Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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In Nedweditz gährte es seit geraumer Zeit, innerhalb der Mauern der Stadt und außerhalb derselben, wo die Fabriken lagen. Die Ursachen der Aufregung waren nicht die gleichen in der Bürgerschaft und unter den Arbeitern, bei beiden aber hingen sie mit Maßnahmen der neuen Regierung zusammen, an deren Spitze ein Pole stand.

Die Bürger, von denen einige offen und viele wenigstens insgeheim Deutsche geblieben waren, wurden von der allgemeinen Bewegung mitgerissen, die damals durch ganz Deutsch-Österreich ging, und die sich gegen die Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren richtete, durch die das Ministerium die Stimmen der Tschechen gekauft hatte. Die an sich ganz einleuchtende Bestimmung, daß alle Beamte beider Länder imstande sein sollten, in beiden Landessprachen zu amtieren, wurde zum Gegenstand politischer Entrüstung, weil sie, wie die Verhältnisse nun einmal lagen, eine Verdrängung der Deutschen aus den Ämtern bedeutete. Am meisten aber schürte die Erregung der Umstand, daß eine so ausgiebige Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den beiden Nationen nicht durch ein Gesetz bewirkt worden war, sondern durch eine Verordnung, die den Charakter eines einseitigen Zugeständnisses trug. Die Obstruktion, durch die die Deutschen im Wiener Reichsrat der Regierung Schwierigkeiten bereiteten, fand ungeahnten Widerhall in allen deutsch-österreichischen Städten, und als man sie durch Gewalt niederzuwerfen versuchte, die widerspenstigen Abgeordneten durch Polizeimänner aus dem marmorgeschmückten Sitzungssaal am Franzensring schleppen und in allen Provinzorten, wo es gärte, Militär aufziehen ließ, da brauste ein solcher Sturm der Empörung durch die deutschen Lande, daß die mißliebige Regierung über Nacht in den Abgrund gefegt wurde, aus dem es keine Wiederkehr gibt.

Herr Kilian, der Bürgermeister von Nedweditz, ließ den Tag darauf eine schwarz-rot-goldene Fahne am Gemeindehaus hissen, um seiner Genugtuung über den Sturz des Ministeriums und seiner plötzlich erwachten Gesinnung Ausdruck zu geben. Es war ihm klar geworden, daß die Deutschen in Österreich sich zwar in der Minderheit befinden, wenn man sie mit allen andern Nationen zusammengenommen vergleicht, daß sie jedoch über jede einzelne von diesen ein Übergewicht auch der Zahl nach, nicht bloß in geistiger und wirtschaftlicher Hinsicht besitzen. Und vor nichts hatte Herr Kilian größeren Respekt als vor der Mehrheit.

»Wir brauchen uns nicht an die Wand drücken zu lassen,« sagte er, gab dem Gemeindediener den Befehl, den Schildermaler herüberzuholen, und bestellte bei diesem ein neues Aushängeschild mit der Aufschrift: Franz Kilian, bürgerlicher Bäckermeister, und einer schönen, knusperigen Brezel darüber.

Moini Mairold, der zufällig an diesem Tage auf dem Gemeindeamt zu tun hatte, sah die schwarz-rot-goldene Fahne vom Rathaus wehen und sagte zu Herrn Kilian: »Schielen Sie denn über die Grenze?«

»Um Gotteswillen!« rief der Bürgermeister erschrocken. »Was fällt Ihnen denn ein? Aber wir sind doch Deutsche, Sie so gut wie ich!«

»Ich habe mich stets bloß als Österreicher gefühlt,« sagte Moini. »In diesen Tagen erst hab' ich entdeckt, daß ich auch ein Deutscher bin; denn das Kesseltreiben gegen unser Volk geht mir schon bald selbst über die Hutschnur. Aber ich bin Deutsch-Österreicher, merken Sie, kein Deutscher aus dem Reich, und das ist ganz etwas anderes! Auch zu unseren alldeutschen Radaubrüdern lasse ich mich nicht zählen, von schwarz-rot-gold mag ich nichts wissen, und wenn ich Ihnen raten darf, so lassen Sie den Humbug von achtundvierzig und ziehen Sie das schwarz-gelbe Banner auf. Unter diesen Farben wollen wir ein jeder sein und bleiben, was wir waren!«

»Sie haben recht!« sagte Herr Kilian. »Ich, als Ritter des Franz-Joseph-Ordens, hätte es ohnedies nicht getan; aber ein Bürgermeister fühlt sich halt immer verpflichtet, auch der Stimmung in der Bevölkerung ein bissel Rechnung zu tragen.«

Wenige Minuten später wehte die schwarz-gelbe Flagge vom Gemeindehaus, aber nicht lange. Denn der tschechische Mob, der sich bereits angesammelt hatte, das alldeutsche Banner herunterzureißen, riß nun auch das kaiserliche herunter und zog die slawische Trikolore dafür auf.

Als Moini aus dem Tor trat und die schwarz-gelbe Fahne zerfetzt im Staube liegen, die slawischen Farben aber vom Dach des Rathauses flattern sah, wurde er zornig, kehrte in die Amtsstube des Bürgermeisters zurück und fragte: »Lassen Sie sich so etwas gefallen?«

»Was wollen Sie?« jammerte Herr Kilian, die Schultern bis zu den Ohren emporhebend; »hier in Nedweditz sind halt die Deutschen doch in der Minderzahl!«

»Und die Österreicher auch, wie es scheint!« sagte Moini empört. »Gut, daß ich es weiß! So will ich wenigstens, soweit es an mir liegt, dazu beitragen, daß in Zukunft so etwas nicht mehr vorkommen kann. Ich werde dafür zu sorgen wissen, daß die Deutschen in Nedweditz wieder das Übergewicht gewinnen und das schwarz-gelbe Banner nicht mehr in den Staub gezerrt wird!«

Er ging heim und sagte zu Baudrillard: »Wie viele Arbeiter beschäftigen wir gegenwärtig?«

Baudrillard schlug ein Buch auf und zählte zusammen.

»Genau neunhundertsechsunddreißig,« sagte er.

»Es sind fast lauter Tschechen,« sagte Moini. »Eine Fabriksleitung muß zuerst auf die Verwendbarkeit der Leute schauen und kann nicht bei einem jeden Herz und Nieren prüfen. Von jetzt an aber, so oft ein Wechsel stattfindet, sehen Sie darauf, daß womöglich Deutsche aufgenommen werden – gleiche Brauchbarkeit mit den andern Bewerbern natürlich vorausgesetzt.«

»Diese Voraussetzung trifft ohnedies fast immer zu,« sagte Baudrillard. »Mir war es schon lang nicht recht, daß man sich mit den Leuten oft kaum verständigen kann. Aber Sie haben es ja so gewünscht.«

»Weil ich ein Beispiel völliger Unparteilichkeit geben wollte,« sagte Moini.

»Deswegen haben Sie für die andern Partei ergriffen?« spottete Baudrillard.

»Wir haben im ganzen doch recht billige Arbeitskräfte.«

»Lassen Sie mir nur freie Hand, so werden Sie bald dahinter kommen, daß das Sparen am unrechten Ort mehr ein Verschwenden war.«

»Gut, ich lasse Ihnen freie Hand. Die Verhältnisse in Nedweditz fangen an mir widerlich zu werden. Wollen wir uns durch diese Hussiten nicht in unseren heiligsten Gefühlen verletzen lassen, so müssen wir dafür sorgen, das deutsche Element in der Stadt zu stärken ...«

Er hielt inne und überlegte. Er dachte an den guten Großvater, der längst dahin gegangen war, wo es keinen Kampf und Streit mehr gibt. Und er dachte an jenes Wort, das Ludger damals ausgesprochen, auf dem Familientage bei Herrn Bornschbögel. Er wußte, daß es von dem trefflichen alten Herrn geprägt war, diesem schlichten, einfachen, braven Manne, der so oft mit seinem Hausverstand das Richtige traf, weil er das Herz auf dem rechten Fleck gehabt hatte.

Und nach all den politischen Wirren der letzten Zeit, nach allen Ärgernissen, die er noch diesen Morgen in Nedweditz erfahren, ging ihm plötzlich der Sinn jenes Wortes auf, das er bis dahin kaum beachtet, vielleicht belächelt, jedenfalls nicht voll erfaßt und verstanden hatte.

»Ich will doch sehen,« sagte er, »ob der Wind nicht aus einem andern Loch bläst, wenn wir einmal statt neunhundert Tschechen neunhundert deutsche Arbeiter in der Fabrik beschäftigen ... Der gute Großvater hat recht gehabt, wenn er zu Doll sagte: Wir alle stehen auf der Wegwacht!«

Baudrillard stutzte, aber er begriff schnell, wie es gemeint sei.

»Spät genug kommen Sie darauf!« sagte er so knurrig und ungeniert, als er immer gewohnt gewesen war, früher mit Frau Theresen und später mit Moini zu reden. »Die Schwerfälligkeit haben die Deutsch-Österreicher halt doch mit den andern Deutschen gemein. Und wie ihnen das Nächste und Natürlichste immer zuletzt einfällt, so haben sie es erst mühsam lernen müssen, daß der Mensch eine Muttersprache hat und zu einem bestimmten Volk gehört. Dabei redet man noch von deutscher Treue! Einen Franzosen, der erst nach und nach darauf käme, daß er ein Franzose ist, den können Sie mit der Laterne suchen, finden werden Sie ihn nicht! Gottlob! Nirgends! Erledigt!«

Es ist gut, daß der neue Entschluß Moinis die volle Zustimmung Baudrillards gefunden hat, er wird dafür sorgen, daß er auch durchgeführt wird. Denn Baudrillard ist noch immer eine gewichtige Persönlichkeit in Nedweditz; er redet zwar immer davon, daß er in Pension gehen wird, tut es aber doch nicht, die gewohnte Tätigkeit ist ihm zu eng ans Herz gewachsen, als daß er sich davon trennen könnte. Jetzt geht er sogar mit gesteigerter Freude ans Werk, er hat es in der Hand, einen Zustand, der ihm widersinnig und unnatürlich schien, allmählich zu beseitigen, und verhofft sich überdies davon einen Vorteil für die gesamte Fabrikation. Fraglich aber bleibt es, ob Moini sich nicht täuscht, wenn er mit seinem Entschlusse zum Schutz der schwarz-gelben Flagge beizutragen glaubt. Hat denn die Arbeiterschaft mit dem Hissen der slawischen Trikolore auf dem Rathaus von Nedweditz überhaupt etwas zu tun gehabt? Wird nicht vielmehr die eingesessene städtische Bevölkerung ganz allein dafür verantwortlich zu machen sein? Die Kleinbürger und deren Anhang mögen sich wohl um zwei- oder dreifarbiges Fahnentuch erhitzen – aber die Arbeiter? Sind denen die österreichischen Farben nicht ebenso gleichgültig wie die alldeutschen oder slawischen? Schwingen sie denn nicht, welcher Nation immer sie angehören mögen, das hochrote Banner der Sozialdemokratie?

Die Erregung, die auch in der Arbeiterschaft bis zur Siedehitze gestiegen ist, hat wieder ganz andere Ursachen wie die Gärungen unter jenen Ständen, die sich den Gefühlsluxus eines gesteigerten Volksbewußtseins gestatten können.

Der gewaltige Xaver Wegrad ging in Nedweditz um. Die polnische Regierung hatte aufs Geratewohl eine Wahlreform durchgesetzt, die der bisherigen Interessenvertretung eine fünfte Kurie für die Arbeiter angliederte. Siebzig Mandate sollten ihnen zufallen! Aber hatte man sie nicht an der Nase herumgeführt? Kaum mehr als ein Dutzend Sozialdemokraten waren wirklich gewählt worden! Und nun mußten sich diese an der Seite der Deutschen noch um die primitivsten parlamentarischen Rechte raufen! Auch Dr. Lois Birenz, ein Nedweditzer Kind, der im Frühjahr zum ersten Male in den Reichsrat gewählt worden war, befand sich unter den Abgeordneten, die von Polizeileuten wie Holzklötze aus dem Sitzungssaale hinausgetragen worden waren. Das machte böses Blut in Nedweditz; der Zündstoff lag berghoch gehäuft, bloß ein Funken genügte, ihn in Brand zu setzen.

Es gehören ohnedies die meisten Arbeiter der Gewerkschaftsorganisation bereits an, aber der gewaltige Xaver Wegrad findet, daß es noch immer nicht genug waren. Raketensatz müßten die Leute in den Leib bekommen!

Er hält Versammlungen ab, zu denen die Arbeiter fabriksweise eingeladen werden. Er läßt Vertrauensmänner darin wählen, aus denen er einen Lokalausschuß zusammensetzt, der in die Bezirksorganisation eingegliedert wird. Durch unzählige Konferenzen und Massenversammlungen hält er die Arbeiterschaft in Atem. Er begründet eine Zeitung, die aufreizende Notizen aus den einzelnen Fabriken, Berichte über Ausstände und Schilderungen des üppigen Lebens der Fabriksherren bringt. In langen Listen werden die Namen aller Streikbrecher in anderen Industriebezirken an den Pranger gestellt. Und die Leitartikel, die halb mit Galle, halb mit Berliner Blau geschrieben sind, schildern die überwältigende Macht und Größe der sozialistischen Partei, hinter der schützend und schirmend eine ganze Welt und eine ganze Zukunft steht.

Das Blatt kam in deutscher Sprache heraus, aber nun verstanden auf einmal auch die tschechischen Arbeiter deutsch, alle lasen es, im Nu erreichte es eine ungeheure Auflage und war jedenfalls ein weit einträglicheres Geschäft als das Nedweditzer Lokalblättchen es je gewesen.

Die Fabriken werden in diesem vornehmen Organ nicht anders als Lebensverkürzungsanstalten oder Knochenmühlen genannt, die Werkmeister heißen Sklavenaufseher mit der Peitsche in der Hand, die Fabriksbesitzer, auch wenn sie knapp auf ihre Rechnung kommen, sind durchweg hartgesottene Millionäre, denen es ein diebisches Vergnügen bereitet, die Arbeiter auszuhungern oder ihnen wie einem Hunde, den man quälen will, den kargen Bissen immer höher und höher in die Luft zu halten.

Der gewaltige Xaver Wegrad hatte seine Leute bald in der Hand. Er drückte die Augen zu und ließ die Flügel seines schneeweiß gewordenen Bartes durch die Finger gleiten. Er wußte, daß er der Herr aller Fabriksherren von Nedweditz war. Ein Zucken seiner Wimpern, und es gab Arbeiterdeputationen an die Fabriksleitungen mit Forderungen und Drohungen. Schon hatte eine Spinnerei Lohnerhöhung bewilligen und eine Seidenbandfabrik den ersten Mai als Feiertag anerkennen müssen. Die Nedweditzer Bierbrauerei sah sich genötigt, die Arbeitszeit herabzusetzen, Moini mußte knirschend das feierliche Versprechen ablegen, daß an jedem Kraftstuhl fortan ein eigener Arbeiter stehen würde. Die Parteileitung erlaubte es ihm nicht länger, zwei Stühle durch einen Mann bedienen zu lassen, wie es bisher geschehen war, es sollte recht viele Proletarier geben und keiner so viel verdienen, daß er sich am Ende zu den Zufriedenen gesellte.

Aber vorderhand spielt sich der gewaltige Xaver Wegrad bloß. Er reckt gleichsam seine Arme, wie um seine Kraft zu erproben. Wenn die Menschenwucherer von Nedweditz schon unter Nadelstichen zusammenzucken und klein beigeben, warum sollte man es nicht gelegentlich auch einmal mit einem Keulenschlag versuchen?

Wie ein Damoklesschwert hängt die Tyrannis über den Nedweditzer Industrieunternehmungen.

»So kommt man herunter,« sagte der muntere Mündel; »früher bin ich zweispännig gefahren, jetzt muß es halt einspännig auch gehen. No – mir macht es nichts, mich kutschieren sie eh' bald auf die Sommerfrischen hinaus, wo ein jeder sein eigenes Rabattl hat, auf dem unser Herrgott schöne Blumen wachsen läßt. Dann fahr' ich eh' wieder zweispännig, denn die Toten geben es nobel. Nur um meinen braven Ackergaul ist mir, der macht gar so ein tristes G'fries, seit er in andere Hände gekommen ist.«

Die wärmere Jahreszeit war wiedergekehrt, da geschah es, daß die Zuckerraffinerie der Firma Nehuda bei Nedweditz einen Arbeiter wegen Unbotmäßigkeit entließ, der als Sprecher und Aufwiegler eine gewisse Rolle in der Organisation spielte. Eine Arbeiterdeputation erschien bei der Fabriksleitung und forderte die Wiederaufnahme des Entlassenen. Herr Nehuda, Maras Vater, hatte die Kühnheit, das Verlangen rundweg abzuweisen. Die Arbeiter der Raffinerie traten in Ausstand, ohne die gesetzliche Kündigungsfrist einzuhalten, worauf Herr Nehuda mit der Aussperrung sämtlicher Arbeiter antwortete und ihnen die Wohnungen kündigte. Als aber die Arbeiterfamilien sich weigerten, dir Wohnungen zu verlassen, wendete Herr Nehuda sich an die Behörde und ersuchte sie, die Arbeiterhäuser, die widerrechtlich bewohnt würden, zwangsweise räumen zu lassen.

Noch ehe die Behörde, die lieber vermittelt als eingegriffen hätte, ernstlich Miene machte, ihrer Pflicht nachzukommen, drückte der gewaltige Xaver Wegrad beide Augen zu und ließ die Spitzen seines Bartes durch die Hände gleiten. Da legten die Arbeiter sämtlicher Fabriken, die es um Nedweditz gab, wie auf Kommando die Arbeit nieder und erklärten sich durch Abordnungen, die sie an ihre Fabriksleiter sandten, mit den Arbeitern der Zuckerraffinerie solidarisch. Zugleich ließen sie bekanntgeben, daß sie am nächsten Tage die Arbeit zur gewöhnlichen Stunde wieder aufnehmen würden.

Es handelte sich also bloß um eine Demonstration. Der gewaltige Xaver Wegrad hatte drohend den Finger erhoben: Gebt acht, ihr Blutsauger! Wenn es wirklich zur Räumung der Arbeiterwohnungen kommen sollte, so geschieht etwas!

Alle Fabriksherren von Nedweditz, einer wie der andere, waren über die willkürliche und ungesetzliche Arbeitseinstellung empört. Alle empfanden sie das Bedürfnis eines gemeinsamen Vorgehens gegenüber der gleichfalls gemeinsam vorgehenden Arbeiterschaft. Darum folgten sie ausnahmslos der Einladung zu einer Besprechung, die Herr Nehuda an sie ergehen ließ.

Moini hat seinen Schwiegervater nicht wiedergesehen, seit Mara ihn verließ. Er betritt das Haus nicht ohne Befangenheit. Er weiß, daß Mara unter diesem Dache wohnt, er liebt sie noch immer mit dieser strengen und unwirschen Liebe, die seiner Natur eigen ist, und die sie nicht hat verstehen können. Er weiß, daß sie sich völlig von der Welt zurückgezogen hat. Sie reitet nicht mehr aus, selten überschreitet sie die Grenzen des großen Gartens, der die Fabrik umgibt. Den Umgang mit den Offizieren hat sie jäh abgebrochen, seit sie das Haus ihres Vaters betreten. Sie geht nicht mehr in Gesellschaft. Sie ist wie verschollen. Und auch Moini kommt ja so selten von seiner Arbeit weg, aus seiner Fabrik heraus. Er hat sie nicht ein einziges Mal wiedergesehen seit jenem unglückseligen Tage, da er nicht so viel Geduld für sie übrig hatte, auch nur eine Minute zu warten, damit sie an der Wagenfahrt hätte teilnehmen können.

Die Ehe war nicht gerichtlich geschieden worden, es war nur eine freiwillige Trennung im gegenseitigen Einvernehmen der Gatten. Man hatte sich dahin geeinigt, daß Christian, der Knabe, ihm und das Mädchen, das nach der Großmutter Therese hieß, ihr gehören sollte. Aber was hat er von seinem Sohne, der schon hoch herangewachsen ist? Er sieht ihn selten, er hat ihn hergeben müssen, die Studien fordern es. Es ist ein einsames Leben, das er führt. Er kommt sich oft wie verlassen vor von aller Welt, so sehr ist er vereinsamt ...

Herr Nehuda, sein Schwiegervater, empfing ihn mit gemessener Höflichkeit. Er benahm sich ihm gegenüber genau so wie gegen die andern Fabriksherren, mit denen er durch keine verwandtschaftlichen Bande verknüpft war. Es handelte sich ja auch nur um eine rein sachliche Besprechung gemeinsamer Interessen. Und da alle gleich betroffen und gleich entrüstet waren, so hielt es nicht schwer, eine Einigung zu erzielen. Sie blieben nicht länger Herr im eigenen Hause, wenn sie den allgemeinen Ausstand ruhig hinnahmen. Und sie beschlossen einmütig, sämtliche Fabriken von Nedweditz zu sperren, bis durch das Eingreifen der Behörden der ungestörte Fortgang der Arbeit wieder möglich geworden wäre.

Den andern Tag verkünden Maueranschläge an den Fabriken, daß alle Arbeiter ausnahmslos entlassen sind. Der Krieg ist erklärt, der allgemeine Ausstand mit einer allgemeinen Aussperrung beantwortet.

Als Moini das Haus seines Schwiegervaters verließ, begegnete er auf dem Flur einem fast erwachsenen jungen Mädchen.

Was war das für ein eines, liebreizendes Geschöpf! Was steht er wie festgebannt ihr gegenüber und kann den Blick nicht von ihr wenden? Ist es nicht Mara Nehuda in ihrer ersten Jugendblüte, da er sie liebte, wie er niemand sonst geliebt in seinem ganzen Leben? Und liebt sie ihn nicht wieder mit der ganzen Glut eines jungen Herzens? Fliegt sie nicht an seinen Hals und bedeckt seine Wangen mit Küssen? Schlingt sie nicht bebend die Arme um ihn, als ob sie ihn festhalten wollte? Stürzen ihr nicht Tränen aus den Augen, weil sie weiß, daß sie ihn wieder verlieren muß?

O heiße Stimme des Blutes, schrei' es hinein in die verdorrten Herzen der Eltern, daß nur die Liebe Leben ist, rufe sie wach zum neuen Tag, versöhne, beglücke, erlöse! Scheuche den Bann von den verstockten Gemütern und die falsche Scham aus den allzu stolzen Seelen, die sich zu sehr im Recht dünken, als daß sie das erste Wort sprechen könnten!

»Therese!« scholl ein Ruf über den Gang.

Ja, das ist Maras Stimme! Und ein einsamer Mann steigt die Treppe hinab, freudlos, verlassen, wie er es seit Jahren gewesen.

Es war ein Kampf bis aufs Messer, der sich in Nedweditz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entsponnen hatte. Mehr als viertausend Arbeiter waren ausgesperrt. Man randalierte nicht und zündete keine Fabriken an – das sind Requisiten aus abgelebter Zeit. Es gab nur Verhandlungen auf Einladung der Behörden, Vermittlungsversuche des Gewerbeinspektors, Starrköpfigkeit in parlamentarischer Form auf beiden Seiten. Herr Nehuda und Moini sind die Delegierten der Unternehmer, der gewaltige Xaver Wegrad und der Weber Kernbeiß die Vertrauensmänner der Parteileitung und des Streikkomitees. Aber sie können nicht zueinander kommen, das Wasser ist allzu tief. Und so oft es aussieht, als ob es doch möglich sein könnte, einen Steg zu zimmern, drückt der gewaltige Xaver Wegrad die Augen zu und läßt die Flügel seines Bartes durch die Hände gleiten. Da prasselt das mühsame Bauwerk zusammen, und die Fluter schwemmen seine Trümmer hinweg ...

Die Arbeiter haben einen Überwachungsdienst eingerichtet, den Zuzug Arbeitswilliger hintanzuhalten. Alle Arbeiterzeitungen der Monarchie verkünden die über Nedweditz verhängte Sperre. Kein klassenbewußter Arbeiter wird in Nedweditz einstehen!

»Schau, schau,« sagte der muntere Mundel; »wenn einer alt genug wird, so erlebt er halt doch so ziemlich alles, was es auf der Welt überhaupt zu erleben gibt. Jetzt hab' ich gar einen vierwöchentlichen Urlaub bekommen wie ein wirklicher Hofrat; vielleicht dauert er auch sechs Wochen oder noch länger. Fehlt nur noch, daß sie mich mit vollem Gehalt pensionieren.«

»Aber es schlagt mir nicht gut an,« fügte er mißmutig hinzu. »Das Nichtstun ist eine vermaledeite Faulenzerei! Es fallt mir auch rein gar nichts mehr ein dabei; wenn ich nicht arbeiten tu', so kann ich mir auch nichts denken. Und wenn ich mir nichts denken tu', so ist es, als ob ich mich den ganzen Tag nicht schneuzen dürft'. Am liebsten tät' ich auf meinen Urlaub verzichten. Aber was kann ich machen? Die Streikposten um die Fabrik herum sind stärker als ich; und wenn ich auch hineinkäm' – mein Nüsserl hat ja doch keinen Odem nicht, wenn sogar dem großen Rauchfang der Odem ausgegangen ist.«

Je länger die Aussperrung dauert, um so schwüler wird es dem gewaltigen Xaver Wegrad. Die Unternehmer scheinen diesmal verdammt entschlossen und einig, was sonst ihre Sache nicht ist. Was nützt es, wenn jeder Tag sie hunderttausend Kronen oder mehr kostet? Kostet dafür nicht auch die Arbeiter jeder Tag zehn- bis fünfzehntausend?

»Jetzt seht ihr, wie sie euch ausgebeutet haben!« ruft er in die Massenversammlungen hinein. »Millionen haben sie schon eingebrockt und sind noch immer nicht mürbe. Noch haben sie es und können es tun, euer Schweiß hat ihnen die eisernen Kassen gefüllt, eure Einigkeit und eure Ausdauer wird sie binnen kurzem geleert haben. Harret aus und wanket nicht, so ist der Sieg unser!«

Unter den Proletariern und ihren Weibern aber erhebt sich ein Gemurre, halb in deutscher, halb in tschechischer Sprache: »Wir hungern, wir hungern, wir hungern!«

Die Zuschüsse aus der Parteikasse beginnen spärlicher zu fließen, die Kleinbürger und Bauern, die mit der Arbeiterschaft sympathisieren und ihnen Lebensmittel gespendet oder Kredit gewährt haben, erlahmen allmählich.

»Wir haben auch nichts übrig,« sagen sie. »Wir müssen es uns auch schwer verdienen. Schließlich kann keiner mit dem Kopf durch die Wand, und ein jeder muß sich nach der Decke strecken.«

Da drückt der gewaltige Xaver Wegrad beide Augen zu und zerrt mit nervösen Fingern an seinem langen Bart.

Den nächsten Tag bieten Abordnungen der Arbeiterschaft den Unternehmern den Frieden an. Aber ganz fruchtlos kann dieses Darben doch nicht gewesen sein. Darum stellen sie Bedingungen. Sie verlangen den zehnstündigen Arbeitstag, zwanzig Prozent Lohnerhöhung und zum Aufputz, damit niemand sagen soll, sie hätten den kürzeren gezogen, auch noch die allgemeine Freigabe des ersten Mai sowie die Wiederaufnahme aller Genossen ohne Unterschied der Person.

Abermals fand Moini sich bei Herrn Nehuda ein. Er war der erste, der erschien. Vergebens blickte er auf dem Korridor nach dem liebreizenden jungen Mädchen aus, das seine Tochter war, ohne daß er sie kannte. Er bekam sie nicht zu sehen und empfand eine Enttäuschung wie ein Liebhaber, dem ein erhofftes Stelldichein fehlschlägt.

Verstimmt saßen die beiden Männer einander gegenüber.

»Was kommt schließlich heraus?« sagte Herr Nehuda. »Unzählige Familien sind an den Bettelstab gebracht, und wir verlieren jeder ein kleines Vermögen – oder auch ein großes. Unglück auf beiden Seiten!«

Schweigend stimmte Moini zu.

»Es wäre immer besser, sich zu vertragen,« sagte Herr Nehuda nach einer Weile. »Wieviel weniger Kummer hätte es gegeben, wenn Sie, Herr Schwiegersohn, sich mit Mara vertragen hätten.«

»Sie hat mich verlassen, nicht ich sie.«

»Ich weiß es. Haben Sie ihr eigentlich etwas Ernsthaftes vorzuwerfen?«

»Nein,« sagte Moini.

»Sie Ihnen auch nicht,« sagte Herr Nehuda. »Ist es dann nicht der reine Wahnsinn? Ich bedaure nur meine armen Enkelkinder, besonders Therese, die hat eine wahre Sehnsucht nach Ihnen!«

Sie wurden unterbrochen, weil andere Herren sich einfanden. Als sie alle beisammen waren, kamen sie sich stark vor. Bloß Herr Nehuda mahnte zur Versöhnlichkeit. Aber er drang nicht durch. Nein, es konnte keine Rede sein von Versöhnung! Die Tyrannei mußte gebrochen werden. Wenn sie die Bedingungen der Arbeiter annahmen, so war es doch ein Rückzug. Und ihre Antwort lautete, die Arbeiter seien nicht berechtigt, Forderungen zu stellen, weil sie entlassen wären.

Zweifellos sind sie nach Gesetz und Ordnung berechtigt, vorzugehen, wie sie es tun. Zweifellos sind sie dazu berechtigt, die Arbeiterwohnungen behördlich räumen zu lassen und zahllose Familien auf die Straße zu setzen. Sie sind berechtigt, Zugeständnisse zu verweigern, unzählige Arbeiter an den Bettelstab zu bringen, sie ins Elend zu stoßen oder zum Verbrechen zu treiben, sie sind berechtigt, ruhig abzuwarten, bis die geringen Sparpfennige der Leute aufgezehrt sind und der Hunger stärker wird als Stolz und Parteigeist. Aber ist es wirklich nötig, jedes Recht auszunützen bis zum letzten Buchstaben? Täten sie nicht besser, mildere Saiten aufzuziehen und auch der Stimme der Menschlichkeit ein Ohr zu leihen? O, sie täten es gern, wenigstens einige von ihnen, Herr Nehuda ganz gewiß und auch Moini, wenn es ohne Beugung des Nackens geschehen könnte. Aber sie können es nicht, sie sehen sich gezwungen, ihr Recht auszunützen; es ist eine bare Unmöglichkeit, anders zu handeln. Jede Güte würde nur als Schwäche gedeutet, jede Nachgiebigkeit würde die Organisation stärken. Und wenn sie sich diese Gewaltherrschaft über den Kopf wachsen ließen, so wäre jede Möglichkeit, ein Fabriksunternehmen zu führen, überhaupt vernichtet, niemand könnte es mehr wagen, ein Geschäft anzufangen, wenn mutwillige Agitatoren mehr dabei mitzusprechen hätten als er selbst.

Es blieb nichts anderes übrig, als den Kampf zu Ende zu kämpfen, selbst wo er grausam wird. Herr Nehuda hätte schon aus nationalen Gründen gern gewisse Vermittlungsvorschläge angenommen, aber auch er war machtlos gegenüber den Tatsachen.

»Ich beschäftige ausschließlich Tschechen in meiner Fabrik,« sagte er zu Moini. »So lohnen sie es mir! Aber ich kann mich doch auch in sie hineindenken. Die Nationalität muß schließlich Privatsache werden. Wir brauchen gesündere und fruchtbarere Kämpfe als nationale. Nur soll der Kampf freilich nicht mit so niedrigen Mitteln geführt werden und sein Ziel nicht die Vergewaltigung sein, wie die Organisation sie anstrebt.«

Sechs Wochen dauerte der Krieg. Dann entstand Uneinigkeit im feindlichen Lager. In einer stürmischen Arbeiterversammlung wurde der gewaltige Xaver Wegrad von der Rednertribüne gezerrt und unter Stößen und Schlägen schmählich an die Luft gesetzt.

Dieselbe Versammlung hatte beschlossen, die Arbeit bedingungslos wieder aufzunehmen, und so geschah es auch. Aber nicht wenige fehlten. Manche hatten in andern Orten Arbeit gefunden, andere waren nach Amerika ausgewandert, noch andere von der Behörde wegen Mittellosigkeit in ihre Heimatgemeinde abgeschoben worden. Bei allen aber herrschte Not und Elend, die Kindersterblichkeit in Nedweditz hat nie zuvor eine so erschreckend hohe Ziffer erreicht, und auch unter den Erwachsenen gingen Krankheiten um.

»Die Cholera hat auch nicht schlimmer gewütet,« sagte der alte Hummer. »Damals war wenigstens ein Krieg, und ein Krieg muß manchmal sein, sonst könnte es keine Soldaten geben und auch keine Veteranen. Wenn aber die Menschen einander im Frieden bis aufs Blut sekkieren, so verdienen sie ein jeder fünfundzwanzig auf die verkehrte Seiten, wie es zu der Zeit eingeführt gewesen ist, wo ich selbst noch beim Militari war. No, ich bin nur froh, daß wenigstens der Wegrad, dieser Sozius, seine Wichse gekriegt hat.«

Unter den Opfern der stürmischen Zeit befand sich auch einer, um den Frau Therese Trauer anlegte, als sie in Wien die Nachricht von seinem Tode erhielt. Es war der muntere Mundel. Er hatte die sechs Wochen Arbeitslosigkeit nicht überlebt, er starb an seinem Urlaub, an Langerweile oder an gebrochenem Herzen, vielleicht vor Sehnsucht nach seinem braven Ackergaul, nach den edlen, farbigen Geweben aus schimmernder Seide, die er sein Leben lang gewebt hatte.

Als Moini noch einmal Herrn Nehuda besuchte, um die letzten Erledigungen zu besprechen, fand er Mara bei ihrem Vater in dessen Arbeitszimmer. Sie erhob sich rasch, grüßte ernst und wollte das Zimmer verlassen.

»Ich möchte dich etwas bitten, Mara,« sagte Moini. »Könntest du mir nicht wenigstens jede Woche einmal Theresen hinüberschicken?«

»Ich will es gern tun,« sagte sie; »wie geht es Christian? Würdest du ihm nicht erlauben, mir hie und da zu schreiben?«

»Ich werde ihm den Auftrag geben, es zu tun.«

»Keinen Auftrag, bitte!« jagte sie. »Nur eine Erlaubnis, falls er es gern tut.«

»Er wird es sicher mit tausend Freuden tun. Er sehnt sich nach seiner Mutter.«

»Ich danke dir ... Und noch meinen Glückwunsch zu dem vollen Sieg der Unternehmer,« sagte sie; »wenn du dich darüber freuen kannst.«

Die letzten Worte klangen bitter. Sie lächelte dabei, es war, als traute sie Moini zu, daß er Genugtuung empfand über das Unglück, unter dem ganz Nedweditz seufzte. Sie hatte Miene gemacht, sich jetzt zu entfernen, blieb jedoch abermals stehen, als Moini sagte: »Ich freue mich so wenig darüber wie dein Vater. Wir stehen auf einem Schlachtfeld, auf dem es viele Tote gibt, und wir selbst gehören zu den Schwerverwundeten. Und doch – konnten wir anderes?«

»Ja, das ist das Leben,« sagte sie. »Wir weinen darüber und konnten doch nicht anders ... So will wenigstens unser Stolz es uns einreden. Denn er gesteht es nicht gern zu, wenn wir schuldig geworden sind.«

»Schuldig geworden?« fragte Moini befremdet.

»Ja, schuldig!« sagte sie fest. »Du und der Vater und alle andern und auch ich, als ich noch deine Frau, die Gattin eines Fabriksherrn gewesen bin. Schuldig all den Enterbten gegenüber, die von uns abhängen!«

»Wenn hier von Schuld gesprochen werden kann,« sagte Moini finster, »so hast doch sicher du keinen Grund dazu, dich anzuklagen.«

»Ich bin reifer geworden, Moini,« sagte sie, »ich habe viel nachgedacht und gelesen, und ich fühle mich schuldig, ich klage mich an! Gerade ich, als Frau, hätte ein Recht darauf gehabt, auch mit dem Herzen zu denken. Was wunder glaubten wir für diese Leute in den Fabriken zu tun, wenn sie nur Arbeit bei uns fanden! Und was hatten wir anderes dabei im Sinne, als uns selbst und höchstens noch unsere Nation? Wäre es nicht unsere erste Pflicht gewesen, daran zu denken, daß es Menschen sind, die in unsere Hand gegeben waren? Hätten wir nicht unablässig darauf sinnen müssen, ihnen ein menschenwürdiges Los zu bereiten, ihnen beizustehen in ihren Nöten, ihren Verstand und ihr Herz zu bilden, daß sie als frei urteilende Männer mit Lust und Liebe bei ihrer Arbeit gewesen und nicht dem nächstbesten wüsten Agitator auf den Leim gegangen wären?«

»Kind, Kind,« sagte Herr Nehuda, »du verlierst dich in uferlose Utopien!«

Moini aber war nachdenklich geworden.

»Vielleicht hat Mara so unrecht nicht,« sagte er, den Blick zu Boden gesenkt, »Vielleicht hätten wir uns mehr unserer sozialen Pflichten erinnern müssen. ... Aber das Leben macht hart, wie oft wird man enttäuscht, man vergeudet nicht gern fruchtlos seine Gefühle.«

»O, es geht kein Saatkorn verloren,« rief sie, »wo man Liebe sät! Aber ihr Männer wollt freilich nicht daran glauben ...«

Sie tat einen Schritt gegen die Tür und machte ein drittes Mal Miene, das Zimmer zu verlassen. Da rief ihr Vater sie an: »Mara, bleibe!«

Sie schwiegen alle drei, keines wußte das rechte Wort zu finden. Endlich sagte Maras Vater – und er nannte Moini nicht mehr Herr Mairold, sondern redete ihn vertraulich mit dem Vornamen an wie einst: »Wir haben in den letzten sechs Wochen viele schwere Tage miteinander durchgemacht, Moini. Wir haben einander gut verstanden, obgleich ich Tscheche bin und Sie Deutscher. Unsere Völker stehen im Kampf, ich tue für meine Landsleute, was ich tun kann, Sie wahrscheinlich dasselbe für die Ihrigen; ich achte Gesinnung auch beim nationalen Gegner – wir haben uns trotzdem verstanden. So werden auch unsere Völker sich vertragen lernen, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft nötigt sie dazu. Es kommt nur darauf an, daß man das Einigende sucht und das Trennende milde und nachsichtig übersieht. Im Kampf der letzten Wochen standen nicht die Völker einander gegenüber, sondern die wirtschaftlichen Gegensätze. Auch hier wäre es vielleicht besser gewesen, wenn wir nicht auf unserm Schein bestanden, sondern milde eingelenkt hätten. Vielleicht haben auch wir Fehler begangen, vielleicht hätten wir in der Tat mehr an unsere sozialen Pflichten denken sollen! Vielleicht hat Mara recht, wenn sie sagt, daß kein Saatkorn verloren geht, wo man Liebe sät!«

Er hielt inne, er sah seine Tochter an und sah Moini an, er schien auf etwas zu warten. Aber die beiden Gatten schwiegen und standen unbeweglich einander gegenüber, den Blick zu Boden geschlagen.

»Vielleicht kommt es wirklich im Leben,« fuhr Herr Nehuda fort, »mehr auf ein bißchen Güte an, als darauf, recht zu behalten und auf seinem Schein zu bestehen. Nicht nur im Leben der Völker, nicht nur im Wirtschaftskampfe ... Moini! ... Mara! ... es gab doch eine Zeit, da ihr euch liebtet!«

Abermals schwieg er und wartete, und abermals schwiegen sie und sahen aneinander vorbei.

»Im Innersten seid ihr gar nicht so kalt und hart, wie ihr scheint,« sagte Herr Nehuda. »Und was habt ihr im Grunde einander vorzuwerfen? Irrungen und Fehler vielleicht, aber nichts wirklich Trennendes. Wie vieles dagegen könnte euch einen! Was für große Aufgaben gäbe es zu erfüllen auf sozialem Gebiete, in schönem, einträchtigem Zusammenwirken! Was für wichtige und edle Aufgaben, die niemand euch abnehmen kann, im Schoß einer echten, auf Freundschaft und gegenseitiges Vertrauen begründeten Familie! Denkt an die Jugendliebe, die euch einst zusammenführte! Denkt an eure Kinder, von denen dem einen nach der Mutter, dem andern nach dem Vater bangt! Denke an Christian, Mara, denken Sie an Therese, lieber Moini!«

Da ging Moini auf Mara zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich möchte meinen Kindern so gern ein wahrer Vater und ich möchte auch ein rechter Freund und Vater meiner Arbeiter sein –! Wenn du mir dabei helfen wolltest, Mara?«

»Ja, das will ich!«

Und sie legte, während sie mit Tränen kämpfte, ihre Hand in die seinige. Da schlang er den Arm um ihre Schulter, und wie sie seine Berührung fühlte, lehnte sie ihr schönes dunkles Haupt an seine Brust und weinte.

*


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