Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Der Oberst hatte den Vorstellungen Frau Theresens nachgegeben und wirklich einen Teil der ausgeschriebenen Requisition erlassen. Über den Rest wurde eine ordnungsmäßige Empfangsbestätigung ausgestellt und später alles auf Heller und Pfennig ersetzt; weder die Stadt, noch die Bürgerschaft kam zu Schaden.

Übrigens hatte es vorderhand noch nicht den Anschein, als sei der Krieg wirklich zu Ende. Eines Morgens sprengte auf schaumbedecktem Pferde ein Meldereiter in den Hof, gleich darauf wurde Alarm geblasen, die Ulanen zogen ihre Rosse aus den Ställen, die Füsiliere packten ihre Tornister und traten an. Es war ein Durcheinanderrennen, wie wenn man mit dem Stock in einen Ameishaufen stöbert. Eine Stunde später war es still in der ganzen Stadt, es klirrten keine Sporen und es rasselte kein Säbel mehr. Bloß aus dem städtischen Krankenhause und der dahinter gelegenen Cholerabaracke, aus dem Schulhaus und aus der Villa des Bürgermeisters klang das Schreien der Verwundeten und das Stöhnen der Sterbenden.

Eine seltsame Stille, eine fast hörbare Stille, wie wenn eine rastlose Mühle plötzlich zu tosen aufhört, so lag es über dem verödeten Fabrikshof und über dem kleinen Garten, in welchem einzelne Blätter sich bereits gelb zu färben begannen. Auch das Klappern der Webstühle war fadenscheinig geworden, einer nach dem andern verstummte, und mancher brave Weber, der sein Leben lang hinter dem Zeugbaum gesessen hatte, rollte auf dem zweirädrigen Krankenkarren aus der Fabrik, um nie mehr dahin zurückzukehren.

»Weiß der Himmel, wie solche Üppigkeit in unsern Stand gefahren ist!« sagte der Weber, den sie den munteren Mündel nannten. »Sonst ist unsereins halt schön ehrbar zu Fuß gegangen – jetzt muß schon ein jeder Andreher seine Equipage haben wie ein vornehmer Herr! Der eine läßt sich mit der Gemeindekutsche in die Amalienruhe fahren, als ob ihm seine eigene Villa nicht mehr noblicht genug wäre, der andere gar zweispännig vor die Stadt hinaus, wo unser Herrgott seine Sommerfrischen hat. Bleibt zu Hause, Leuteln, und tut nicht aufhauen, was braucht ein ehrlicher Weber fuhrwerken? Wo er mit seinen eigenen Füßen nicht hinkommt, da soll er wegbleiben und lieber schön fleißig seine Schütze durchs Fach schmeißen!«

Mit solchen Worten suchte er sich und den Genossen das Herz zu stärken, daß die bleiche Furcht nicht mithelfen sollte, der Krankheit neuen Boden zu bereiten. Und wenn er einen sah, der die Hände in den Schoß legen wollte, weil doch alles unnütz sei und keiner wissen könne, ob er nicht morgen tot wäre, so eiferte er dagegen in seiner Art, bald spaßhaft, bald deutsam.

»Da hat neulich mein Webstuhl Mucken gehabt und halt durchaus nicht mehr weben wollen. Die Litzen sagen: wir heben nicht; die Korden sagen: wir ziehen nicht, und das ganze Geschirr ist verrüttet. Ist denn der Teuxel in das Zeug gefahren? denk' ich und schaue nach, was los ist. Ein Dutzend Kettfäden waren gerissen. Flugs dreh' ich sie an und steige auf meine Schemel. Ich bin der Weber, hab' ich gesagt, und ihr habt zu parieren! Und alles ist wieder gegangen wie am Schnürl.«

»Was soll das Geschichtet bedeuten?« fragte der Weber Nemec, der ihm zunächst saß. Er wußte schon, daß die Geschichten, die der muntere Mündel erzählte, manchmal etwas bedeuten sollten.

»Es soll bedeuten, daß wir alle miteinander nicht gescheiter sind als die Litzen und Korden, Schäfte und Platinen an einem Webstuhl. Der Weber ist unser Herrgott, er dreht die zerschlissenen Fäden wieder an und webt weiter, wenn er mag, wir haben bloß zu parieren.«

Der Weber Kernbeiß, der auch in der Nähe saß, sagte: »Wenn ich an einen Herrgott glauben tät', so brauchet ich freilich keine Angst nicht vor der Cholera zu haben. Dann könnt' ich fleißig beten und mir einbilden, es nützt was, und die Kettfäden werden schon bei einem andern reißen, nicht grade bei mir.«

»Für dich hat das Geschichtel wieder eine andere Deutung,« sagte der muntere Mündel. »Mit Beten hätt' ich meine Kettfäden nie wieder in Ordnung gebracht, ob es einen Herrgott gibt, oder nicht. Andrehen mußt du – so und so. Denn wenn du bloß dasitzen tust und darauf wartest, daß die Cholera dich holt, so kann es dir passieren, daß sich die Cholera denkt: justement nicht! und schleicht sich an dir vorbei. Nachher bleibst du am Leben und bist der Narr. Gewebt hast du nichts, verdient hast du nichts, und wenn du deine Errettung vom sichern Tod feiern willst, kannst Choleratinktur saufen statt Grinzinger.«

»Wenn ich aber andrehe und sie holt mich,« sagte Kernbeiß, »dann war die ganze Plag' für die Katz'.«

»Gar nicht für die Katz'!« sagte der muntere Mundel; »denn während du andrehst, mußt du aufpassen wie ein Haftelmacher und immer bloß an die Fäden denken. Dabei hast du keine Zeit für die Angst, und keine Angst haben ist mehr wert als drei Seidel Choleratinktur im Tag. So überlegt sich's die Cholera vielleicht noch einmal und holt dich schließlich doch nicht. Holt sie dich aber wirklich, so kannst sie auslachen; dann hast du in deine letzten Tag' wenigstens keine Angst durchzumachen gehabt, und bis die Angst anfangen will, bist eh' hin und weißt nichts mehr von dir.«

Frau Mairold freute sich, wenn sie von dergleichen Gesinnungen hörte. Sie waren nach ihrem Herzen; neuerdings hatte sie an sich selbst den unvergleichlichen Segen der Arbeit erfahren. Im Trubel der Geschäftigkeit war sie sich die ganze Zeit her der Gefahr, die sie und ihre Kinder umgab, kaum bewußt geworden. Jetzt, da es nach dem Abmarsch der Preußen wieder ein Ausruhen und Aufatmen gab, meldeten sich manchmal nagend die eigenen Sorgen, über die die Flut der sorgenden Gedanken um andere brausend hinweggegangen war. Und in der verhältnismäßigen Ruhe, die sich über Hof und Garten, Fabrik und Wohnhaus breitete, hörte man um so deutlicher die schwarzen Schwingen des Todesengels rauschen.

An einem Abend empfand Moini plötzlich Übelkeit, er wurde zu Bett gebracht, ein heftiges Erbrechen, das sich einstellte, ließ das Schlimmste befürchten. Frau Therese schob mit Hilfe Zillis die Bettstatt aus dem Bubenzimmer, der Militärarzt, den die Preußen zurückgelassen, und dem noch die meiste Erfahrung in der Behandlung der fürchterlichen Krankheit zuzutrauen war, fand sich aus Gefälligkeit ein und verordnete Choleratinktur. Das war das Arkanum der Verlegenheit, mit dem die Wissenschaft ihr ratloses Umhertappen in der Finsternis zu bemänteln suchte.

Die Nacht, während der Frau Therese bei dem Kranken wachte, ist ein Markstein in ihrem Leben geblieben.

Aber niemand braucht deshalb zu fürchten, daß diese Nacht grauenvolle Ereignisse brachte. Nein! Sie wich einem Morgen, der voll Sonne war, und mit den Nebeln des Zwielichts entflohen die Schreckgespenste. Moinis Erkrankung war von keiner Bedeutung gewesen, sie verlor sich, wie sie gekommen, ohne sichtliche Ursache. Der wiedergenesene Jüngling saß wohlbehalten und bloß mit einer Blässe, die ihm fast weibliche Anmut verlieh, mit den Geschwistern beim Frühstück und war weicher und liebevoller gestimmt, als es sonst in seiner Art lag.

»Wie die Mutzi mich gedauert hat,« sagte er, »das kann ich gar nicht aussprechen. So oft ich aufwachte, sah ich ihre großen Augen, die ganz rätselhaft und fast zum Fürchten waren.«

Kein Mißgeschick, kein Leid, kein Unglück konnte fürder kommen, ohne daß Frau Therese gedacht hätte: Was weiter? Hast du doch jene Nacht überlebt! Keine Furcht, keine den Ereignissen vorauseilende Sorge konnte sich melden, ohne den lindernden Gedanken: es haben sich damals noch schlimmere Befürchtungen als grundlos erwiesen!

»Ich habe die Choleratinktur unterschätzt,« sagte der Regimentsarzt. »Man sieht, sie wirkt doch Wunder!« Lange noch erzählte er mit einer leichten Rührung, wie er den jungen Moini Mairold, eins der klügsten Bürschchen, das er je gekannt, vom Tode errettet und seiner Mutter, der trefflichsten Frau, der er je begegnet, wiedergeschenkt hätte. Und war doch ein wohlunterrichteter und ehrlicher Mann. Um vieles später hat er sich als bescheidener Mithelfer an jenen Forschungen beteiligt, die der schrecklichen Krankheit auf den Grund zu kommen suchten. Da lächelte er über jene Lebensrettung von damals ein beschämtes Lächeln und dachte nicht daran, daß uns, wenn wir ausschließlich in menschlichem Wissen unser Vertrauen suchen, nur die engen Grenzen, die dem Leben gesetzt sind, daran hindern, immer wieder aufs neue über uns selbst zu lächeln.

Einmal hörte Doll, als er mit dem Lois Birenz durch den Garten ging, Pferdegetrappel auf dem Pflaster des Hofes, und als sie über den Zaun lugten, erblickten sie eine Koppel prächtig gesattelter Rosse, die zur Abkühlung von preußischen Soldaten umhergeführt wurden. Die Knaben liefen ans Tor und sahen sich um, wo die Reiter geblieben wären. Eine Gruppe von Offizieren kam die staubige Straße herab, aus der Richtung des Schulhauslazarettes, wo sie offenbar die verwundeten Soldaten besucht hatten. Es waren fast lauter Generale in glänzenden Uniformen, und einige hatten Schärpen um die Schultern oder die halbe Brust voll Orden.

In den Garten zurückeilend, trafen die beiden Späher die übrigen Geschwister unter den Kastanien und erzählten, was sie erlebt hätten. Doll glühte von Begeisterung, die hochgewachsenen preußischen Offiziere, die der Ruhm eines unglaublich rasch beendeten siegreichen Feldzuges umstrahlte, erschienen ihm wie Heldengestalten der deutschen Sage. Christl aber blickte finster, es empörte ihn, daß der Feind noch immer auf österreichischem Boden stand. Da sahen sie die Generale in den Garten treten und sich dem Hause nähern.

Die Mutter erschien am offenen Fenster ihrer ebenerdig gelegenen Schlafstube und sagte mit fliegendem Atem: »Geht den Herrn entgegen, ihr Buben, und führt sie ins Wohnzimmer. Ich ließe mich entschuldigen, ich hätte noch dringend zu tun, würde aber sofort erscheinen, sie zu begrüßen. Vefi bleibt hier und paßt auf Käthi!«

»Wo ist Riki?« fragte einer der Knaben.

»Sie hilft der Zilli in der Küche. Die Herrn nehmen bei uns einen Imbiß, darum gibt es alle Hände voll zu tun. Hätten sie sich ein wenig früher ansagen lassen, so wären wir pünktlicher gewesen. Nun kann ich ihnen nicht helfen, sie werden sich einen Augenblick gedulden müssen.«

Frau Therese zog sich vom Fenster zurück, sie sahen, wie sie den Säugling aus dem Körbchen in ihre Arme nahm und sich mit ihm in den gepolsterten Stuhl setzte. Zögernd schickten sie sich an, dem Auftrag der Mutter nachzukommen.

»Wie sagt man denen eigentlich?« meinte Moini. »Wenn es Generale sind, vermutlich Excellenz?«

»Ich rede überhaupt kein Wort,« sagte Christl. »Preußische Offiziere heiß' ich bei uns nicht willkommen!«

Die Generale waren bereits in den Flur getreten, die Knaben folgten und stießen und schoben einander nach rechter Bubenart, keiner wollte der erste sein. Auf einmal stand Doll vorne an. Da mußte er es übernehmen, die Honneurs zu machen; er wurde rot, verbeugte sich und sagte: »Die Mutter läßt um Entschuldigung bitten, sie kommt gleich, der Franzi muß erst noch trinken.«

Die Herren lachten, und einer der Jüngsten, der zugleich der Stattlichste war, sagte mit dem fruchtlosen Bemühen des Norddeutschen, den österreichischen Tonfall zu treffen: »Das Fran-zerl? Das wird wahrscheinlich das jüngste Brü-derl sein?«

Doll bejahte, und der junge General sagte noch, indem er seine Hand ergriff und die andere warm darüberlegte: »Ich wäre untröstlich, wenn Ihre Mutter, die so liebenswürdig war, uns einzuladen, sich Ungelegenheiten machen würde! Ist es erlaubt, so treten wir inzwischen näher?«

Der Lois Birenz öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Die Herren gingen hinein und nahmen Platz. Doll konnte keinen Blick von dem jungen General wenden, er fühlte sich von ihm wie bezaubert. Sein Haupt mit dem Prachtvollen blonden Vollbart leuchtete von männlicher Schönheit, und seine gütigen blauen Augen musterten mit freundlichem Ausdruck die Knaben, die etwas befangen vor ihm standen, durch Zufall genau nach der Größe aneinandergereiht wie die Orgelpfeifen, von Wolfi bis Christl.

»Also, das Brü-derl braucht noch die Mutter,« sagte er heiter. »Wieviel seid ihr im ganzen?«

»Acht Kinder,« sagte Wolfi, »fünf Buben und drei Mädeln.«

»Eigentlich neun,« verbesserte ihn Doll. »Der da, das ist der Neunte, er heißt aber Lois Birenz.«

»Es ist keine üble Rasse, die da heranwächst,« bemerkte der junge General zu seinen Begleitern. Hierauf faßte er Christl ins Auge, der mehr abseits stand, und sagte lächelnd: »Sie sind wohl der Alteste? Ich habe zu Hause auch ein paar Söhne ungefähr in Ihrem Alter. Wollen Sie nicht einmal nach Berlin kommen, sie zu besuchen?«

Christl war bleich. Wie ein angeborener Naturtrieb wühlte in ihm die Abneigung gegen die nordische Art, die nordische Sprache, gegen diese strengen, dunklen Uniformen, gegen diese nachschleppenden Säbel, vor denen sein Vaterland zitterte. Er holte tief Atem und sagte, starr vor sich hinsehend: »Vielleicht kommen wir einmal nach Berlin – wenn wieder Krieg ist ... Aber nicht, um Ihre Söhne zu besuchen!«

Der General stutzte.

Einer von den anderen Offizieren, der eine Schärpe quer über der Brust trug, stand rasselnd auf und machte ein paar Schritte gegen Christl. Aber der blonde Held warf ihm einen Blick zu, da setzte er sich wieder, klemmte ein Glas ins Auge und sagte verächtlich lachend: »Ein revanchelustiger junger Österreicher!«

Eine leise Verstimmung umdüsterte die Brauen des stattlichen Mannes. Er schien im Begriffe, sich von den Knaben abzuwenden, da trafen ihn die heißen Blicke Dolls, die für die Verletzung des Gastrechtes Verzeihung zu erflehen schienen. Und sogleich umfloß ihn wieder jener Zauber hoheitsvoller Güte, der ihm eigen war.

»Sind auch Sie uns böse, weil wir nach Österreich gekommen sind?« fragte er lächelnd.

»Es ist schade, daß Sie unser Feind sind,« sagte Doll. »Sie sollten nur gegen die Böhmen Krieg führen!«

Da lachte der General herzlich und meinte: »Mir wär' es auch lieber gewesen, aber wir konnten es uns nicht aussuchen ...« Ein Ernst von wunderbarer Geistigkeit kehrte in seine Züge zurück, indem er sich jetzt neuerdings an Christl wendete.

»Der Friede ist geschlossen, junger Mann, und dank der Weisheit unseres erhabenen Herrn und Königs ist es ein für Österreich ehrenvoller Friede, der keine Gebietsabtretung fordert. Der Kaiser von Österreich und der König von Preußen haben einander die Hände gereicht. Eine dauernde Freundschaft wird, so Gott will, die beiden Reiche verbinden, die einander in jahrhundertlangem Bruderzwist befehdet haben, und den Völkern eine ruhige Entwicklung gönnen. Unter solchen Umständen könnten vielleicht auch wir das Vergangene vergessen und das Kriegsbeil begraben! Meinen Sie nicht?«

Er streckte Christl die Hand hin. Der Ausdruck von Würde, Kraft und Güte in seinem von Heldenschönheit strahlenden Antlitz hatte etwas Bezwingendes. Beschämt und verwirrt legte Christl seine Hand in die des jungen Generals, und als dieser noch die Linke darbot, schlug auch Doll von Herzen ein, und die andern zögerten nicht länger. Da vereinigte er zwischen seinen starken Händen die Hände der Knaben und drückte sie warm.

Einer von den älteren Offizieren sagte halblaut zu seinem Nachbar: »Das Österreich der Zukunft schließt ein Bündnis mit Preußen!«

»Nicht mit Preußen allein,« sagte dieser. »Mit dem norddeutschen Bunde!«

»Mit dem neuen deutschen Reich, wollen wir hoffen!« sagte ein dritter fest und beinahe feierlich.

Da blickte der General auf, aus seinem hellen, klaren und doch schwärmerischen Auge brach ein Strahl wie das Leuchten seltsamer Ergriffenheit.

»Gemach, ihr Herren! Laßt uns Schritt vor Schritt setzen!«

Frau Therese trat ein, in schwarze Seide gekleidet. Sie verbeugte sich tief vor dem blonden Helden, der aufgesprungen und ihr entgegengeeilt war, und bat um Nachsicht, daß sie habe warten lassen.

Er reichte ihr liebenswürdig lächelnd die Hand und sagte mit bestrickender Schalkhaftigkeit: »Ich würde mir ein Gewissen daraus machen, wenn das Fran-zerl aus seiner gewohnten Ordnung gekommen wäre!«

»Ich sehe mich verraten,« sagte sie anmutig errötend; »aber vielleicht gerade dadurch entschuldigt. Die Pflichten der Mutter weiß auch der siegreiche Feldherr zu achten.«

»Das Kriegshandwerk zerstört, die Mütter sind es, die aufbauen, die Hoffnungen der Zukunft sind in ihre Hände gelegt, man halte die Mütter heilig!« ...

Der junge Feldherr neigte sich ritterlich und küßte Frau Theresen die Hand. Ein paar Augenblicke war es ganz still im Zimmer, die älteren Generale und die Ordonnanzoffiziere standen wie aus Eisen, stramm, ohne mit einer Wimper zu zucken, gerade als wären sie im Dienst.

»Übrigens fordert die Kühnheit unserer unerwarteten Ansage,« fuhr er in leichterem Tone fort, »eine Entschuldigung von unserer Seite. Ich habe es mir nicht versagen können, Ihnen während der kurzen Mittagsrast, die uns in diesem Orte vergönnt ist, persönlich zu danken, und wir nehmen Ihre gütige Einladung gerne an, wenn Sie gestatten wollen, daß wir sogleich nach Tisch aufbrechen, denn die Pflicht ruft uns. Ich schätze mich glücklich, als Gast, nicht als Feind in dieses Haus zu treten, dessen Herrin, wie mir berichtet wurde, es in so seltener Weise verstanden hat, in schwerer Zeit die Pflichten der Patriotin mit der Gerechtigkeit und Nachsicht gegen einen begreiflicherweise unwillkommenen militärischen Gegner zu vereinen.«

»Wenn ich die gütigen Worte Ew. königlichen Hoheit richtig deute,« sagte Frau Therese, »so ist der Friede geschlossen?«

»Er ist geschlossen,« sagte der Prinz und reichte ihr den Arm. Die Gesellschaft trat ins Eßzimmer, wo der große Familientisch für die Gäste gedeckt war. Die Knaben sahen noch, wie Frau Therese an der Spitze der Tafel Platz nahm, dann schloß Niki, die die Bedienung besorgte, die Tür, während sie ihnen mit den Augen zuzwinkerte und Zeichen gab, sich anständig zu verhalten. Es ging ihnen allmählich ein Licht auf, mit wem sie gesprochen hatten.

Eine Stunde später sahen sie den Kronprinzen von Preußen mit seinem Gefolge im Hof zu Pferde steigen und davonreiten.

Als Frau Therese gegen Abend zufällig ins Wohnzimmer trat, fand sie zu ihrer Überraschung Doll darin, der sich von den Geschwistern zurückgezogen hatte, um allein zu sein. Er lag auf dem Diwan, vergrub das Gesicht in die Hände und schluchzte, daß es einen Stein hätte erbarmen können.

Sie redete ihm zu, streichelte ihn und suchte dahinter zu kommen, was sein Herz beschwere? Aber er wollte oder konnte nichts sagen, er küßte dankbar ihre Hände, die Lippen blieben ihm verschlossen. Sie merkte zum erstenmal, daß eine seltsame Anlage, die sie an ihrem verstorbenen Manne gekannt hatte, und die Mairoldisches Erbgut sein mochte, sich auch bei Doll auszubilden begann. War es Stolz und Kälte? War es Trotz und Hang zur Einsamkeit? oder Scham? oder Überempfindlichkeit? Sie wußte die eigentliche Ursache dieser Erscheinung nicht zu deuten, die sich als eine schier unüberwindliche Scheu äußerte, sich ins Herz blicken zu lassen.

Vorsichtig und schonend forschte sie bei den andern Kindern, ob irgend etwas vorgekommen wäre? Aber es hatte sich nichts begeben, was Dolls Kummer aufgeklärt hätte. Da nahm sie den Lois Birenz beiseite, der fast unzertrennlich von Doll war, und fragte ihn geradezu, ob er etwas Näheres zu sagen wüßte? Der dachte eine Weile nach und meinte schließlich, er wüßte bloß das eine, daß Doll ganz überwältigt und begeistert von dem jungen preußischen General gewesen sei, der am Vormittag mit ihnen gesprochen hätte.

»Deswegen heult man doch nicht?« sagte Frau Therese.

»Nein, das ist wahr,« sagte Lois; »deswegen heult man nicht.«

Sie überlegte. Es kam ihr auf einmal vor, als ob der Lois Birenz dennoch eine richtige Fährte angedeutet haben könnte.

»Du zum Beispiel würdest doch deswegen nicht weinen?« wiederholte sie.

»Nein, ich nicht!«

»Und Doll?«

»Der ist wieder ein ganz anderer Mensch.«

»Was bist du also eigentlich für eine Gattung Mensch?«

»So einer wie diese massiven hölzernen Zampelstühle, wissen Sie, von denen noch einige da sind. Der Doll aber, der ist mehr wie so eine Jacquardmaschine mit feinen Platinen, die sich leicht verbiegen, wenn einer nicht Obacht gibt.«

Sie lächelte und sah ihm nachdenklich in die aufgeweckten dunklen Augen.

»Wir wollen den Doll sich selbst überlassen und nichts darüber reden,« sagte sie, das Gespräch abbrechend.

Der Lois wollte gehn, aber sie nahm ihn bei der Hand und hielt ihn fest.

»Was willst du eigentlich werden, Lois?«

»Fabriksarbeiter, aber ein besserer – so wie der Vater einer war!«

»Ob du ein besserer wirst, das wird von dir abhängen. Zuerst heißt es einmal in eine ordentliche Schule gehn. Lernst du gern?«

»Sehr gern!«

»Wir übersiedeln wie jedes Jahr im Herbst nach Wien. Wenn du magst, kannst du mitkommen.«

»Das möcht' ich freilich,« sagte der Lois strahlend.

»Also abgemacht!«

Wie närrisch lief der Lois in den Garten, stellte sich hinter ein Gebüsch, legte die Hand an den Mund und quakte wie ein Frosch. Alsbald meldete sich ein wirklicher Frosch, dem er schon seit längerer Zeit auf der Spur war, und quakte auch. Vorsichtig anspringend näherte sich der Knabe, und jedesmal, wenn der Frosch zu quaken aufhörte, hielt er inne und stand still wie eine Mauer. Der Frosch hatte ein Zweiglein knacken hören und lauschte mißtrauisch. Aber weil eine ganze Zeitlang sich nichts rührte, so dachte er: »Es hat weiter keine Gefahr, und quaken brauche ich auch nicht mehr, der freche Rivale scheint Fersengeld gegeben zu haben.« Und war eben im Begriffe, seine Schallblase gemächlich wieder einschrumpfen zu lassen, als neuerdings ein herausforderndes »Qua, qua, qua« ertönte. Da ärgerte sich der Frosch, daß er beinahe geplatzt wäre. »Dem Stümper muß ich doch zeigen, wie ich es kann!« dachte er und fing wie wahnsinnig zu quaken an: »Qua, qua, qua, qua, qua ...«

Grün wie feuchtes Laub, saß er auf seinem grünen Läublein, bloß die große Schallblase, auf die er sehr stolz war, hatte eine gelblich-weiße Färbung, und die hervorgequollenen Augen, auf die er noch viel stolzer war, glänzten wie ein Paar Perlen aus schwarzem Bernstein. Da zappelte er plötzlich in einer heißen und eklig trockenen Hand, daß er fast meinte, in einen Backofen geraten zu sein.

Der Lois Birenz lief zu Doll, setzte den Laubfrosch auf den Boden und rief: »Doll! Ich darf mit dir nach Wien! Hier hab' ich dir was gefangen!«

Den Doll stieß noch der Bock, wie einen, der stark und lange geweint hat. Und jedesmal, wenn er »hup« machte, hüpfte der Frosch auf dem Boden. So ging es jetzt wechselweise: Hup! hup! – Hup! hup! – Hup! hup! ...

Schließlich fingen die beiden Freunde zu lachen an und konnten fast nicht mehr aufhören zu lachen. Zwischenhinein klang freilich noch ab und zu ein nachhinkendes »Hup«, aber wenn dann der Freudenfrosch wie auf Kommando einen Hupfer machte, so mußten sie immer noch mehr lachen. Und das geheimnisvolle Weh Dolls war wie weggeblasen.

*


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