Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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In solcher Maiennacht, wenn aller Verkehr in den Straßen erstorben ist, schleicht sich der Frühling von den Hängen des Wienerwaldes in die große Stadt, die er bei Tage ängstlich flieht, und haucht seinen erfrischenden Atem über das Meer von Stein und Staub. Vom gestirnten Himmel sickert er leise nieder, aus den Gärten, die zwischen den Häusern vergraben liegen, steigt er fliederduftend empor, und aus jeder Seitengasse, die sich öffnet, bläst er dem einsamen Wanderer einen herben Gruß ins Gesicht, von der grünenden, blühenden Welt da draußen.

Doll hatte sich nicht entschließen können, nach Hause zu gehen, sein Herz war zu voll, der Mai brauste in seinem jungen Blute. Laut hallten seine Schritte auf dem granitenen Pflaster, manchmal war es, als verdoppelten sie sich, als folgte ihm jemand auf dem Fuße und ginge hinter ihm drein; dann blieb er stehen und lauschte. Aber es war bloß der Widerhall seiner eigenen Schritte, den die langen Zeilen der Häuser zurückwarfen. Aufgewühlt in tiefster Seele setzte er seinen Weg fort, voll von unbestimmtem Sehnen, Glühen und Verlangen. Und die glitzernden Sterne, die in die schwarzen Schluchten der Gassen hereinlugten, waren wie stumme Fragen an das Schicksal.

Auf dem Ring drängte plötzlich der Frühling sich stürmisch an seine Brust und umarmte ihn. Die jungen Platanen in den Alleen rauschten wie Bäume des Waldes und neigten sich im Winde; wie Felsenhöhlen im Gebirge gähnten die schwarzen Torbogen des äußeren Burgtors. Da oben, auf der Plattform des langgestreckten Torbaues – so war ihm erzählt worden – hatte im Sturmjahr achtundvierzig ein junger Revolutionsheld gegen die Seressaner des Ban Fellachich den letzten Verzweiflungskampf gekämpft, und es war ein Oheim der blonden Bethy Leodolter gewesen, der unrühmlich ins frühe Grab sank. Und dort stiegen jetzt aus dem Dunkel der Nacht die schwarzen Umrisse des Siegers von Aspern auf, der mit erhobener Fahne auf seinem Schlachtroß dahinsprengt. Wo sind die Zeiten des Heldentums, da Wiener Bürgersöhne freiwillig gegen den Korsen stritten und ihn bezwingen halfen? Wo die Kämpfe, in denen ein junges Herz sich stählen, eine junge Begeisterung ihr Feuer versprühen kann? Gibt es keine Ziele mehr, als Gewinn, keine Ideale, als das Geld?

Ach, vielleicht ist es schwieriger, sich im Alltag zu bewähren als in außerordentlichen Zeiten. Vielleicht schwieriger, durch stilles Beharren zu siegen, als im trunknen Aufschwung, das friedliche Ringen der Völker unter den Fittichen des österreichischen Aars schwieriger und aufreibender, als mit Barbarenzorn im blutigen Krieg um Lorbeer oder Tod zu würfeln.

Es fiel ihm ein, wie er als kleiner Junge, damals als die Preußen durch Nedweditz marschierten, die Mutter gefragt hatte: »Werden wir auch einmal mit den Böhmen Krieg führen?« Und er erinnerte sich, wie erstaunt er gewesen war, als sie antwortete: »Nicht mit Gewehren und Kanonen, wohl aber mit friedlichen Waffen, mit der Weberschütze zum Beispiel.«

Da lagen doch Ziele, des Schweißes der Edlen wert! Aufgaben, groß und wichtig genug, einen kleinmütig Gewordenen zu befeuern. O Mutter, wer schöpft die Weisheit deines mutigen Herzens aus?

»Ein Volksstamm, der sich nicht selbst hilft durch die Kraft seiner Arbeit,« hörte er den alten Marr sagen, »der ist dem Untergang geweiht und verdient auch nichts besseres.« Brauchte es mehr, jugendliche Begeisterung wachzurufen? Gab es wirklich keine Kämpfe, in denen ein junges Herz sich stählen konnte? Was sollte diesen preisgegebenen deutschen Stamm in Österreich davor bewahren, in der slawischen Hochflut zu ertrinken, wenn nicht die bürgerliche Tüchtigkeit eines jeden seiner Söhne?

Durch die finsteren Höfe der kaiserlichen Burg war er geirrt und immer weiter gegangen, durch bekannte und unbekannte nächtliche Straßen, und schließlich hatte er in einem Gewirr von engen, hallenden Gäßchen jede Richtung verloren. Jetzt bog er seitlich ab und ging einem Geräusche nach, das wie Gerassel langsam rollender Fuhrwerke scholl. Es war, als dröhnten schwere Batterien über das Pflaster, wuchtige Geschütze, unter denen die Erde bebt. Und gegen einen großen, freien Platz heraustretend, sah er ein Feldlager vor sich, ein Gewühl vermummter Gestalten, wie von Wachtfeuern bestrahlt und wieder in tiefe Schatten getaucht.

Wagen wurden abgeladen, und immer wieder rollten neue Bauernfuhrwerke heran. Ein ganzes Heer von Menschen befand sich in Tätigkeit, im grauenden Morgen die Vorräte aufzuhäufen, die der hungrige Magen der Riesenstadt an diesem Tag verschlingen sollte. Denn nun erkannte Doll, daß er sich am Hof befand, wo das Leben des Marktes längst zur Arbeit erwacht war, während die Menschen schliefen oder sich müßigen Vergnügungen hingaben.

Wie gebannt war er stehen geblieben. Er sah Berge von Gemüsen sich türmen, vollgepfropfte Säcke zu Schanzen und Barrikaden emporgebaut, unerschöpfliche Massen von Bodenfrüchten, von allen Erträgnissen der Landwirtschaft der Wagenburg entquillen, wie Ladungen aus unerschöpflichen Schiffsbäuchen gelöscht werden. Unter Feilschen und Handeln verteilte der Erntesegen des flachen Landes sich in die Butten, Körbe und Handkarren der Zwischenhändler, ein breiter Strom, dessen Fülle sich durch ungezählte kleinere Rinnsale nach allen Seiten ergießt. So ging es jeden Morgen hier zu, Winter und Sommer, in jeder Jahreszeit, bei jeder Witterung. Tag für Tag, noch eh' der Morgen graute, rasselten diese Batterien von schwer beladenem Fuhrwerk aus dem weiten Marchfeld durch die engen gepflasterten Straßen, um die im Schlafe ruhende Stadt mit Vorräten zu versorgen, daß sie nur zuzulangen brauchte, sobald es ihr beliebte zu erwachen. Tag für Tag, noch ehe der Morgen graute, trieb diese Armee von vermummten Gestalten sich hier um, den zuströmenden Segen bis in die entferntesten Ecken und Enden der Stadt weiterzuleiten, damit er den Verbrauchern zuflösse. Und all die Leute, die da an der Arbeit waren, schafften für sich selbst, indem sie für andere sorgten.

O wunderbar gefügte Ordnung des Wirtschaftslebens, die wie eine erhaltende Naturkraft in nächtlicher Stille wirkt und pulst! Deine Schönheit, die kein Träumer begreift, erfüllt den einsamen Nachtvogel, der als müßiger und überflüssiger Zuschauer Zeuge deiner sinnvollen Geschäftigkeit wird, mit Scham. Der falsche Glanz der Festlichkeit, von der er kommt, verblaßt vor dem anziehenden Bilde nächtlichen Fleißes. Der Geschmack des Schaumweins, der noch an seinen Lippen haftet, widert ihn an, da er den Duft nahrhaften Kornbrotes wittert. So sollte man ringen ums Leben, täglich, stündlich wie diese Leute! Während im Hause Pinkenfeld die ersten Geigenklänge erklangen, waren sie aufgestanden aus ihren Betten, die schweren Stiefeln stapften über den Hof, das Talglicht flackerte in der blinden Stallaterne, die Mähne der Pferde wehte im Sturm, während sie angeschirrt wurden. Ächzend unter der hochaufgeladenen Last setzte der Planwagen sich in Bewegung, über die grundlose Straße, durch die Nacht, und rollte schwerfällig gegen das ungeheure Häusermeer der Stadt, sie zu bezwingen, zu erobern, ihr eine Schätzung aufzulegen, indem er ihr Knechtesdienste leistete.

»Zur Tüchtigkeit müssen wir das Volk erziehen!« hörte er den alten Marr sagen. »Unser Fleiß, unsre Regsamkeit, unsre Tatkraft sind die Waffen, die uns niemand entwinden kann!«

Hannakische und slowakische Laute schlugen an sein Ohr, das schärfere tschechische Idiom klang dazwischen. Wie nahe war hier der Osten! Fast vor den letzten Häusern der Stadt gegen das Marchfeld hin fing er an, und der slawische Norden fast am Tabor. Auf der einen Seite der Wall der Berge, gegen Mittag Ungarland und jenseits der Donau Slawen, Slawen bis hinein nach Asien! Wie eingeschnürt lag dieses alte Wien. Belagert wie einst durch die Horden der Türken, ein preisgegebenes Bollwerk des Deutschtums, das so wenig auf fremde Hilfe zu zählen hatte wie damals. Und wenn es sich nicht wie damals aus eigener Kraft hielt – was sollte aus ihm werden? Wollen die Gelehrten es nicht herausgerechnet haben, daß die großen Städte die Säfte ihres Wachstums aus dem platten Lande saugen und mit der Zeit Fleisch vom Fleische und Blut vom Blute ihrer Umgebung werden?

Abermals hörte er die Stimme des alten Marr: »Wir sind nun einmal eine Minderheit, die kein Wunder in eine Mehrheit verwandeln kann« ...

Abermals erinnerte er sich, wie die Mutter ihn und seine Brüder als Knaben durch die Fabrikssäle in Nedweditz geführt und sie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß der deutsche Weber, den sie den munteren Mündel nannten, in der gleichen Zeit mehr Seidenstoff von derselben Schönheit und Güte fertig gebracht hatte als der böhmische Weber Nemec. Wie aus der Ferne klangen ihre Worte von damals zu ihm herüber: »Wenn wir Deutschen in allem und jedem um soviel tüchtiger sein werden, als dieser deutsche Weber jenen böhmischen an Fleiß und Geschicklichkeit übertrifft, so wird der Sieg auf unserer Seite sein.« Und später, da er in seiner Knabenbegeisterung es ausgesprochen hatte, daß er ein Kämpfer für sein Volk werden möchte, da hatte sie ihm zur Beherzigung fürs ganze Leben eine goldene Lehre mitgegeben, die er immer besser begriff, je älter er wurde: »Nicht darauf kommt es an, daß wir das Wort ›deutsch‹ im Munde führen. Einfluß und Macht über viele müssen wir gewinnen, durch fruchtbare, segenspendende Tüchtigkeit. Dann werden wir Kämpfer und, was noch wichtiger ist, auch Sieger sein!«

An all das erinnerte er sich in jener Stunde, da er die große, emsige Armee vermummter Gestalten, die in vielen Sprachen durcheinander redeten, an ihrer nächtlichen Arbeit sah.

In Gedanken an seine Zukunft, wie die sich wohl gestalten würde, setzte er schließlich seinen Weg fort, an Schlaf und Ruhe dachte er jetzt erst recht nicht. Er schmiedete Pläne, er wurde warm von Absichten und Vorsätzen, die seine Schritte beschwingten. Der Himmel begann sich mit Licht zu durchtränken, und die schlafenden Häuser erwachten und öffneten ihre Tore, eins nach dem andern. Da zog es ihn zum Frühling, hinunter an den Strom, der ein Stück freier Natur bleibt, auch wenn er zwischen steinernen Ufern und langen Häuserzeilen hinfließt. Von der Donaubrücke wollte er den Osten sich röten und das Gestirn des Tages aufsteigen sehen, eh' er heim ging. Die Maiensonne sollte segnen, was in ihm reif geworden war, in dieser Nacht.

Aber das weite Stadtbild, das den Fluß umarmte, kränkelte noch farblos unter dem bleichen Frühlicht. Wie verstohlene Tränen durch die Furche einer abgehärmten Wange, wie ein ganzer Strom von Tränen schlich in seinem tief eingeschnittenen Bette das fahle Wasser unter der schwebenden Brücke hin, und das leise Rauschen seiner Wellen klang wie ein halbunterdrücktes Seufzen, während es spinnwebendünne Schleier über sich zusammenzog, wie in vergeblichem Bemühen, sein schweres Leid vor der Welt zu verhüllen ...

Da unten auf der Uferböschung schimmerte etwas Weißes, das sich bewegte. Ein Mann, der seinen Rock abgeworfen hatte, eilte in Hemdärmeln gegen das ziehende Wasser, und noch ehe Doll ihn recht ins Auge fassen konnte, hatte er sich in den Strom gestürzt.

Wenn wir einen Menschen gut kennen, so brauchen wir ihn nicht genau ins Auge zu fassen, um zu wissen: er ist es, oder: er war es. Eine Bewegung genügt, ihn wiederzuerkennen, ein Schlenkern der Hand, der vorüberhuschende Eindruck einer bezeichnenden Haltung, eines eigentümlichen Ganges.

Warum bist du so erschrocken, Doll? Was fliegst du mit pochendem Herzen und schlotternden Gliedern die Uferlände hinab, um zu helfen, zu retten? Kennst du das Gesetz der Auslese nicht, das die Überflüssigen beseitigt und die Schwachen vertilgt, damit die Starken Raum gewinnen? Oder gehörst du zu den Ketzern, die der Mechanik des Naturlebens keine unbedingte Herrschaft über den Menschen einräumen wollen und der gottähnlichen Wissenschaftlichkeit der Zeit zum Trotz noch immer von einer Seele sprechen, der sie Kraft zutrauen, auch ein halb verlorenes Leben noch zu retten und neu zu gestalten? Glaubst du überhaupt noch an etwas, das nicht Stoff, Zusammensetzung oder Auflösung ist? Nur so wäre es zu erklären, daß du, von Mitleid übermannt, dem Schicksal in die Arme fallen und dem Tode ein Opfer entreißen willst, das sich sein Urteil selbst gesprochen hat.

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