aktien einzulösen, wenn sie nicht wollen? Hab' ich es in der Hand, die Panik, die plötzlich ausgebrochen ist, zu unterdrücken? Bin ich der Gott Neptun, der den Wellen gebietet? No, sehen Sie! Was überlaufen Sie mich also mitten in der Nacht mit Vorwürfen und Geschrei?«

»Haben Sie Gnade! Haben Sie Erbarmen! Lösen Sie mir meine Aktien ein! Kaufen Sie den kleinen Posten, Sie spüren es kaum! Ich lasse sie Ihnen zum Nominalpreis. Gestern noch waren sie das Dreifache wert. Ich mache das Kreuz darüber, ich will nichts dabei gewinnen. Ich will nur mein bißchen Erspartes nicht verlieren. Haben Sie Mitleid mit meiner armen Tochter! Haben Sie Mitleid mit meinem Alter! Ein Wort von Ihnen, und ich bin gerettet und danke es Ihnen mein Leben lang!«

»Ihre Aktien soll ich einlösen?« braust Pinkenfeld auf. »Sie sind nicht bei Trost, Herr Fanedl, gehen Sie heim und schlafen Sie sich aus!«

So schroff und rauh sollte Pinkenfeld den Ton nicht wählen! Vergißt er, daß er es mit einem Manne zu tun hat, der sich den Ertrag eines ganzen Lebens entgleiten, ihn im Nichts verschwinden sieht? So schroff und rauh sollte Pinkenfeld den Ton nicht wählen. Auch ein Fanedl hat Galle; wehe, wenn sie ihm abermals zu Kopf steigt!

»Ich bin ganz klar und weiß, was ich sage, Herr von Pinkenfeld! Sie sind der Macher von Pentelikon! Sie sind dafür verantwortlich, wenn ich mein gutes Geld daran verliere! Lösen Sie mir die Papiere ein, oder Sie werden mich kennen lernen!«

»Drohen wollen Sie mir? Ich lasse Sie durch meine Diener hinausweisen, wenn Sie sich nicht sofort entfernen!«

Er drückt auf den Klingelknopf. Da schießt in Herrn Fanedls Brust der Löwenzorn wieder ein.

»Geben Sie acht, Herr von Pinkenfeld! Ich schlage Lärm, ich mache Skandal, mir ist jetzt alles gleich! Ich schrei' es durch die Gasse, daß es bis in Ihren Ballsaal hinaufklingt: Der Pinkenfeld ist ein Betrüger! Nehmt euch in acht vor ihm! Er zieht den kleinen Leuten ihre Ersparnisse aus den Taschen, um glänzende Feste zu geben und seiner Tochter einen Freiherrn zu kaufen! Nehmt euch in acht, ihr Leute! Ihr habt es mit einem Wolf im Schafspelz zu tun!«

Mit einem mächtigen Schwung ist der kleine Buchhalter auf einmal wieder ganz oben und Pinkenfeld sinkt wie erschlafft in seinen Armstuhl zusammen. Es pocht an die Tür, ein livrierter Diener fragt, was der Herr befehle?

»Es ist nichts ... Sagen Sie der gnädigen Frau, daß ich mich sofort wieder einfinden werde.«

Aus dem oberen Stockwerk dringen gedämpfte Geigenklänge in das kleine Kontor, in dem die beiden Männer einander gegenübersitzen. Die mit Stuckornamenten verzierte Decke zittert unter dem Taktschritt der fröhlichen Paare, die oben über das Parkett schleifen, und der reich vergoldete Kronleuchter über dem Tische begleitet den Rhythmus des Tanzes mit leise klirrenden Stößen.

Pinkenfeld hatte sein Taschentuch gezogen und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich will nicht gehört haben, was Sie sagen, meine Ohren sind taub. Ich weiß, es ist nicht Herr Fanedl, der so zu einem alten Freunde spricht, um ihn zu kränken und zu beleidigen. Es ist bloß die Panik, die mit der Zunge des Herrn Fanedl spricht. Und ich bin bereit, Rede und Antwort zu stehen. Aber nicht heute, nicht jetzt. Hier bin ich Privatmann. Meine Tochter feiert ihr Verlobungsfest. Kommen Sie morgen ins Geschäft. Wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Wir werden uns verstehen, wir werden uns arrangieren!«

Aber der reißende Löwe kennt kein Einhalten mehr. Wer kann wissen, was bis morgen früh geschieht? Vielleicht ist Herr von Pinkenfeld morgen früh gar nicht mehr da und sucht mit dem Schnellzug das Weite? Die Welt stürzt ein, wer noch etwas retten will, der kann nicht bis morgen früh warten!

»Geben Sie mir mein Geld heraus!«

Das ist alles, was Herr Fanedl noch zu sagen weiß. Er ist aufgesprungen, er schlägt mit der geballten Faust gegen die große eiserne Kasse. Er schreit aus vollem Halse, immer dasselbe: »Mein Geld will ich haben, geben Sie mir mein Geld!« Er überschreit sogar die Klänge der Musik. Abermals wird die Tür geöffnet, scheu und vorsichtig lugt der Diener herein, ob er seinem Herrn vielleicht beispringen soll, gegen diesen Rasenden? Aber Pinkenfeld winkt ihm bloß mit der Hand, sich zu entfernen. Seine Kräfte sind erschöpft. Niedergerungen liegt er am Boden, hilflos, wie geknebelt.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Fanedl. Sie haben Ihren Zweck erreicht. Ich fürchte mich vor Ihnen. Nicht als ob Sie im Recht wären! Aber weil Sie in diesem Augenblick der Stärkere sind. Sie brauchen nur hinauszugehen und auszuschreien, ich sei ein Gauner, der Sohn oder Enkel eines polnischen Juden, der auch ein Gauner gewesen – so finden Sie Leute, die es Ihnen glauben. Es ist erlogen, kein wahres Wort ist daran, ich bin immer ehrlich und gewissenhaft gewesen, und schon mein Urgroßvater war ein ehrlicher Handelsmann hier auf dem Schottenfeld. Was nützt es mich? Vielleicht beliebt es Ihnen, das Gegenteil zu behaupten, und weil eine wirtschaftliche Krisis in der Luft liegt, werden sich sofort Hunderte und Taufende finden, die Ihnen blindlings Glauben schenken. Es ist eine alte Geschichte: Wenn es schief geht mit den Geschäften, wer ist schuld daran? Die Juden! Darin liegt die Stärke Ihrer Position, Herr Fanedl. Sie haben mich untergekriegt, seien Sie stolz darauf, wenn Sie können. Ich übernehme Ihre Pentelikonaktien zum Nominalwert.«

Er stand auf, rasselte an der eisernen Kasse mit den Schlüsseln und legte ein Bündel brauner Prioritäten auf den Tisch.

»Die sind Ihnen doch gut? Oder verlangen Sie noch mehr als Dupillarsicherheit?«

Er ergriff einen Bleistift, zählte und rechnete, blickte ins Kursblatt, addierte halbfällige Kupons, und als es nicht langte, holte er noch ein Päckchen funkelneuer Banknoten aus dem Bauch der Kasse hervor und legte es dazu. Hastig summierte er die Zahlen, es langte noch immer nicht; er schnappte nach Atem, holte ein hölzernes Schüsselchen aus der Kasse heraus, in dem sich blanke Silbergulden und auch ein paar Dukaten befanden, und begann abermals zu zählen und zusammenzurechnen. Es fehlte noch immer etwas, es war noch immer nicht genug. Er suchte in der Kasse und fand nichts mehr. Da zog er schließlich seine Geldbörse aus der Tasche und zählte die letzten Gulden und Kreuzer, die er bei sich trug, auf den Tisch. Nun stimmte es endlich auf den Heller.

Mit zitternden Händen packte Fanedl ein. Er war versöhnt und sogar ein wenig beschämt. Sein Lebtag hatte er so etwas nicht getan. Es lag ganz und gar nicht in seiner Art, einem Mitmenschen das Messer in der Weise an die Kehle zu setzen. Er mußte in der Tat halb verrückt gewesen sein. Mit wackliger Stimme bat er Herrn von Pinkenfeld, ihm nichts nachzutragen. In der Hitze springe einem manchmal ein Wort über die Lippen, das man nicht verantworten könne. Aber schlimm gemeint wär' es sicher nicht gewesen, und wer ein Ehrenmann sei und wer nicht, das hätt' er immer zu unterscheiden gewußt ...

»Gehen Sie nur! Gehen Sie nur!« winkte Pinkenfeld.

Erschüttert durch die eben erlebte Szene, gedemütigt vor diesem kleinen Buchhalter, entnervt, mit Sorgen beladen und angewidert vom Leben, hat der sonst so selbstsichere Mann alle Spannkraft verloren. Wie er kreidebleich und gleichsam verfallen in seinem Armstuhl sitzt, hängt bloß alles an ihm herunter, so willenlos und schlapp, als sei der ganze Mensch nichts anderes als der Schwanz eines verprügelten Hundes.

Die Tür wird aufgerissen.

»Papa, wo bleibst du? Es geht zum Souper! Du sollst Frau von Wegrad führen!«

»Ich komme, mein Kind, ich komme!«

Während sie Seite an Seite die Treppe hinaufsteigen, schiebt Natalie zärtlich ihren Arm in den des Vaters, der wie ein Gebrochener wankt und von ihr gestützt werden muß.

»Sogar heute, sogar mitten in der Nacht geben sie dir keinen Frieden, armer Papa! Warum hast du den lästigen Menschen nicht hinausweisen lassen?«

»Geschäft geht vor Vergnügen, mein Kind, ich hab' es immer so gehalten. Und trotzdem bleiben die Sorgen nicht aus ... Es ist nicht leicht heutzutage, das kannst du mir glauben!«

»Tag und Nacht plagst du dich und sorgst du dich, guter Papa! Und alles bloß, damit wir es recht schön und glänzend haben sollen!«

Er bleibt stehen und lächelt beglückt.

»Dafür habt ihr aber euren alten Vater auch ein bißchen lieb?«

Da fällt Natti ihm um den Hals und drückt ihn und küßt ihn, daß er im siebenten Himmel zu sein glaubt.

*


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