Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Dem jungen, tatenlustigen Eroberer, der von der Wegwacht Besitz ergriffen hatte, folgte bald ein ganzer Generalstab, der ihm bei der ersten Arbeit zur Seite stehen sollte. Die Gehilfen konnten vorderhand nur in einem Heuboden untergebracht werden, ließen sich's aber wenig anfechten. Es waren durchwegs gesunde und kräftige Menschen ausgesucht worden, fröhliche junge Leute, die in den technischen Dingen Bescheid wußten und sich darüber freuten, der sengenden Hitze der Stadt, der Stickluft der Schreib- und Zeichenstuben entflohen zu sein und in der herrlichen Höhenluft unter freiem Himmel arbeiten zu können.

Es ging an ein emsiges Vermessen und Aufnehmen der Gegend, in Dolls Stube waren vier gewöhnliche Tische zu einem einzigen großen zusammengerückt, darauf entstanden Pläne, fachmännisch getuscht und angelegt, und wer die Sprache der Reißfeder zu entziffern wußte, der konnte eine ganze Zukunft daraus ablesen. Man sah, in welcher Höhe in den bereits erschlossenen Brüchen die Staffeln übereinander angelegt werden sollten, wo die Förderbahnen zum Ausfahren des Abraums geplant waren, und wo die Sturzflächen für den Schutt zu liegen kommen würden. Man sah die Orte, wo Stollen in die Bergwand zu treiben, und wo Probegruben zum Aufsuchen neuer Anbruchsstellen zu graben wären. Man sah das neue Werkshaus bereits eingezeichnet, die Werkstätten für die erste Steinbearbeitung, man sah die Lagerplätze abgefriedet und die Stellen umrissen, wo Arbeiterwohnhäuser, ein Wohnhaus für die Angestellten, wo Magazine, Maschinenräume, Werkzeugschuppen, Vorratskammern, Ställe, kurz, alle »Ubikationen« – wie Herr Zwicknagel, Dolls Generaladjutant, sich ausdrückte – sich erheben sollten.

Als die Techniker den Edelweißbruch vermessen wollten, fanden sie im Gsölk eine Tafel aufgerichtet, darauf stand geschrieben: »Achtung vor Sprengschüssen!« Und wirklich, so oft sie den Versuch wagten, sich zu nähern, krachte es – war es Zufall oder Absicht? – irgendwo im Gewände, und Felsentrümmer flogen auf, daß die ungeheuren Geröllhalden, aus denen der Mahrkopf aufstieg, ins Kollern gerieten und sich oft stundenlang nicht mehr beruhigen wollten. Da mußten sie ihre Absicht schließlich aufgeben. Doll berichtete über die Angelegenheit nach Wien, der Rechtsanwalt der Gesellschaft wurde in Bewegung gesetzt, es gingen umfangreiche Schriftstücke an die Bezirkshauptmannschaft in Grahovo hinaus, die mit der Bemerkung zurückkamen, das Deutsche sei nicht die landesübliche Sprache, es müsse wenigstens eine Übersetzung beiliegen. Der Advokat, der ein deutsch-nationaler Heißsporn war, beging die Unvorsichtigkeit, diese Entscheidung anzufechten, und die Folge davon war, daß der Akt bis auf weiteres bei der Statthaltern lag, wo darüber entschieden werden sollte, welche Sprache in Grahovo als landesüblich zu betrachten sei, und welche nicht. Niemand konnte absehen, wie lange es dauern würde, bis auch nur die Frage erledigt wäre, in welcher Sprache man sein Recht geltend zu machen hätte, geschweige, bis zu welchem Zeitpunkt allenfalls eine Annäherung an den Mahrkopf möglich sein würde. Zum Glück war an anderen Stellen genug zu tun, ja, man wußte gar nicht, wo man zuerst anfangen sollte; also konnte der Edelweißbruch warten, ohne daß es den Ingenieuren deswegen an Arbeit gefehlt hätte.

Als der alte Herr Bornschbögel all die Betriebsamkeit rings um sich erwachen sah, während er selbst müßig ging, kam ihm auf einmal die Unruhe. Was war er doch für ein Unnötiger, daß er sich's auf der Wegwacht gut geschehen ließ, während zu Hause seine Blumen der Obhut der Frau Bohatschek überlassen blieben und seine Federzeichnungen nicht vom Fleck rückten! Hätte nicht auch er alle Hände voll zu tun gehabt? Gab es vielleicht für ihn keine Pflichten? War er denn nicht gottlob pumperlgesund – wie kam er dazu, sich eine langmächtige Erholung zu gönnen wie eine nervöse Dame, die einen Badeaufenthalt braucht?

»Schön war es da,« sagte er eines Morgens zu Doll, »aber jetzt geh' ich, es ist genug, mir graust schon vor mir, vor lauter Nichtstun. Es halten mich keine zehn Rösser mehr!«

Doll tat es leid, er wartete längst darauf, daß es so kommen würde, er hätte dem Großvater gerne noch ein paar Wochen Ruhe gegönnt. Denn es war offensichtig, wie gut dem alten Herrn der Aufenthalt in diesen Bergen bekam, das Atmen der reinen Höhenluft, das behagliche Herumsitzen; er sah abgebrannt aus von der Sonne, war von dem lästigen Husten, der ihn in der Stadt quälte, befreit und ging überhaupt auf wie ein Krapfen. Wenigstens solange die warme Witterung anhielt, hätte Doll ihn gerne auf der Wegwacht zurückgehalten.

»Schade,« sagte er; »da werde ich mich halt doch müssen nach einem Maler umsehen. Denn, offen gestanden, lieber Großvater, ich habe im stillen immer auf dich gerechnet, daß du mir ein bißchen helfen würdest, und dich längst darum bitten wollen.«

Der Großvater horchte auf. Helfen? Aber warum denn nicht? Gern, wenn es möglich war! Mit tausend Freuden! Wie konnte er helfen? Wobei konnte er mithelfen?

Doll wußte ihm einzureden, mit den technischen Aufnahmen allein sei es nicht getan, man hätte auch eine künstlerische nötig, um von den Steinbrüchen, den Bergen, der ganzen Gegend eine richtige Vorstellung zu gewinnen. Und da der Großvater schon so gut Federzeichnen könne, so hätte er gedacht ...

Also, mehr brauchte es natürlich nicht! Am nächsten Morgen, in aller Gottesfrüh', saß der alte Herr Bornschbögel schon draußen und strichelte aus der Ferne den Mahrkopf ab. Indessen ging es etwas mühselig her, vor der Natur, mit Tusche – nein, das war nicht das Richtige! Er griff zum Zeichenstift, blieb aber seiner Stahlstichmanier treu, schraffierte, schummerte, punktierte und bildete jede Latschenkiefer getreulich nach, bis er zur Erkenntnis gelangte, daß es auf diese Weise auch nicht viel besser fleckte. Die wirklichen Berge waren halt gar so groß, wie sollte es gelingen, sie mit lauter kleinen Stricheln einzusaugen! Da kam er auf die Geheimnisse der breiteren Manier, legte sich ein größeres Papier zu und fing an, kühnere Striche hinzusetzen. Jetzt stand auch schon gleich der ganze Berg da, aber er sah mehr wie eine Heuhocke aus, weil die Striche fröhlich kreuz und quer liefen, wie es ihnen beliebte, oder wie ein Struwwelkopf, der lange keinen Kamm gesehen hat. Und zum Überfluß waren die Hände des Großvaters schwarz wie die eines Rauchfangkehrers geworden, vor lauter Bleistiftspitzen, ja, sogar das Papier sah schließlich wie ein russiger Kamin aus.

»Es ist noch immer nicht das Richtige,« sagte Herr Bornschbögel; »da könnte man ja lieber gleich mit Stiefelwichse dreingehn!«

»Probieren Sie es mit Wasserfarben,« riet Herr Zwicknagel; »das ist immer das Praktischere, wenn man keine Ubikationen zu zeichnen hat, sondern bloß Berge.«

Da probierte es der Großvater wirklich mit Wasserfarben, und siehe, Herr Zwicknagel hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Der feuchten Behandlung vermochten diese starren Formen der Felsgebilde nicht zu widerstehen, sie wurden weich und schmiegten sich zerknirscht einer jeden Bewegung an, die der Marderhaarpinsel auf dem Papier ausführte. Sie lösten sich gleichsam auf, um ein neues, kunstverklärtes Dasein zu gewinnen, und man mußte nur acht geben, daß sie nicht gar in Gestalt von Tränen über den Zeichenblock herabrieselten.

Dem alten Herrn Bornschbögel ging das Herz auf, wenn mit einem einzigen Pinselstrich aus Kobalt schon ein halber blauer Himmel dastand, oder ein einziger Wischer mit Neutraltinte im Nu den tiefsten Bergschatten hinzauberte, daß man meinte, förmlich die Kühlung zu spüren, die wohltuend davon herwehte. Er hatte sich jetzt den größten Zeichenblock beigebogen, der sich unter den Requisiten der Ingenieure fand, saß jeden Tag auf einem andern Stein, mitten in der Prallsonne, und fertigte nach und nach ein ganzes Bergpanorama von der Gegend an, daß man schließlich ein wahrheitsgetreues Rundbild vor sich hätte, und jeder glauben müßte, die Wegwacht leibhaftig vor sich zu sehen, wenn er die einzelnen Blätter rings herum im Zimmer aufstellte und sich in die Mitte setzte.

Befriedigt brachte er jeden Abend ein fertiges Gemälde heim, und die jungen Leute standen herum und halfen ihm bewundern. Die Liebe und Verehrung, die sie für den alten Herrn hegten, beschwichtigte ihr kritisches Gewissen, und jeder wußte etwas anderes hervorzuheben und zu loben, der eine das tiefe Blau des Himmels, der andere die Wolken, die darüber hinzogen, der dritte die Felsen oder die schneeweißen Schneeflecke, die in ihren Runsen schimmerten, der vierte die tiefen Schatten, die in die Schluchten fielen. Und weil jede Einzelheit ihren Bewunderer und Liebhaber fand, so mußte schließlich das Kunstwerk als Ganzes doch auch etwas taugen.

»Ja, es ist mir gut gelungen,« sagte dann der Großvater in naiver Künstlerfreude. Denn genau so wie es Natti Pinkenfeld mit dem Freiherrn von Grahovo ergangen war, sah er alles, mehr wie er es erstrebt und gewollt, als wie es wirklich geworden. Und er gab eifrig Erläuterungen, damit die Beschauer das Werk seines Fleißes recht zu würdigen und zu genießen imstande wären.

»Die weißen Wolken,« sagte er, »sind nämlich alle ausgespart, verstehn Sie? Und die sonnigen Stellen in den Felsen auch. Es ist unsinnig bequem in der Art, man braucht das Papier bloß leer zu lassen und hat schon einen halben Berg; nur obacht geben muß man, daß dann der Pinsel nicht unversehens ins Weiße wieder hineinwischt, sonst ist es mit der Herrlichkeit aus. Das ist aber auch das allerschwierigste und die Hauptkunst bei der ganzen Malerei.«

Und fast ein wenig wehmütig fügte er hinzu: »Ich hätt' halt früher auf das Malen kommen sollen, dann hätt' ich mich auch noch verbessern können. Dafür ist es schon ein bißchen spät ... Aber ich bleib' jetzt schon dabei, das Federzeichnen ist lang nicht so dankbar. Und wie langsam geht es damit her! Gerade noch einmal so viele Bilder hätt' ich fertig gebracht in meinem Leben, wenn ich mich gleich von Anfang an auf das Malen geworfen hätte, mit dem man auch viel mehr Freud' hat als mit dem Zeichnen. Denn ein Himmel, der weiß ist, schaut doch nicht so natürlich aus wie ein blauer, und ein schwarzer Baum nicht so natürlich wie einer der grün ist? No alsdann!«

So hatte auf der Wegwacht ein jedes seine Beschäftigung und seinen Lebenszweck. Als aber die Abende länger und die Nächte eisig wurden, drang Doll darauf, daß der Großvater ans Heimkehren dächte; denn er fürchtete eine Erkältung für den alten Herrn. Er begleitete ihn noch in die Lüsen hinunter, und beide waren sie ein wenig ergriffen, als sie voneinander Abschied nahmen; zu viele schöne, unvergeßliche Stunden hatten sie miteinander verlebt, die ungleichen Wandergenossen.

Mit innigen Worten dankte Doll dem treuen alten Herrn, daß er mit ihm gekommen war, seine ersten Schritte auf der Wegwacht begleitet hatte.

»Und was ich auch da oben erleben werde,« sagte er, »immer werde ich an dich denken, Großvater, und an diese sonnigen Wochen, wo du bei mir warst!«

Der Großvater breitete die Arme aus und zog ihn an seine Brust.

»Du wirst jetzt nur selten mehr nach Wien kommen, und ich komme wohl nie wieder da zu euch hinauf. Denn ich werde überhaupt nicht mehr viel reisen können in meinem Leben, und zu Fuß wandern schon gar nicht. Einmal muß es halt leider das letztemal sein ... Mach' es tüchtig, mein lieber Doll!« sagte er noch. »Steh' treu und fest – auf der Wegwacht!«

Die Rührung übermannte ihn, Doll packte ihn in die Postkutsche, und er fuhr davon. Noch lange sah man sein weißes Taschentuch aus dem Wagen wehen, bis dieser hinter einer Biegung der Straße verschwand.

Ehe Doll auf die Wegmacht zurückkehrte, versäumte er nicht, im Klosterschlössel vorzusprechen. Er traf Frau Gioja wie das erstemal auf ihrem Ruhebett, das auf der Veranda gegen den Garten aufgeschlagen stand. Ein Großneffe befand sich in ihrer Gesellschaft, ein junger Leodolter, der ein Bruder Bethys war, den Doll aber kaum kannte; denn er hatte sich in Lyon, in Mailand und in der Schweiz auf seinen Beruf vorbereitet und stand, seit er in das väterliche Geschäft eingetreten, in der Fabrik in Verwendung, die sich in einem an der schleichen Grenze gelegenen Industrieort befand.

Das Gespräch war angeregt, wieder ging von der Kranken jene Kraft des Geistes und des Willens aus, die einen zuversichtlich machte und für alles Gute zu stärken schien. Doll mußte berichten, wie es auf der Wegwacht stehe, sie wollte alles bis ins einzelne erfahren, und auch der junge Alfred Leodolter, dessen sicheres und verständiges Wesen angenehm auffiel, nahm lebhaften Anteil und versprach, demnächst hinaufzukommen. Darüber freute Doll sich aufrichtig. Denn der junge Mann hatte seinen Aufenthalt im Ausland offenbar gut ausgenützt und zeigte ein Urteil über geschäftliche Dinge, das über seine Jahre weit hinausging.

Als Doll sich schließlich verabschieden wollte, sagte Frau Gioja: »Sie beabsichtigen, vor Einbruch der Nacht noch die Wegwacht zu erreichen, sonst hätt' ich Sie eingeladen, hier zu übernachten. Aber Sie dürfen doch nicht von uns scheiden, ohne Bethy begrüßt zu haben, es würde sie kränken.«

»Ist Fräulein Bethy hier?« fragte er überrascht.

»Wenn Sie sich in den Garten bemühen wollen – sie pflegt das Spalierobst unten am Bach.«

Er eilte hinab und durchschritt den Garten, der Schönheit und Nutzen vereinte; denn es wurden Küchenkräuter und Gemüse, Rittersporn, Nelken und Kaiserkronen in bunter Abwechslung darin gezogen, und um die langgestreckten Beete lief gleichmäßig eine Einfassung aus niedrig gehaltenem Buchsbaum. So in der Nähe des Hauses, vor dem ein Springbrunnen plätscherte. Weiter unten fing der Obstgarten an, der sich bis an den stillen Mühlbach zog, und zunächst dem Wasser befanden sich in langen Reihen hintereinander mit zwischendurchlaufenden Pfaden die Spaliere, die üppig standen, und unter deren glänzendem Laub die saftschweren gelben Früchte hervorleuchteten.

Doll blickte sich um und fand nicht gleich, die er suchte, bis er sie auf der Stufe knien oder kauern sah, die zum Wasser hinabführte. Sie neigte sich über und hielt mit ausgestrecktem Arm eine Gießkanne in den leise ziehenden Mühlbach, um sie zu füllen. Als sie die Schritte im Kies vernahm, erhob sie sich rasch. Fast erschrocken sah sie, wer so unerwartet vor ihr stand. Sie stellte die Gießkanne auf den Boden, trocknete die nasse Hand an der blauen Gartenschürze und streifte schnell den bis zur Achsel aufgerollten Ärmel über den nackten Arm.

Er fand sie schöner als je, im schlichten Kleide, bei der Arbeit, das goldne Haar ein wenig verzaust, wie eine Prinzessin aus dem Märchen, die Magddienste verrichten muß, und um deren Haupt der Königssohn, der sie zu erlösen kommt, doch den Schimmer einer unsichtbaren Krone leuchten sieht.

Sie hatten einander die Hand gereicht und standen sich schweigend gegenüber, beide fast ein wenig befangen.

»Sie wundern sich gar nicht, daß ich in der Lüsen bin?« fragte Doll endlich.

»Ich wußte es von Gioja.«

Darauf waren sie wieder still.

»Ich werde voraussichtlich jetzt viele Jahre hier leben,« begann Doll abermals.

»Auf der Wegwacht,« sagte sie.

»Im Sommer auf der Wegwacht,« sagte Doll, »im Winter herunten in der Lüsen, wo die Steinsägen, Schleifereien und Bildhauerwerkstätten eingerichtet werden sollen.«

»Ich habe davon gehört,« sagte sie leise.

»Sie sagten einmal – damals, als wir uns zum erstenmal sahen – daß Sie gerne fern von der Stadt leben würden, in der Einsamkeit« ...

Sie nickte mit dem Kopf und sah ihn dabei an.

»Das heißt,« verbesserte er sich – »ganz mutterseelenallein – so meinten Sie es wohl nicht?«

Da flog ein verräterisches Rot über Bethys Wangen. Sie standen einander noch immer gegenüber und hielten sich noch immer an der Hand. Jetzt bemerkten sie, daß auch noch immer die Gießkanne dastand, zwischen ihnen, auf dem Boden. Und sie lächelten, wie Menschen lächeln, die ganz erfüllt und vom Augenblick überwältigt sind, wenn irgendeine Nichtigkeit sie daran erinnert, daß sie doch noch nicht alles Irdische abgestreift haben.

Und ohne ihre Hand loszulassen, führte Doll sie um die Gießkanne herum zu einer Bank, die neben dem Wasser unter einer Esche stand, und während sie sich setzten, legte er leise seinen linken Arm um ihre Schulter. Da lehnte sie ihr goldgekröntes Haupt an seine Brust.

Stummer hat nie ein Liebender um Gegenliebe geworben und stummer nie ein liebendes Mädchen ihr Jawort gegeben, als es an jenem Abend auf der Bank am Mühlbach geschah, der aus dem schäumenden und tosenden Wasser der Lüsen gespeist wird und doch still und leise wie ein Mäuschen in seinem grün umrandeten Gerinne am Garten des Klosterschlössels vorüberzieht.

Die stummen Gründlinge und Karauschen, die im Mühlbach huschen, strecken neugierig die Köpfe aus dem Wasser und unterhalten sich in ihrer Zeichensprache miteinander, indem sie ihre durchsichtigen Flossen wie Fächer hin und her bewegen.

»Sonst schlagen die Menschen doch immer Lärm,« sprechen sie zueinander; »gibt es denn auch Stumme unter ihnen? Das haben wir bis heute nicht gewußt. Die stummen Tiere sind die edleren, die lärmenden, die immer brüllen, blöken oder schreien müssen, die haben etwas gar so Gewöhnliches an sich. O wären doch alle Menschen so wie die zwei! Sie blöken nicht, sie schreien nicht, sie sprechen nicht einmal miteinander, sie denken auch nicht an uns und an keinen Angelhaken, sie haben kein Arg in sich und bilden sich offenbar ein, im Paradiese zu sein. O wären doch alle Menschen wie die zwei! Dann könnten auch wir uns unseres Daseins freun und sorglos leben wie im Paradies!«

Ein Fink, der in den Zweigen der Esche schlägt, blickt neugierig herunter.

»So machen es die Menschen?« denkt er. »Ist auch nicht übel! Ach, wenn nur erst wieder Frühling wär'! Schon fängt es zu herbsteln an, und der Winter ist hart. Da kann von keinem Nest die Rede sein und von keiner Gemeinschaft. Da hat unsereiner genug an sich selbst zu denken, und jeder ist froh, wenn er nicht verhungert und erfriert. O wir armen, armen Baumsitzer! Wann werden wir wieder bessere Tage sehen? Wann wird die Liebe wieder ihren Einzug halten in unsere kleinen, pochenden Herzen? Ach, die Menschen, die haben es gut! Sie sind an keine Jahreszeit gebunden und küssen, wo immer ein roter Mund sich findet, im Winter oder im Sommer, es ist ihnen ganz gleich. Gott, haben es die Menschen gut! O, wenn nur erst wieder Frühling wär'!«

Schritte über den Kiesweg – die Karauschen und Grundeln verschwinden im Wasser, und der Fink fliegt fort. Ruhig blicken die Liebenden dem, der sich nähert und bald um die Büsche biegen wird, entgegen und halten sich lächelnd umschlungen.

»Sieh da, schlecht bewachte Schwester!« ruft plötzlich Alfred Leodolter, der vor ihnen steht. »Kaum habe ich Herrn Mairold kennen gelernt, und schon soll ich Schwager zu ihm sagen?«

»Haben Sie etwas dagegen?« fragte Doll lächelnd.

Alfred legte eine Hand auf Dolls Scheitel und die andre auf Bethys blondes Haupt.

»Im Gegenteil, ich segne den Bund eurer Herzen, so weit es auf mich ankommt. Nur eine Bedingung möchte ich stellen.«

»Und die wäre?«

»Dienst um Dienst. Ich gebe Ihnen meine Schwester, und Sie geben mir die Ihrige.«

»Sich da, schlecht bewachter Bruder!« gibt Bethy lächelnd es ihm zurück.

Und Doll streckt ihm die Hand hin: »Gleich kreuzweis Schwager? Dann können wir aber nicht mehr Sie zueinander sagen! Und wer ist es? Für Riki wärst du zu jung, also Vefi, das Sonnenkind?«

»Käthi.«

»Gerade die Kleinste sucht er sich aus!«

»Na höre, sie reicht mir fast an die Stirn.«

»An den Mund willst du sagen. Und mag sie dich?«

»Vorderhand hat sie mir's bloß erst ins Ohr geflüstert, also flüstert es nicht weiter! Ich muß auch erst noch in die Firma aufgenommen sein, eh' ich öffentlich davon sprechen kann. Es plagt uns ja beide noch nicht das Alter – nicht wahr?«

»Also wären wir einig!«

Die beiden jungen Männer umarmen sich und geben einander den Bruderkuß.

Bethy aber war aufgesprungen und lief wie ein reich beschenktes Kind, das sein übervolles Herz ausschütten muß, den Weg gegen das Klosterschlössel hinauf.

»Gioja! Gioja!« rief sie durch den Garten eilend, und ihr Kleid wehte wie das Gewand eines Engels, der geradenwegs in den Himmel hineinfliegt.

Und sie stürmte die Treppe empor und warf sich in lachender Glückseligkeit der sonnigen Gioja an den Hals.

*


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