Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Ein paar Tage später flog es wie ein Lauffeuer durch den ganzen Ort: »Die Preußen kommen!« Da waren die Knaben nicht mehr zu halten und liefen in den Regen hinaus, und Riki und Vefi liefen ihnen nach; bloß die kleine Käthi, die eifrig damit beschäftigt war, Glasperlen aufzufassen, und der noch kleinere Franzl, der den Schlaf des Gerechten schlief, ließen sich nicht alarmieren und blieben im Hause zurück.

Anschließend an das große Tor des Fabrikshofes war eine langgestreckte ebenerdige Kote in die Mauer eingebaut, in welcher der alte Hummer wohnte. Die niedrigen Fenster gingen nach der Straße, wie aus einer Theaterloge sah man die Soldaten vorübermarschieren. Der alte Hummer war Torwart, Hausmeister, Gärtner und Nachtwächter in einer Person, und die Hummerin, die sich eine Ehre daraus machte, daß sich nicht nur die Kinder, sondern auch Herr Baudrillard und sogar Frau Therese in ihrer geringen, aber nett und sauber gehaltenen Stube eingefunden hatten, sagte, während sie mit dem Fürtuch über Tisch und Stühle wischte: »Unordentlich ist es halt bei uns, aber sehen tut man gut.«

Schwer und müde hallten die Schritte, wie die abgehetzten Truppen durch den Straßenkot trotteten, verdrossene Mienen unter den blauen Feldmützen, die nassen Monturen von Schmutz starrend, die Gewehrläufe nach unten. Ununterbrochen goß der Regen nieder.

»Das sind die verflixten Zündnadelgewehre,« erklärte der alte Hummer, der selbst Soldat gewesen war. »Aber es muß ordentlich Berliner Blau dabei sein, von außen schauen sie auch nicht viel anders aus als unsere Vorderlader.«

Herr Baudrillard sagte: »Schießen werden sie doch ein bissel anders als die österreichischen Gewehre, die man noch mit dem Ladstock laden muß!«

»Die haben auch einen Ladstock!« behauptete der alte Hummer, die Gewehre der vorbeimarschierenden Soldaten mit Kennerblick musternd.

Moini, der viel in den Zeitungen las, bemerkte, auf die Ausrüstung allein komme es auch nicht an. Wegen der Zündnadelgewehre wäre noch lange kein Königgrätz notwendig gewesen. Aber in der Oberleitung sei so gut wie alles versehen worden, das wisse heute jedes Kind.

»Die Schlamperei war echt österreichisch,« sagte er.

Frau Therese wendete den Blick.

»Echt österreichisch? Das hört man wohl oft aussprechen und liest es sogar gedruckt. Vornehm – wenn ein Österreicher in Zeiten der Not ein solches Wort wiederholt!«

»Du hast es neulich selbst gesagt: meistens ist es halt doch der Ungeschickte und Unbedachte, der den kürzeren zieht.«

»Daß die österreichischen Waffen auch siegreich sein können, das hat der Tag von Custozza gezeigt,« sagte Frau Therese.

»Wohin marschieren jetzt die Preußen, Mutzi?« fragte einer der Knaben.

»Vermutlich gegen Wien.«

»Die sehen nicht aus, als ob sie Wien erobern wollten,« meinte Baudrillard.

»Wer weiß, wie lange sie schon so im Regen marschieren?«

Ob sie jetzt Wien bombardieren würden? wollte Doll wissen. Aber Christl meinte, dazu müßten sie erst schweres Geschütz herbeischaffen. Die reinen Hexenmeister wären diese Preußen doch nicht!

»Aushungern werden sie die Stadt,« behauptete Baudrillard. »Die Zufuhr abschneiden und aushungern. Erledigt!«

»Erst müßten sie dort sein,« sagte Frau Therese. »Wie es heißt, sammelt der Benedek das geschlagene Heer um Olmütz. Sicher stellt er sich ihnen noch einmal in den Weg.«

Christl brannte das Herz vor Vaterlandsliebe. Da draußen marschierten die Preußen!

»Schade, daß wir jetzt nicht in Wien sind! Ich ginge zu den Freiwilligen; jeden Tag sind Aufrufe in der Zeitung, aber es tröpfelt bloß so, niemand will mittun.«

Am Fenster hing ein schwarz-gelb gestrichenes Schilderhaus, das das Wetter anzeigte.

»Bei uns ist es geradeso wie bei diesem Wetterhäuschen,« sagte Moini. »Solange die Sonne scheint, steht der Soldat mit dem aufgepflanzten Bajonett da; sobald aber Regenwetter einfällt, muß der Herr mit dem Zylinderhut und dem Regenschirm heraus.«

Baudrillard lachte.

»Ganz unrichtig ist es nicht, was der Moini sagt. Im Frieden, da haben wir die Militärwirtschaft, der Bürger muß ducken und das Maul halten; bloß zum Steuerzahlen ist er da, genau wie vor dem Achtundvierzigerjahr. Jetzt, weil es schief geht, rufen sie den Landsturm auf, die Bürgerwehren und sogar Freiwillige aus dem Volk!«

»Daß die Wiener Bevölkerung sich benimmt, als ginge der ganze Krieg sie nichts an, das kann mir nicht gefallen,« sagte Frau Therese ablenkend.

»Ich habe mich auch gewundert,« sagte Baudrillard. »Ein Maskenfest mit Musik und Tanz beim Schwender – an demselben Tage, wo die Nachricht von der Schlacht bei Königgrätz in Wien eintraf! Aber freilich, so lang der Staat nichts ist als eine Handvoll feudaler Herren, so lange kann man vom Volk keinen Patriotismus verlangen.«

Der alte Hummer hatte es gehört und stellte sich in Positur.

»Entschuldigen schon mit allem schuldigen Respekt, Monsieur Herr von Baudrillard, aber der Patriotismus, der gehört sich halt einmal für einen ordentlichen Österreicher, indem, daß der Österreicher seinen Kaiser hat. Und das ist kein hergeloffener Kaiser wie der Napoleon, der was sein Käppi herunternimmt, wenn er salutieren tut, und den man wieder schassieren kann, wenn man ihn satt hat.«

»Im Unglück sollten freilich alle Österreicher zu ihrem Kaiser stehn,« meinte Frau Therese mit einem Seufzer.

»Tun sie auch!« sagte der alte Hummer eifrig. »Und wenn ein paar windige Tschechen und Ungarn sich von den Preußen aufhussen lassen oder ein paar Wiener Strizzi zum Schwender auf die Gaudi gehn, so ändert das daran kein Haar!«

»Haben die Soldaten alle einen Schnupfen Mutzi?« fragte Vefi, die kein Auge von den vorbeiziehenden Truppen wendete.

»Warum?«

»Weil du immer sagst, daß man Schnupfen bekommt, wenn man in den Regen hinausläuft.«

Baudrillard lachte, daß ihm das Bäuchlein wackelte; beim Sprechen hätte niemand ihm den geborenen Franzosen angemerkt, aber wenn er lachte, so geschah es auf französisch, und die kleinen Laute, die er dabei ausstieß, waren wie eine fremde Sprache.

Doll hatte eines der Fenster geöffnet, um besser zu sehen; ein Mann trat aus der Reihe und bat um Wasser. Er war in Schweiß gebadet, durch den langen Marsch in der feuchtschwülen Sommerluft, mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken.

»Waren Sie in der Schlacht bei Königgrätz?« fragte Christl.

Er nickte ein paarmal mit dem Kopf, schwieg aber, während er sich mit dem schmutzigen Taschentuche den Schweiß von der Stirn trocknete.

Schnell hatte die Hummerin Krug und Trinkglas gebracht, Riki goß ein und reichte ihm die ersehnte Labung.

»Gehören Sie zur Armee des Prinzen Friedrich Karl?« fragte Frau Therese.

Der Mann leerte das Glas auf einen Zug. »Wir sind keine Preußen,« sagte er, bat um ein zweites, und erquickt aufatmend, nachdem er auch dieses geleert hatte, wiederholte er: »Nein, Preußen sind wir nicht, überhaupt keine Feinde. Sachsen sind wir!«

Er bedankte sich und lief seiner Abteilung nach, um wieder in Reih und Glied zu treten.

»Sachsen!« rief Baudrillard. »Bundestruppen!«-

Er suchte nach seiner Zigarrentasche und hielt die wenigen Zigarren, die sich darin fanden, auf der flachen Hand zum Fenster hinaus.

»Sind die Sachsen auch Deutsche?« fragte Doll.

»Sie sind Deutsche, ebenso wie die Preußen,« sagte Frau Therese.

»In der Schlacht bei Königgrätz haben also Deutsche gegen Deutsche gefochten?«

»Leider. Übrigens besteht die österreichische Nordarmee nur zum geringen Teil aus Deutschen.«

»Sind denn nicht alle Österreicher Deutsche?«

»Das siehst du doch in unserer Fabrik, daß mehr als die Hälfte von den Arbeitern Böhmen sind.«

»Ich mag die Böhmen nicht leiden!« sagte Doll.

Der Zug der Soldaten war zu Ende, einige militärische Fuhrwerke rasselten noch hinter ihnen drein, und ein paar sächsische Offiziere, die sich im Orte länger aufgehalten haben mochten, sprengten in scharfem Trab vorüber – dann lag die Straße wieder still und öde unter dem rieselnden Regen.

Der alte Hummer, der auf gute Formen hielt, geleitete Frau Therese noch bis an die Schwelle seines Hauses und entschuldigte sich, daß es bloß Sachsen gewesen waren. Und als sie lachte und meinte, dafür könne er doch nichts, da sagte er, sich in militärischer Haltung verabschiedend: »Das nächstemal, wenn sich Frau Mairold wieder die Ehre geben wollen, unser niedriges Dach zu betreten, werden es sicher schon richtige Preußen sein!«

»Bemühen Sie sich nicht,« sagte sie gutmütig scherzend; »die Zündnadelgewehre kommen noch früh genug!«

Die beiden Mädchen sprangen, das Kleid über den Kopf geschlagen, in den Regen hinaus und liefen kreischend über den Hof. Wolfi folgte ihnen, während die zwei ältesten Knaben unter den Regenschirm der Mutter flüchteten, sich beiderseits an ihren Arm hängend. Doll aber ging, ernst und nachdenklich geworden, neben ihnen her, des Regens nicht achtend.

»Werden wir auch einmal mit den Böhmen einen Krieg führen, Mutzi?« fragte er.

»Es kann sein,« sagte Frau Therese. »Aber hoffentlich nicht mit Säbeln und Gewehren.«

»Bloß mit Kanonen?«

»Auch nicht mit Kanonen, überhaupt nicht mit Mordwaffen. Ich denke an keinen blutigen Krieg, ich meine einen friedlichen Kampf, mit Werkzeugen aller Art – mit der Weberschütze zum Beispiel.«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Doll.

»Ihr könnt mit mir kommen, ich wollte ohnedies einen Gang durch die Fabrik machen.«

Sie traten in das zwei Stock hohe Fabriksgebäude, welches den Hof an den beiden Seiten, die nicht durch den Garten und die Straßenmauer begrenzt waren, im rechten Winkel umschloß.

In den großen, lichten Sälen, durch die sie schritten, surrte und klapperte das Geräusch der Arbeit. Ganze Reihen von Haspeln, die schimmernde Seidensträhne in den ausgebreiteten Armen hielten, drehten sich wie im Tanze, manche bedächtig und manche geschwinder, und hie und da überkam einige die Lust, daß sie nicht mehr zu halten waren und eine rasende Tarantella tanzten. Dann verschwammen die Farben der Seidensträhne, die sie gleich Blumengewinden in den Händen schwangen, wie zu einer Fläche, gerade als würden buntseidene Sonnenschirme, rote, blaue, grüne und gelbe, fröhlich um und um gewirbelt. Die schweren, bedächtigen Spulmaschinen kollerten und rollten und ließen die glänzenden Fäden schön gleichmäßig auflaufen, auf Hunderte und Hunderte von Spulen, die zusehends dicker und dicker wurden, wenn man eine Weile dabei stand, wie walzenförmige Raupen, die sich gierig vollfressen und ewig nicht genug bekommen können. In anderen Sälen wieder bewegten sich die hohen, tonnenförmigen Schweifrahmen, die bis an die Decke reichten und sich schillernde Schärpen in allen Farben um die Bäuche wickelten, indem sie die Fäden von den Spulgestellen wie mit einer menschlichen Hand an sich zogen und zusammenfaßten, um allen die gleiche Länge zu geben und eine ordentliche Kette zum Verweben vorzurichten.

Geräte und Maschinen wurden noch mit der Hand betrieben wie zu Väterszeiten, nur daß alles vervielfältigt war und ins Große ging und die einzelnen Hantierungen, auf viele Personen verteilt, sich gegenseitig ergänzten, um dem gemeinsamen Sinne zu dienen, der durch Vereinfachung der Handgriffe nach rascherer und genauerer Arbeit strebte. Frau Therese kannte die meisten von den Winderinnen, Spulerinnen und Schweiferinnen, die an den hölzernen Kurbeln und Rädern standen oder wachsam zwischen den schnurrenden Spulen auf und nieder gingen, sich gegenseitig in die Hände fördernd. Für viele hatte sie einen freundlichen Blick, ein aufmunterndes Wort bereit, für andere eine kurze Bemerkung, die auf dieses oder jenes Versehen aufmerksam machte, für einige eine strenge Zurechtweisung, wo sie auf Nachlässigkeit stieß.

»Wie geht es der Mutter, Juli?« wendete sie sich an ein flinkes junges Fabriksmädchen, das eine Spülmaschine bediente.

Sie hatte die Juli Schafzahl zur Firmung geführt und stand deshalb in einem besonderen Verhältnis zu ihr. Die alte Schafzahlin aber, die Mutter Julis, die früher in der Mairoldschen Fabrik als Winderin in Verwendung gestanden hatte, war vom Teufel der Unzufriedenheit aus dem Tempel getrieben und einem Konkurrenzunternehmen in die Arme geführt worden, das ein gewisser Millechner vor wenigen Jahren in Nedweditz begründet hatte. Der Millechner, der ein Anfänger war, betrieb die Politik, die besten von den Mairoldschen Arbeitern und Arbeiterinnen abspenstig zu machen und durch allerhand Versprechungen an sich zu ziehen. In diesen Kriegszeiten aber hatte er die Flinte ins Korn geworfen und den Betrieb eingestellt. Frau Therese wußte es.

»Was macht die Mutter?« wiederholte sie, als die Juli Schafzahl verlegen schwieg.

Da kam es heraus: halb verrückt war die alte Schafzahlin geworden, weil sie den ganzen lieben Tag nichts anderes zu tun hatte, als sich vor den Preußen und vor der Cholera zu fürchten. Dazu die Sorge um den täglichen Unterhalt; denn von dem, was die Juli verdiente, konnten unmöglich zwei Menschen satt werden, bei der herrschende; Teuerung.

»Sag ihr halt, sie soll wieder kommen – aushilfsweise, verstehst du. Wenn der Millechner wieder aufsperrt, so kann sie dann wieder gehn.«

Das Mädchen haschte nach der Hand ihrer Patin, sie zu küssen.

»In der Not müssen alle Menschen zusammenhalten,« sagte Frau Therese.

Als sie die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufstiegen, fragte Doll: »Können wir auch an Cholera krank werden, Mutzi?«

»Jeden kann es treffen. Gott beschütze euch Kinder!«

»Die alte Schafzahlin hätt' ich nicht wieder aufgenommen,« sagte Moini. »Die soll beim Millechner bleiben.«

»Es gibt eine Gerechtigkeit,« sagte Frau Therese, »die heißt: Aug' um Aug', Zahn um Zahn. Sie ist schon viele tausend Jahre alt, und wenn sie für uns noch immer gut genug wäre, so müßten die Menschen sich wenig verändert haben.«

»Gott selbst ist auch schon viele tausend Jahre alt,« sagte Moini.

»Mit jedem Menschen, der ihn besser erkennt, wird er neu geboren,« sagte die Mutter.

Sie öffnete eine Tür, da ratterten die Webstühle, die in dem großen Saale standen. Wie hölzerne Gerüste, um ein kleines Haus zu bauen, türmten sie sich in langen Reihen hintereinander, aber nichts war leblos an ihnen, alles in Tätigkeit, alles in Bewegung, sinnvoll und gemessen, als hätte ein Zauberer großen, schwerfälligen Tieren mit Knochen, Muskeln und Nerven seinen Willen eingehaucht, daß sie gehorsam ihre ungefügen Glieder in den Dienst der menschlichen Arbeit stellten. Die Weber, die vor dem Zeugbaum saßen, traten mit den Füßen auf die Weberschemel, da stiegen die Schäfte mit den Litzen hoch und hoben aus der flach gespannten Seidenkette eine Anzahl Fäden, bis die Schütze mit dem Einschlagfaden hindurchgezogen war. Dann schlug die Weberlade den eingewobenen Faden fest, und der Weber trat den anderen Schemel, daß wieder andere Kettfäden hoch stiegen und die Schütze zurückfliegend einen neuen Schußfaden eintragen konnte. So ging es ununterbrochen auf und ab und hin und her, mit Rattaplamtschinn und Rattapumtschinn, den ganzen langgestreckten Saal entlang. Und ebenso im nächsten Saale und ebenso im dritten und im vierten, daß man hindurchschreitend vor lauter Getöse kaum sein eigenes Wort verstehen konnte.

An einem Stuhle, auf dem ein schwerer schwarzer Atlas gewebt wurde, wie eine sternlose Nacht anzuschauen, hielt Frau Therese inne.

»Wieviel haben Sie fertig gebracht, Nemec?«

Der Weber ließ die Schütze ruhen und hob dreimal beide Hände mit ausgespreiteten Fingern: »Dreißig Ellen!«

Sie traten an den nächsten Stuhl. Da saß der muntere Mundel, der schwarzes Zeug genau von der gleichen Art webte und den Knaben zunickte, denn sie kannten einander. Er war früher in Wien Arbeiter in der Bornschbögelschen Fabrik gewesen und hatte sich nach dem Rücktritt des alten Herrn nach Nedweditz gewendet, weil er Herrn Thom Bornschbögel nicht leiden konnte.

»Wenn man schon schwarzen Razimor webt,« pflegte er zu sagen, »so will man wenigstens hie und da ein freundliches Gesicht sehen.«

Frau Therese wendete sich an ihn mit der gleichen Frage, wieviel er fertig gebracht hätte?

»Fertig?« sagte der muntere Mündel. »Fertig bin ich noch lange nicht!« Und schleuderte seine Schütze.

Wie weit er mit seiner Arbeit gekommen sei? wiederholte Frau Therese.

»Ja, weit ist es gekommen mit der Arbeit!« sagte der muntere Mundel. »Gasierten Baumwollenzwirn heißt es jetzt einschießen, statt gute Tramaseide.« Und schleuderte seine Schütze.

»Wie viele Ellen haben Sie gewebt?« schrie ihm Christl ins Ohr.

Da ließ er die Schütze ruhen und zeigte es wie der erste Weber mit den ausgespreitzten Fingern der Hand, aber bloß mit der einen Hand; und die legte er mit dem Daumen an die Nase und klappte sie siebenmal auf und zu, während er Christl dabei schalkhaft zublinzelte.

»Fünfunddreißig Ellen?« fragte Christl lachend.

Da nickte Frau Therese und zeigte ihren Knaben den walzenförmigen Kettenbaum, auf dem die prächtige, glänzendschwarze Seide aufgewickelt war, und wie die Kette von da aus, schimmernd gleich dem Gefieder eines Raben, als ein breiter, glatter Strom von Tausenden von Fäden durch den ganzen Stuhl hindurch dem Weber in den Schuß lief. Hierauf hieß sie die beiden Weber aufstehn und den unten angebrachten Schrank öffnen, wo eine zweite Walze sich befand, auf der der fertig gewebte Stoff sich aufwickelte.

Und sie machte die Knaben aufmerksam, wie bei dem einen Weber, den sie Nemec genannt hatte, der Kettenbaum noch dicker war als der Stoffbaum, bei dem munteren Mündel hingegen, der mehr Kette verwebt hatte, der Stoffbaum anzuschwellen begann, dass er den Kettenbaum an Umfang bereits übertraf.

Aber es war zu viel Lärm in den Sälen, als dass sie weitere Erklärungen hätte hinzufügen können.

Darum sagte sie bloß: »Merkt, was ihr gesehen habt, wir wollen später darüber sprechen.«

»Wünsch' wohl gespeist zu haben,« sagte der muntere Mündel und setzte sich wieder.

In diesem Stockwerk des Fabriksgebäudes wurden nur glatte und einfarbige Gewebe hergestellt, geköperte und atlasbindige, samtartige und gazeartige.

Mit wachem Blick ging Frau Therese zwischen den Stühlen hin, manchmal blieb sie stehen, um eine Erkundigung einzuziehen, oder weil sie eine Kleinigkeit zu erinnern fand, manchmal bloß deshalb, weil die Schönheit des Gewebes ihren Blick festhielt, oder der Zauber der Farbe ihre Sinne bestrickte.

Denn allenthalben quoll es wie Frühlingspracht unter den Weberrieten hervor, es gab Seidenstoffe, die wie Rosenbeete blühten, oder wie gelbe persische Ranunkel, oder wie purpurviolette Hyazinthen, andere waren zart, schneeweiß und rein wie Gladiolen, andere dunkelblau wie Akeley oder amethystfarben wie Irisblüten, noch andere glühten gleich dunkelscharlachroten Anemonen, oder jauchzten feuerrot wie Kapuzinerblumen, oder klagten in der düsteren Pracht der schwarzpurpurnen Trauercalla.

Nachdem sie alle Säle durchschritten hatten und auf der andern Seite wieder auf die Treppe gelangt waren, die in das zweite Stockwerk führte, sagte Frau Therese: »Ihr habt die Weber gesehen, die beide an dem gleichen schweren schwarzen Stoffe weben. Sie haben beide an demselben Tage die aufgebäumte Kette übernommen, es webt ein jeder an seinem Stück die gleiche Zeit, und das Gewebe, das sie liefern, ist bei beiden gleich schön und gut. Bei dem Nemec aber ist der Stoffbaum noch schmächtiger als der Kettenbaum; bei dem munteren Mündel dagegen umgekehrt der Kettenbaum bereits schmächtiger als der Stoffbaum. Was ist daraus zu erkennen?«

»Daß der muntere Mündel in derselben Zeit mehr Kette verwebt hat als der Nemec,« sagte Moini.

»Und daß also dieser der Fleißigere oder Geschicktere ist,« sagte Christl.

»Ganz richtig. Und welchem gebührt der Preis?«

»Dem Mündel, der in derselben Zeit mehr fertig gebracht hat.«

»Er ist ein Deutscher,« sagte Frau Therese, »der andere dagegen ein Böhme.

Wenn wir Deutschen in allem und jedem um soviel tüchtiger sein werden, als dieser deutsche Weber jenen böhmischen an Fleiß und Geschicklichkeit übertrifft, so wird der Vorteil auf unserer Seite sein. So meinte ich es, als ich vorhin sagte, man könne auch mit der Weberschütze einen Kampf kämpfen und einen Sieg erringen. Verstehst du es jetzt, Doll?«

»Ja,« sagte Doll, »ich versteh' es ganz gut; aber ich kann nun einmal die Böhmen nicht leiden.«

»Mir stehen auch die Deutschen näher, weil ich selbst eine Deutsche bin,« sagte Frau Therese; »aber Zu- und Abneigungen sind keine Waffen, nur was geleistet wird, zählt. Darum haben wir Deutschen in Österreich, wenn wir unser Volk lieben, die Pflicht, das Beste, das in uns ist, zu entwickeln und auszubilden, damit wir aufrechte und brauchbare Menschen werden.«

»Einem Fabriksherrn kann es überhaupt gleichgültig sein, ob Deutsche oder Böhmen in seiner Fabrik arbeiten,« sagte Moini; »es kommt bloß darauf an, daß es gute Weber sind.«

»Solang ich gute deutsche Weber fände, würde ich keinen Slawen nehmen,« sagte Christl.

»Die Hauptsache wäre, überhaupt weniger Arbeiter zu brauchen,« meinte Moini.

»Auf der kleinen Reise, die wir im Vorjahr mit dem Großvater machten, Christl und ich, haben wir in Mährisch-Schönberg eine große mechanische Leinenweberei gesehen. Warum werden nicht auch für die Seide Kraftstühle verwendet?«

»Man hat schon vielerlei Versuche angestellt, aber noch keine befriedigende Lösung gefunden,« sagte Frau Therese.

»Indessen muß es sicher noch dazu kommen. Wenn ihr einmal herangewachsen seid und die Fabrik übernehmt, Christl und du, so könnt ihr euch mit der Frage beschäftigen.«

»Ich werde bloß mechanische Stühle einrichten,« sagte Moini, »und jeder soll hundertmal so viel weben wie ein Handarbeiter. Wenn es mit Leinen geht, so muß es auch mit Seide gehn.«

»Es soll mich freuen, wenn du es zustande bringst,« sagte die Mutter lächelnd.

Im obersten Geschoß, in das sie jetzt eintraten, wurden die gemusterten Stoffe hergestellt.

Die Webstühle, die auch hier noch durch Handarbeit betätigt wurden, waren alle mit Jacquards versehen, und ein einziger Tritt, den der Arbeiter bewegte, setzte den Mechanismus, der fast so klug war wie ein Mensch, in Bewegung, daß er die Platinen hob oder fallen ließ, an denen die Korden befestigt waren, und damit auch die Seidenfäden der Kette, die wieder an den Korden hingen, hochzog oder flach liegen ließ, genau im Rhythmus, wie die Verschiedenheit der Musterung es erheischte. Und jedesmal, wenn wieder eine Anzahl Fäden aus der wagrecht ausgespannten Seidenkette emporgehoben wurden, schoß der Weber aus der Hand oder aus einer seitwärts angebrachten Schnellvorrichtung die Schütze durch das also gebildete Fach und schlug den eingetragenen Faden mit der Weberlade fest.

Aufmerksam schritten die Knaben an der Seite der Mutter durch die hellen Säle und hatten ihre Freude an den prächtigen und mannigfach gemusterten Seidenzeugen, die aus der kunstfertigen Hand der Weber hervorgingen. Da gab es einfarbige Damaste in reicher Zeichnung, die sich nur durch die Verschiedenartigkeit der Körnung aus dem satten Grunde abhob, und Modestoffe mit Dessins in allen erdenklichen Formen und Farben, schimmernde Brokatelle und Seidengaziere in schwarz, violett und grau, oder in den hellen Abstufungen von dunkelrosa bis zu weiß, über die eine verschwenderische Hand Tupfen und Streifen, Sterne und Kreise, Blätter und Früchte, Ranken, Strahlen und Wellen oder den jungen Blütenflor der Wiesen und Gärten ausgestreut zu haben schien.

Frau Therese blieb stehen. An einer dieser Jacquardmaschinen saß ein bärtiger Mann und webte, ein Junge, im Alter Dolls etwa, stand neben ihm und sah ihm zu. Der Mann blickte auf und nickte stumm und ernst einen Gruß, ohne mit Weben einzuhalten.

»Wie geht es Ihrem Weib, Birenz?« fragte Frau Therese.

Er gab keine Antwort und fuhr fort, seine Schnellschütze zu schleudern. Ein Tropfen kollerte über seinen Bart. Wie im größten Zorn schleuderte er seine Schütze, hin und her, her und hin, und ratterte mit dem Jacquardtritt.

»Die Mutter ist gestorben,« sagte der Junge schüchtern.

Da hörte der Birenz zu weben auf und weinte in die hohle Hand.

»Was soll jetzt mit dem Lois geschehen?« fragte Frau Therese.

Aus großen, scheuen Augen sah der Junge zu Frau Mairold auf.

»Haben Sie niemand, der sich um den Buben annimmt?«

»Wir haben keinen Menschen!«

»Er kann mitkommen und einstweilen bei meinen Knaben bleiben,« sagte Frau Therese.

Wie taub saß der Mann da und rührte sich nicht.

»Willst du mit uns kommen, Lois?« fragte sie und streckte ihm die Hand hin.

Der Bub legte zaghaft seine Hand in die ihrige, durch den Schrecken, der sich auf seinen Zügen malte, brach es wie ein Lichtstrahl.

Da stand der Birenz schwerfällig auf und wollte sich Frau Mairold nähern, um ihr zu danken. Sie erschrak heftig, als sie in sein Gesicht blickte, und wich unwillkürlich vor ihm zurück.

»Sie sind selbst krank!« rief sie entsetzt.

Er wankte und mußte sich an seinem Webstuhl festhalten.

»Ich hab' gemeint, ich könnt's überwinden.«

In demselben Augenblick schlug er wie ein Stück Holz zu Boden und wand sich in Krämpfen. Arbeiter sprangen herzu und bemühten sich um ihn. Schreckensrufe schnitten durch den Saal, eine eiskalte Hand griff in die Triebwerke, die Stühle hörten auf zu rattern, und es wurde totenstill. Man trug den Birenz aus dem Saal, aus allen Stockwerken eilten die Leute herbei, wie Mücken durch die Gefahr angezogen, der sie entfliehen wollen, und liefen durcheinander, wahnsinnig vor Angst.

Eine Zeit stand Frau Therese zu Stein erstarrt, die Knaben umfangend, die sich an ihre Knie drängten. So ist die Mutter für alle Zeit gebildet, die vor den Pfeilen des Gottes ihr Liebstes am sichersten durch den eigenen Leib zu decken glaubt.

Jetzt raffte sie sich auf und floh, die Knaben mit sich ziehend, durch den Saal zurück. Die andere Treppe war leer geblieben. Sie eilten hinunter und kamen ins Freie. Im Hofe klang die Stimme Baudrillards, der Anordnungen traf. Schon wurde der zweirädrige Karren, auf dem der Sarg aus braunem Wachstuch schwankte, über das Pflaster gerollt. Rasch bog Frau Mairold gegen den Garten ab, hieß Christl, Moini und Doll vorausgehn und folgte, den kleinen Lois Birenz an der Hand führend.

Es treten auch an die stärkste Seele Augenblicke heran, wo sie zag wird, wo sie hilflos wie ein verirrtes Vöglein, das gegen die Fensterscheiben stößt, sich ängstlich fragt: Wie find' ich den rechten Weg?

In Frau Therese wühlte der Zweifel. Sie rief Christl zu sich und sagte: »Du bist der Älteste, du hast die meiste Erinnerung an den Vater. Was meinst du? Wenn er mir raten könnte, würde er mich heißen euch Kinder in Sicherheit bringen und diesem entsetzlichen Orte entfliehn?«

»Ich weiß es nicht, Mutter,« sagte Christl. »Aber alle anderen müssen bleiben und ausharren, weil sie nicht die Mittel haben zu reisen. Nach meinem Gefühl wär' es erbärmlich, wenn wir sie im Stiche ließen.«

Sie legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Am Abend war der Birenz tot. Frau Therese aber hatte zu ihren acht Kindern noch ein neuntes bekommen.

*


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