Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Die kommende Zeit fand den von Begeisterung glühenden Doll noch öfters auf dem Platze, wenn es galt, für die Ehre des kämpfenden deutschen Volkes einzustehen. Mit geröteten Wangen las er von den glänzenden Siegen des blonden Helden, der ihm wie eine Lichtgestalt vor Augen stand. Er konnte ihn nicht vergessen, er sah ihn immer in jenem Zimmer in Nedweditz, wie er sich hoheitsvoll und leutselig zugleich mit ihm und seinen Brüdern unterhalten hatte, wie sein edles, klares Adlerauge von Kraft, Güte und Heiterkeit strahlte.

In den Zwischenpausen setzte es nicht selten Ringkämpfe in der Schulstube. Wehe, wenn einer von den »Franzosen« es wagte, Deutschland zu verkleinern oder gar dem verklärten Heldenbilde nahezutreten, das Doll von dem Sieger von Wörth im Heizen trug!

Für Ludgers Träume war offenbar die Zeit noch nicht gekommen. Noch bedurfte der nationale Gedanke nicht bloß des Schwertes, sondern sogar – der Faust.

Die Kriegsspannung überdauerte den Nedweditzer Sommer. Die »Franzosen« und »Preußen« unter den Schulbuben standen ebenso wie die wirklichen nach den großen Ferien einander nur noch erbitterter gegenüber als vorher. Das große Drama im Westen näherte sich der Katastrophe. Der Anfang des neuen Jahres brachte die Erfüllung einer jahrhundertealten Sehnsucht: ein stolzes, einiges Deutsches Reich.

Der alte Herr Bornschbögel erzählte im Familienkreis, wie er vor vielen Jahren in Berlin gewesen sei, und wie es dort aussehe. Was für ein kahles und dürftiges Dorf war diese Hauptstadt des neuen Reiches, wenn man ihm glauben durfte! Wie öd und geradlinig die Straßen, wie kleinlich und träge die Spree, wie endlos der Sand, wie miserabel das Essen, wie reizlos die Frauen! Es waren die letzten Zuckungen einer uralten Eifersucht, die in seinen Worten nach Ausdruck rang. Die entthronte Metropole Alldeutschlands, im Bewußtsein der unvergleichlichen Schönheit, mit der die Natur und die Jahrhunderte sie geschmückt, lachte fröhlich in den Tag hinein und fürchtete keine Rivalin. Aber mancher ihrer Söhne fühlte wie der alte Herr Bornschbögel, der schließlich behauptete, nicht einmal ordentlich deutsch reden könnten die Leute in Berlin!

»Aber ich hab' mir kein Blatt vor den Mund genommen,« brüstete er sich, »und den Berlinern ganz offen meine Meinung gesagt: Sie können Ihnen heimgeigen lassen mit Ihnerer Sprach', hab' ich gesagt; wenn Sie alleweil mir und mich miteinander verwechseln, wer soll Ihnen denn nachher verstehn.? – No ja? Genieren werd' ich mich!«

Und er ging befriedigt in sein Stockwerk hinauf und setzte sich an seinen Zeichentisch. Er hatte jetzt ein Blatt in der Arbeit, auf dem man von einer Höhe des Wiener Waldes zwischen Baumriesen hindurch die Stadt hingebreitet und dahinter mit Strahlen, die über den ganzen Himmel hinschossen, die Sonne aufgehen sah. Das war einmal ein Kunstwerk, das Frau Bohatschek verstand, und an dem sie Freude hatte. Wenn an ihrem Kochherde gerade keine Gefahr im Verzüge war, so kam sie manchmal herein und sah ihm bei der Arbeit zu.

»Mühsam ist das Getüftel,« sagte sie bewundernd; »aber es wird schön.«

Er hatte ein aus Papier geschnittenes Eichenblatt zur Hand und wiederholte dessen hundertfältig verkleinerte Form unzählige Male auf einer der Laubkronen im Vordergrund.

»Das rechts, das ist ein Eichenbaum,« sagte er; »und das links eine Buche. Auf der Vorlage sieht man bloß, daß es Bäume sind. Bei mir aber soll man kennen, was für Bäume es sind. Es ist nicht einmal gar so schwer. Eine Eiche hat Eichenblätter, folglich braucht man nur ein paar tausend solche Blatterln hinzuzeichnen, so muß jeder sehen, daß es eine Eiche ist.«

»Die Sonnenstrahlen sind ein bissel gar zu lang,« meinte Frau Bohatschek. »Aber die vielen kleinen Häuserln und den alten Steffel in der Mitte haben Sie sehr natürlich gemacht.«

»Die Sonnenstrahlen müssen so lang sein,« sagte Herr Bornschbögel, »weil die Sonne auf dem Bild nicht bloß die Sonne bedeutet, sondern den Glanz und die Herrlichkeit überhaupt; das ist der eigentliche Sinn – verstehen Sie? Folglich muß es auch ordentlich glänzen, damit man gleich sieht, es ist nicht so ein gewöhnlicher Sonnenaufgang, wie er jeden Tag vorkommen kann.«

»Wenn es so ist,« sagte Frau Bohatschek, »dann kenn' ich mich schon aus.«

»Die vielen kleinen Häuserln waren nicht leicht, aber sie sind mir gelungen,« sagte Herr Bornschbögel, während er, verschwenderisch wie der Frühling, ein Eichenblatt ums andere unter seiner Feder hervorsprießen ließ. »Stellen S' Ihnen vor, was das heißt, nur ein einziges Haus bauen! Ich hab' aber Tausende bauen müssen, sogar eine Menge vierstöckige darunter, und alles mit einer gewöhnlichen Feder! Manchmal war' mir die Geduld beinahe ausgegangen. Da hab' ich mir nachher so meine Gedanken darüber gemacht, wer in einem jeden Hause wohnen könnte, und was die Leute darin treiben.«

»No, und was treiben sie?« fragte Frau Bohatschek neugierig.

»Es hat halt ein jeder sein Geschäft und seine Arbeit. Unglaublich viel fleißige Menschen gibt es.«

»So –?« machte sie erstaunt. »Das stellen Sie Ihnen auch nur so vor. Es kommt halt ganz darauf an, was für GlasaugenAugengläser. einer auf hat. Wer ein Hallodri ist, der bildet sich ein, daß man in ein Sodom und Gomorrha hineinschauen tät, wenn man die Dächer von den Häusern abheben könnt'! Auf die gleiche Weis' sehen Sie überall Arbeitsamkeit und Fleiß und können sich gar nicht denken, daß es auch lottericht zugehen könnt'. Herentgegen die Wahrheit, die schaut ein bissel anders aus! Denn in der guten Wienerstadt gibt es nicht soviel Pflasterstein' als Faulenzer, die unserm Herrgott den Tag stehlen.«

»Wär nicht aus!« sagte er fast erschrocken und legte die Feder hin. »Das glaub' ich gar nicht, die Faulenzerei ist den meisten Menschen viel zu wenig unterhaltlich. Wir könnten sie auch nicht brauchen in Wien, jetzt schon gar nicht, sonst wachsen uns schließlich die Preußen noch ganz über den Kopf!«

Ein höllisches Zischen, wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt, drang durch die bloß angelehnte Tür.

»Jesses, die Suppen geht über!« schrie Frau Bohatschek; »das kommt von der Faulenzerei!« Und reumütig die Hände ringend, enteilte sie. –

Der alte Herr Bornschbögel verbrachte auch den Sommer meistens in der Luftschützgasse, er kam nicht gern aus seiner gewohnten Ordnung. Seine Wohnung, aus deren Fenstern man fast über die ganze Stadt hinblickte und auch ein gut Stück Himmel übersehen konnte, sowie der Garten, der sich ans Hinterhaus schloß, ersetzten ihm den Landaufenthalt. Erholung brauchen – das war ihm ein moderner Begriff, den er nicht verstand. Wovon mußten eigentlich die Leute sich beständig erholen? Am Ende – von der Arbeit? Die war doch eine Freude, wenn der Segen des Gelingens auf ihr ruhte und man sie nicht unvernünftig übertrieb! Ein paar kleinere Reisen hatte er früher gelegentlich wohl unternommen, in Geschäften, oder um sich zu unterrichten, einmal auch eine größere nach Deutschland, um etwas von der Welt zu sehen. Und in jüngeren Jahren war er gern in den Bergen gewandert, mit dem Ränzel auf dem Rücken und mit dem Stock in der Hand – weil er die Natur liebte und das Wandern ihm Freude machte. Aber Erholung hatte er sein Lebtag nicht gebraucht.

»Ich bin schon dahinter gekommen,« pflegte er zu sagen, »von was die Menschen heutzutage sich erholen müssen: Von sich selber! Z'wider sind sie sich! Aus ihrer Haut möchten sie gern heraus. Aber weil das halt nicht möglich ist, so schleppen sie wenigstens ihre Z'widrigkeit aufs Land hinaus, in irgendeinen Kurort, auf die Berge hinauf, oder ans Meer und bilden sich eine Zeitlang ein, jetzt ist es besser, weil sie in einer anderen Umgebung grantigverdrossen. sind. Und wenn sie dann im Herbst zurückkommen, so ist zwar viel Geld beim Teuxel, aber der Grant ist noch alleweil da, der bleibt ihnen treu wie ein Schatten. Das nennen die Leut': Erholung in der Sommerfrische!«

Frau Therese hatte es aufgegeben, ihren Vater nach Nedweditz einzuladen. Ein paarmal war er dagewesen, dann erwachte die alte Freude an seinem Handwerk, und er machte sich den ganzen Tag in der Fabrik zu schaffen, als würde er dafür bezahlt, oder saß tüftelnd über gewürfeltem Papier und setzte Webemuster in die Carta rigata.

»Du bist doch da, Vater, um dich zu erholen?« meinte sie dann mit leisem Vorwurf lächelnd.

Aber er sagte eifrig: »Ich erhol' mich eh' ... Ich erhol' mich von der ewigen Nichtstuerei. Es g'freut mich unsinnig, daß ich altes Eisen halt doch noch zu was zu brauchen bin.«

So war aber die Meinung nicht gewesen. Sie kam schließlich zu der Einsicht, daß es besser sei, den alten Herrn bei seinen Blumen und Federzeichnungen zu lassen. Wie der quieszierte Regimentsschimmel, von dem man sagt, daß die Trompete ihn elektrisiere, so war er nicht mehr zurückzuhalten, wenn das vielstimmige Geklapper der Nedweditzer Webstühle ihn umrauschte. Durch ein langes, arbeitsames Leben hatte er sich volles Anrecht wenigstens auf jenes Maß von Gemächlichkeit erworben, das seine freiwillig gewählten Beschäftigungen zuließen. Man durfte ihn nicht in eine Umgebung versetzen, wo rastlose Tätigkeit pulste, sonst wollte er gleich wieder mittun und legte sich hitziger in die Stränge, als es seinem vorgeschrittenen Alter zuträglich war.

Für die Mairoldschen Kinder aber blieben die Nedweditzer Sommer ein Segen. Das neuzeitlich verbesserte Schulwesen stellte harte Anforderungen an die jungen Köpfe. Die grün-goldnen Felder und Wiesen des mährischen Landes, die rauschenden Baumgruppen auf den Hügeln, der große, weite Himmel, auf dem die Wolken zogen, die träumenden Weiher und raschen Bäche halfen Frau Theresen, die Herzen der heranwachsenden Knaben- und Mädchenschar empfänglich erhalten.

Christl und Moini benützten nun schon die Schulferien, sich unter Baudrillards Führung in ihren künftigen Beruf als Fabriksherrn einzuleben. Aber wie alles richtige Herrentum mit dem Dienen anfängt, so sollte ihr Weg am Webstuhl, mit dem Werfen der Schütze beginnen.

Der muntere Mündel war dazu ausersehen, ihr Lehrmeister zu werden.

»Schauen wir halt, ob die Herrn Prinzen den richtigen Spurius für die Weberei haben,« sagte er, als Baudrillard ihm die Schüler zuführte. »Denn einen Spurius braucht man dazu, und aus einem blinden Prinzen ist noch sein Lebtag kein sehender König geworden.«

»So ganz blind werden wir hoffentlich nicht sein,« meinte Moini.

»Das hätt' ich mir von Ew. königlichen Hoheit auch gar nicht vorauszusetzen getraut,« sagte der Mundel. »Aber sicher ist sicher, und für die Gefahr bindet man einen Hund an. Deswegen muß ich mich saldieren und Ew. königliche Hoheit gleich zum voraus darauf aufmerksam machen, daß ich keinen Nürnberger Trichter nicht hab'. Prinzen erziehen ist eine hohe Ehr', aber auch ein undankbares Geschäft, ziemt mich. Denn wenn aus dem Prinzen ein guter König wird, so ist der Prinz dran schuld; wenn aber ein schlechter König draus wird, so ist die Erziehung dran schuld.«

»Wenn ich Sie nicht für einen guten Weber halten würde,« sagte Baudrillard ungeduldig, »so hätt' ich Sie nicht mit der Ausbildung der jungen Herrn betraut. Seien Sie stolz darauf und lassen Sie Ihre Späße. Erledigt!«

»No, no, no!« machte der muntere Mundel; »man wird doch noch was reden dürfen! Als der Herr auf dem Esel geritten, ist er davon nicht besudelt worden, daß der Esel sein natürlich Werk getan!«

Doll fragte Herrn Baudrillard, warum nicht auch er in die Weberei eingeführt werde?

»Mehr als zwei Herrn könnten leicht zu viel werden,« meinte Baudrillard.

Doll ging nachdenklich umher. Eines Tages fragte er die Mutter: »Was soll eigentlich aus mir werden?«

»Du wirst dir deinen eigenen Weg suchen müssen,« sagte Frau Therese.

»Ich möchte Offizier werden,« sagte Doll.

»Weshalb?«

»Damit ich gegen die Feinde des deutschen Volkes kämpfen kann.«

»Gegen welche Feinde?«

»Gegen die Polen und die Tschechen, gegen die Magyaren, gegen die Kroaten ...«

»Als österreichischer Offizier wirst du keine Gelegenheit haben, gegen Völker zu kämpfen, die unserer Monarchie angehören.«

»Ich möchte aber preußischer Offizier sein,« sagte Doll.

Das Volksgefühl, die Begeisterung für die deutschen Siege und das wiedererweckte Reich, die Schwärmerei für jene Heldengestalt, die vor seinen eigenen Augen lebendig geworden – das alles hatte die jugendlichheiße Seele verwirrt, bezaubert, in Versuchung geführt.

Frau Therese stutzte. Sie fühlte ihr Herz bis zum Halse herauf pochen. Aber sie wußte, daß sie sich beherrschen mußte, daß sie durch kein rasches Wort das edelblütige Füllen, das ungebärdig an seinem Stricke riß, abschrecken und zu trotziger Wildheit treiben durfte.

»Du hast also die Absicht,« sagte sie ruhig, »dein Voll, das deutsche Volk in Österreich, im Stich zulassen?«

»Mein Volk? ... gerade im Gegenteil!« ... stammelte Doll verwirrt.

»Du bist reif genug, um zu begreifen,« sagte sie, »daß jeder Deutsch-Österreicher, der seinen Posten verläßt, einem Slawen Platz macht.«

Doll war erblaßt wie damals, als er zum ersten Male gehört hatte, daß die Preußen Deutsche seien, und daß der Krieg ein Bruderkrieg war.

»Ich will meinen Posten nicht verlassen, Mutter!« sagte er bebend. »Aber ich will ein Deutscher sein und ein Deutscher bleiben!«

»Das sollst du!« sagte sie fest. »Und wenn du deinem Vaterlande recht dienen willst, so mußt du vor allem trachten, ein wahrer Mann zu werden, ein tüchtiger, freudiger, mutiger Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat – ein solcher verläßt und verleugnet sein angestammtes Volkstum nie und nimmer! Aber damit ist es noch lange nicht genug. Willst du als Deutscher in Österreich deinem Volke dienen, so mußt du außerdem noch stark werden, Einfluß und Macht gewinnen über viele, nicht durch Schliche, sondern durch ehrliches Recht. Es gibt genug junge Leute, die, solange sie an den Hochschulen studieren, das Wort ›deutsch‹ beständig im Munde führen, und wenn sie dann ins Leben treten, versagen sie und bleiben für ihr Volk so gut wie nutzlos. Nicht als ob sie ihrer Gesinnung untreu würden – nein! Gewöhnlich fahren sie ihr Leben lang fort, das Wort ›deutsch‹ im Munde zu führen. Aber dieses ganze Leben ist nur allzu oft schwächlich und bequem, irgendeine unfruchtbare Beamtenlaufbahn oder ähnliches. Wer seinem Volke durch die Tat dienen will, der muß neue Werte schaffen, den Wohlstand mehren, durch seine Arbeit wirtschaftlichen Segen und damit auch Bildung, Schönheit und Güte verbreiten helfen. Wer solches wirkt, der braucht sein Volk nicht laut zu lieben und keine Schlagwort im Munde zu führen – er ist dennoch ein Kämpfer und, was noch wichtiger ist, ein Sieger.«

Doll begriff den Sinn ihrer Worte, er war ein hochaufgeschossener Jüngling geworden, dessen Stimme gern nach der männlichen Tiefe umkippte. Es fehlte ihm das rechte Vertrauen in die Zukunft seines Vaterlandes, das Gemunkel politischer Schwarzseher und Wühlgeister, daß Rußland und Deutschland das alte Österreich unter sich aufteilen würden, war bis in die Schulstuben gedrungen, und vor der Landkarte stehend, hatten die mißleiteten jungen Leute die Länder der habsburgischen Monarchie reinlich sortiert und je nach der Stammeszugehörigkeit teils in den slawischen, teils in den germanischen Schnappsack geworfen. Aber das eine wenigstens wirkten die Vorstellungen der Mutter, daß Doll die Flucht aus dem nationalen Verband der engeren Heimat von nun ab als einen Bruch der Fahnentreue empfunden hätte. Nicht Begeisterung, aber liebendes Mitleid wies ihm den Platz, auf den er einmal gehören würde. Und ein Erlebnis, das in jene Tage fiel, blieb nicht ohne Einfluß auf seine spätere Berufswahl, wie es entscheidende Bedeutung für seine innere Entwicklung gewann.

Auf der bewaldeten Höhe hinter Nedweditz, die der »Hals« genannt wurde, fand zu wohltätigem Zweck ein Sommerfest statt. In der Wirtschaft, wo die geringeren Leute sich drängten und ihr Bier tranken, spielte die Feuerwehrkapelle, auf dem freien Wiesenplan dahinter gab es Volksbelustigungen aller Art, Sacklaufen, Topfschlagen und Kreisklettern, auch Schaubuden und Erfrischungszelte.

Hier sah Doll die reizende Mara Nehuda wieder, deren Vater unweit von Nedweditz eine große Zuckerraffinerie besaß. Als Kinder hatten sie manchmal miteinander gespielt, draußen, wo der Mühlgang, der die Wasserkraft für die Zuckerfabrik lieferte, über ein Wehr stürzte, in dessen Nähe auch das stattliche Wohnhaus der Familie Nehuda lag. Er erkannte sie auf der Stelle, und das Herz pochte ihm, als er sie erblickte, denn sie war ein Wunder an Schönheit und eine feine junge Dame geworden. Mit ihren jüngeren Schwestern, deren Kleinste sie auf dem Schoße hielt, hatte sie in einer der vergoldeten Kaleschen des Ringelspiels Platz genommen, während ihre beiden Brüder, Knaben von zehn oder zwölf Jahren, auf den hölzernen Schimmeln ritten, die der Prachtkalesche vorgespannt waren. So fuhr sie wie eine Königin, mit Vorreitern an ihm vorbei, im Kreise herum, es gefiel ihm, daß sie den Kindern zulieb ganz ernsthaft mittat, während andere Mädchen in dem Alter sich zierten und das harmlose Vergnügen unter ihrer Würde gehalten hätten. Als sie das drittemal vorüber kam, grüßte er und war beglückt, daß sie ihm freundlich zunickte, denn seit frühen Kindertagen hatten sie einander nur flüchtig wiedergesehen.

Die Drehorgel des Ringelspiels und die etwas entfernte Blechmusik, die in der Wirtschaft spielte, vermischten ihre Klänge, und gerade wo Doll stand, gab es einen entsetzlichen Mißton. Christl und Moini, die sich in seiner Gesellschaft befanden, gingen weiter, weil es nicht auszuhalten sei, er aber konnte sich nicht entschließen, den Platz zu wechseln, und wartete immer wieder auf das Vorüberfliegen der schönen Mara Nehuda.

Schließlich blieben die Rösser und vergoldeten Wagen stehen, und sie stieg auf der entgegengesetzten Seite aus; da sah er sie nicht mehr. Indessen traf er etwas später zufällig an einer anderen Stelle der Festwiese im Gewühl der Menschen mit ihr zusammen. In ihrer raschen, lebendigen Art redete sie ihn an und reichte ihm lächelnd die Hand, aber er verstand nicht, was sie sagte, denn sie sprach tschechisch.

»Wollen Sie nicht lieber deutsch sprechen, Fräulein?« sagte er trotzig.

»Wenn es sein muß – meinetwegen,« sagte sie; »so will ich dir zulieb deutsch sprechen, weil wir einander so lange nicht gesehen haben. Aber ›Sie‹ wirst du doch nicht zu mir sagen wollen?«

Er war ihr dankbar und bemühte sich, sie zu unterhalten. Sie plauderten über das Fest und über allerhand Dinge, die es in Nedweditz gab. Dann sahen sie gemeinsam eine Vorstellung im Wursteltheater mit an, und sie lachte sich halb krank, als der Kasperl, obgleich das Maß seiner Übeltaten gerüttelt voll war, erst die Gendarmen, dann die Teufel überlistete und gleichermaßen über die irdische wie über die himmlische Gerechtigkeit triumphierte. Die Mara Nehuda hatte sich im Gedränge von ihren Leuten verloren, sie war froh, einen Kavalier gefunden zu haben, und als eine alte Frau mit einem Teller erschien, um abzusammeln, sagte sie: »Jetzt mußt du schon so freundlich sein und für mich bezahlen, ich habe keinen Kreuzer Geld bei mir.«

Er tat es mit tausend Freuden und sagte: »Komm, wir wollen alles sehen, was es zu sehen gibt.«

Sie legte ihren Arm in den seinen, und sie gingen zur nächsten Bude. So kosteten sie bis zum sinkenden Abend alle Freuden der Festwiese durch. Wo es ein Eintrittsgeld zu erlegen gab, bezahlte er für sich und für sie, und es hatte einen eigenen Reiz für ihn, daß er es durfte. In der Dämmerung begaben sie sich schließlich zu dem Zelte, das der Nedweditzer Zuckerbäcker am Waldrand aufgeschlagen hatte. Sie nahmen an einem kleinen Tische unter Bäumen Platz, saßen einander gegenüber, tranken Schokolade und aßen Kuchen dazu.

»Schlecht geht es mir gerade nicht,« sagte sie vergnügt. »Eigentlich ist es so viel netter, als wenn ich mit den Kindern zusammensein müßte. Die lassen mich ohnedies sonst den ganzen Tag nicht los.«

»Erinnerst du dich noch,« sagte Doll, »wie wir am Wehr bei eurem Wohnhaus miteinander kleine Fische angelten?«

»Du warst besonders geschickt, sie zu fangen,« sagte sie. »Und dann praktiziertest du immer, um mir Freude zu machen, insgeheim die Hälfte deiner Beute in mein Blechgefäß herüber. Ich wußte genau, daß ich nicht so viele geangelt hatte, aber ich ließ es mich nicht merken und tat groß mit meinem Fang.«

»Wie nannten wir doch die kleinen Fische?« fragte Doll. »Der Name ist mir entfallen, ich habe mir schon öfters den Kopf darüber zerbrochen, wie sie hießen?«

»Uckelei,« sagte sie.

»Uckelei!« rief er, sich mit der flachen Hand auf die Stirn schlagend. Und sie sahen einander an und lachten herzlich.

So oft neue Gäste in den eingefriedeten Raum traten, erschrak Doll, weil er immer fürchtete, jemand von ihren oder seinen Angehörigen könnte kommen, und das holde Alleinsein mit ihr hätte dann ein Ende. Aber außer Herrn Kilian, dem Bürgermeister von Nedweditz, der Obmann des Festausschusses war und es für seine Pflicht hielt, alle Gäste persönlich zu begrüßen, sahen sie kein bekanntes Gesicht. Er trat auch an ihren Tisch heran und fragte, wie es ihnen gefalle. Er trug einen großen geschweiften Zylinder und im Knopfloch den Orden, den er für die im sechsundsechziger Jahr bewährte Umsicht erhalten hatte. Als die jungen Leute versicherten, das Fest sei reizend und sie unterhielten sich ausgezeichnet, sagte er geschmeichelt: »Man tut, was man kann« ... Und galant lächelnd setzte er hinzu: »Die Herrschaften geben miteinander ein pickfeines Paar!«

»Nicht wahr, wir passen gut zusammen?« sagte Mara Nehuda lachend.

Doll wurde rot, er betrachtete sie nur immer, er fand sie ganz entzückend. Sie war gleichaltrig mit ihm, also schon weit mehr Dame, als er Mann, aber doch noch jungmädchenhaft in ihrer Erscheinung, obgleich sie stattlich gekleidet war, nach der französischen Mode der Zeit. Das helle Sommerkleid trug sie reichlich gerafft und mit Tuniquen drapiert, ihre dunklen Augen sprühten Lebenslust, das fast schwarze, reiche Haar baute sich hoch auf, und etwas wie ein umgestülptes Körbchen, aus dem Blumen rieselten, saß als Bekrönung oben drauf. Sie ließ sich nicht nötigen und knabberte reichlich Backwerk und Süßigkeiten.

»Weißt du,« sagte sie, »so ungefähr stell' ich mir's auf einer Hochzeitsreise vor – gerade so gemütlich.«

O ihr törichten jungen Leiden, müßt ihr immer wieder dasselbe Spiel mit flüggewerdenden Herzen treiben? So hätte sie nie gesprochen, fühlte Doll, wenn sie auch nur entfernt Ähnliches empfunden hätte wie er. Er erkannte daraus, um wieviel reifer sie sich schätzte, und daß er ein Knabe in ihren Augen war. Was ihm ein Erlebnis schien, machte ihr einfach Spaß – nichts weiter.

Lichter wurden entzündet, aus der Ferne klang die Katzenmusik der durcheinanderspielenden Drehorgeln und Instrumente zu ihnen herüber.

»Warum nannten wir die kleinen Fische Uckelei?« fragte er. »Was ist das eigentlich für ein Wort?«

»Man nennt sie halt so,« sagte sie. »Es ist slawisch und bedeutet ungefähr soviel wie Weißfisch.«

»Wenn ich das gewußt hätte, so hätt' ich Weißfisch gesagt.«

»Ich finde Uckelei viel hübscher,« sagte sie.

»Warum redest du für gewöhnlich nicht deutsch?« fragte Doll bekümmert. »Ist denn tschechisch deine Muttersprache?«

»Man sagt nicht tschechisch, man sagt böhmisch,« verbesserte sie ihn.

»Warum?«

»Weil Böhmen ein Königreich für sich ist, mit eigener Sprache und eigener Krone – das lernt man doch schon in der Schule!«

»Ich habe gelernt, daß Böhmen eine Provinz ist wie jede andere,« sagte Doll zornig.

Sie erwiderte etwas, aber er konnte es nicht verstehen, denn es war abermals tschechisch.

»Sprich deutsch!« herrschte er sie an.

Sie fuhr fort tschechisch zu sprechen und lachte dabei und sprudelte unverständliche Worte hervor.

Da sprang er auf und ging davon. Er hörte, daß sie ihm folgte, sie erwischte ihn am Rockärmel und wollte ihn festhalten, aber er riß sich los und eilte weiter, durch die vielen Menschen, daß sie ihm nicht mehr nachkommen konnte. Er wollte nicht durch das ärgste Gewühl hindurch, darum vermied er die Festwiese, auf der ganze Reihen von Flämmchen aufzuleuchten begannen, und stürmte die Waldblöße hinan. Von der Höhe konnte man einen Weg erreichen, der auf der anderen Seite nach Redweditz hinabführte.

Am Waldsaum angelangt, hielt Doll stille und warf sich ins Gras, um Atem zu schöpfen. Die Festwiese zu seinen Füßen erstrahlte jetzt in hundertfältigem Lichterglanz, Papierlampions in allen Farben schmückten die Wege, auf denen man die dunkle Masse der Menschen sich bewegen sah, oder schwangen sich in Girlanden von Baum zu Baum, alle Waldränder entlang.

Nicht lange, so hörte Doll Zweiglein knacken, die Mara Nehuda, die ihn suchte, hatte ihn auf Umwegen erreicht. Sie rang nach Atem und glühte und ließ sich erschöpft an seiner Seite nieder. Nach einer Weile sagte sie: »Höre, Doll, du bist garstig und unliebenswürdig!«

Er antwortete nicht und schwieg. Unweit von ihnen kletterte eine Rakete in den Abendhimmel und fiel oben in eine Garbe blauer und roter Sterne auseinander.

Mara Nehuda klatschte in die Hände und jubelte. Sie neigte sich zu ihm über, er fühlte ihre heiße Wange, und er fühlte ihre heißen Lippen auf den seinigen brennen. Sie küßte ihn leidenschaftlich, wie wahnsinnig, sie erstickte ihn fast in ihren Küssen. Er schlang seine Arme um ihren Hals und meinte in Seligkeit zu vergehn.

»Da hast du,« flüsterte sie atemlos vom Küssen, »und da – und da – nun darfst du aber nicht mehr böse sein!«

Und nach einem letzten heißen Schauer von Küssen, mit dem sie ihn überschüttete, löste sie heftig seine Arme aus ihrem Nacken, sprang auf und lief in den dunkelnden Wald hinein. Jetzt war es an ihm, sie zu verfolgen. Er suchte sie kreuz und quer im Gestrüpp, sie neckte ihn, sie rief und lockte, manchmal sah er ihr helles Kleid im Waldesdüster hingleiten, aber er konnte sie nicht erreichen. Bald da, bald dort, wie ein Irrlicht, tauchte sie auf und entschwand. Immer weiter, immer weiter – nun begann der gepflegte Pfad, der steil abfiel, da hatte er sie ganz aus den Augen verloren.

Mit wild pochendem Herzen stand er still und lauschte.

»Doll, wo bist du?« rief sie aus der Ferne.

Atemlos hastete er bergab, auf dem Wege, der gegen das weite Feld von Nedweditz hinunterleitete.

Erst bei einer Bank, die knapp über der Zuckerfabrik auf einem kleinen Hügel stand, holte er sie ein. Er sah in der Dunkelheit ihre schlanke Gestalt, sie schien auf ihn zu warten.

»Nun bin ich zu Hause,« sagte sie. »Nun brauchst du mich nicht mehr zu begleiten, und ich brauche nicht mehr deutsch zu sprechen« ...

Sie zögerte, es war, als ob das, was sie gesagt hatte, ihr noch nicht genügend schiene, ihn zu kränken.

»Bei uns daheim spricht alles böhmisch,« sagte sie; »denn auch Mähren ist ein böhmisches Land. In der Raffinerie gibt es nur böhmische Arbeiter und Angestellte. Auch unsere Dienerschaft ist böhmisch. Der Vater sagt, es wäre ein Verbrechen gegen unser Volk, wenn er Deutschen Unterhalt und Brot geben wollte.«

»Gar ein Verbrechen?« sagte Doll bitter.

»Ja, siehst du, so ist es.«

»Dein Vater hat ganz recht,« sagte Doll. »Wenn ich einmal ein Fabriksherr und Industrieller sein werde, so soll mir auch kein Tscheche über die Schwelle kommen!«

»Gute Nacht!« sagte die Mara Nehuda.

Er sah sie langsam den Weg gegen das Wohnhaus hinunterschreiten, das in der Nachbarschaft der Zuckerfabrik lag.

*


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