Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Es gibt zwei höchste Glücksgüter des Menschen, die Arbeit und die Liebe. Die Arbeit ist das silbergraue Glück und die Liebe das hellrote, die Arbeit allein wirkt auf die Dauer zu eintönig und die Liebe allein zu aufreizend jubeltrunken. Gemeinsam aber heben und stärken sie sich, daß das ruhige und sichere Glück daraus wird, das Dauer hat. Das Feuer kühlt sich an der Asche, und die Asche durchwärmt sich am Feuer. Schon der Mythus von der Vertreibung aus dem Garten Eden bringt die Liebe mit der Arbeit in Verbindung. Aber ist es nicht ein falscher Zusammenhang, den er hergestellt wissen will? Wie –? Um der Liebe willen hätten die Menschen das Paradies verloren? Haben sie es nicht erst gewonnen, da die Liebe in die Welt kam? Und um der Liebe willen wären sie dazu verurteilt worden, im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot zu essen? Steht es nicht vielmehr so, daß die angebliche Strafe ihnen zum Lohn wird, wenn sie die Arbeit, mit der sie gesegnet sind, für jene leisten dürfen, die sie lieben?

Doll und Bethy, die während der kalten Jahreszeit im Klosterschlössel und im Sommer auf der Wegwacht wohnen, dringen von Jahr zu Jahr tiefer in diese Erkenntnis ein. Nein, es kann kein vollkommeneres Glück der Menschen geben als strenge Arbeit, der die Hoffnung winkt, an einem treuen, verstehenden Herzen auszuruhen.

In der Lüsen ist es jetzt nicht mehr so still wie einst, da man nichts als das Tosen des Bergwassers darin hörte. Der Lüsenbach, der ungebärdige, wälzt seine grauen Wogen nicht mehr zwecklos zu Tal. Er darf sich nicht mehr in wildem Übermut über die Wiesen und Felder stürzen, so oft es ihm gefällt, das Werk der Menschen zu zerstören. Er hat es lernen müssen, sich in ihre Ordnung zu fügen, sie haben ihn gebändigt, so wütend er dagegen schäumte und sich bäumte, sie haben ihn sogar gezwungen, ihnen Dienste zu leisten.

Was ist das für ein umfangreiches Geviert der verschiedenartigsten Gebäude, das gleich hinter St. Jodok beginnt und sich fast bis zum Klosterschlössel erstreckt? Dienen, diese Gebäude, die teils wie Wohnhäuser, teils wie Maschinenhallen, teils wie Fabrikswerkstätten, Hammerwerke oder Schmelzhütten aussehen, und von denen die meisten ununterbrochen vom Lärm der Arbeit erfüllt sind alle ein und demselben Zweck? Wir wissen es nicht, Herr Zwicknagel aber, Dolls rechte Hand, hätte dem Fragenden dienstbereit Auskunft erteilt.

»Das sind die Anlagen für die Steinbearbeitung,« hätte er gesagt, »die zu den Marmorwerken auf der Wegwacht gehören.«

Und hättest du ihn gebeten, das Werk besichtigen zu dürfen, so hätt' er es vermutlich nicht nur gestattet, sondern, zuvorkommend wie er ist, sich vielleicht sogar bereit erklärt, selbst den Führer zu machen. Er hätte dich zuerst ins stattliche Verwaltungshaus geführt, das in der Mitte liegt, und hätte gesagt: »Hier befinden sich die Ubikationen für die Kanzleien, technischen Bureaus und Zeichensäle.«

Er hätte dich hierauf durch die Torfahrt des Verwaltungshauses auf das weite, lärmende Flötz geführt, das dahinter liegt, und hätte dir die Geleise gezeigt, die den Werksplatz mit der Seilbahn verbinden, welche die auf der Wegwacht gebrochenen Steine zu Tal fördert. Er hätte dir die Wagen gezeigt, die mit riesigen Marmorblöcken beladen heranrollen, und dich den großen elektrischen Kranen vorgestellt, die die Marmorblöcke in ihre starken Arme nehmen, emporheben und keuchend an die Stellen tragen, wo sie gelagert werden sollen.

Aus der langgestreckten Arbeitshalle, die mit Ober- und Seitenlicht versehen ist, dringt ein emsiges Pochen und Klirren. Und von den eisernen Kranen wird manchmal einer neugierig und möchte sehen, was sie darin machen. Da hebt er mit seinen Riesenkräften einen Steinblock vom Boden und schleppt ihn stöhnend und ächzend in die Werkstatt. Und er sieht Leute mit grauen Mänteln und Papiermützen auf dem Kopfe auf stählerne Meißel klopfen. Er wundert sich, wie kunstvoll sie alles machen, und wie unter ihren Händen der rohe Stein sich allmählich in allerhand Form und Bildwerk verwandelt. Da entstehen Gesimse, Stufen und Schnörkel, Ranken und Fruchtkränze, Tier- und sogar Menschengestalten. Die Menschengestalten sind schneeweiß und oft doppelt so groß wie gewöhnliche Menschen und haben starre und kalte Augen. Da erschrickt der eiserne Kran, das plumpe Ungetüm, vor diesen großen, kalten, steinernen Menschen, die sie in der Werkstatt aus den Blöcken hauen, und denkt: »Wie wird es mir erst ergehen, wenn sie einmal zu leben anfangen sollten?«

Und er legt geschwind seinen Stein hin und trollt sich wieder und macht, daß er hinauskommt.

Herr Zwicknagel lacht über den erschrockenen Kran, der aber muß seinen Kollegen irgendeinen Bären aufgebunden und ihnen eingeredet haben, es sei doch entschieden lustiger, ab und zu einmal auf Abenteuer auszuziehen, als immer bloß Handlangerdienste zu leisten. Denn sie horchen auf und staunen und wenden ihre Hälse hin und her wie richtige Kraniche, und einer, der besonders abenteuerlustig zu sein scheint, setzt sich sogleich in Bewegung und marschiert ebenfalls mit einem riesigen Steinklotz beladen in ein anderes Gebäude hinein, das am Wasser liegt, und aus dem fortwährend ein lautes Schnarren und Ächzen erschallt wie von einer Säge. Und wirklich ist es etwas wie eine Säge. Schneeweiße Steinblöcke sind eingespannt und werden in dünne Platten zersägt, worüber der Kran sich nicht wenig zu wundern scheint.

»Wird denn die Säge nicht stumpf?« denkt er. »Ist denn der Stein nicht härter als die Schärfe ihrer Zähne? Man sollte es nicht für möglich halten, daß Eisen imstande ist, Marmor wie Holz auseinanderzuschneiden!«

Wie er aber näher hinsieht, erkennt er erst, daß nicht das Eisen den Stein schneidet, sondern der Stein sich selbst. Daß es gar keine Sägezähne sind, die in ihn hineinbeißen, daß bloß befeuchteter Marmorsand durch ungezahnte Sägeblätter so lange auf ihm hin und her gewetzt wird, bis er ächzend und jammernd nachgibt. So muß er sein festes Fleisch von seinesgleichen zerstückeln lassen, der Marmorsand hat sich mit dem Menschen verbündet, den Marmorblock auseinanderzusägen. Ist es nicht ein trauriges Los, das die harten, unerbittlichen Menschen den armen Steinen auflegen?

Der gute Kran, der ungefüge Riese, steht erschüttert still vor solchem Anblick. Das Los der Marmorblöcke, die er immer so sorglich in, seinen Armen trug, damit ihnen ja nichts geschehe, scheint ihm bitter zu Herzen zu gehen. Und wie vorher sein Genosse tat, so legt auch er seine Last geschwind auf den Boden und schiebt sich murrend und kettenrasselnd wieder aus der Halle hinaus, um zu den Kameraden zurückzukehren.

»Ich seh' es schon,« sagt er traurig zu ihnen, »es bleibt uns nichts übrig, wir müssen parieren, wir können uns nicht auflehnen gegen die Menschen; denn wir sind die Schwächeren, so tausendfach größere Lasten wir auch zu heben imstande sind als sie!«

Und während die Krane stumm beisammen stehen und über ihr Schicksal nachdenken, führt dich Herr Zwicknagel weiter, von einem Haus ins andere. Er zeigt dir alle Einrichtungen und Maschinen des großartigen Werkes und erklärt sie dir genau, bis du nach und nach zu der Erkenntnis gelangst, daß die Steine ebenso wie wir durch viele Kreise der Läuterung hindurchgehen, ehe sie reif werden für Zeit und Ewigkeit, und daß sie keine minder harten Schicksale erlebt haben müssen als die Menschen, ehe sie als reinlich behauene Würfel oder Prismen, als spiegelblank geschliffene Platten, als kunstvoll profilierte Versetzstücke oder gar als herrliche Bildwerke schließlich verladen und vierspännig hinausgefahren werden können in die weite Ferne, wo ihnen das letzte Ziel winkt.

In all das Geräusch der Arbeit, das in der Lüsen tobt, klingt manchmal außerdem noch ein frisches, schmetterndes Lachen, das niemand anderm gehört als Herrn Direktor Haarhammer. Der muntere, noch immer von jugendlicher Zuversicht und Tatkraft sprühende alte Herr kommt gern in die Lüsen. Er hängt an Doll und an Bethy, er hat sie gern, und die Geschäfte dienen seinem Erscheinen oft mehr zum Vorwand, als daß sie der eigentliche Anlaß dafür wären. Mit Vorliebe wählt er den Winter zu seinen Besuchen, weil um diese Jahreszeit die Bautätigkeit in Wien stockt, und es kommt vor, daß manchmal ganz unerwartet ein fröhliches Schellengeklingel an Bethys aufhorchendes Ohr schlägt. Dann springt sie empor und eilt jubelnd die steinerne Treppe hinunter ans Tor des Hauses; denn sie weiß es, noch ehe Haarhammer sich aus seinen Pelzen gewickelt hat, was für einen lieben Gast ihr die dampfenden Schlittenpferde in die verschneite Einsamkeit des Klosterschlössels gebracht haben.

Gemeinsam Tüchtiges wirken schmiedet feste Freundschaft. Haarhammer hat nicht bloß mit Doll zu tun, er hat auch mit Bethy zu tun. Die Wohlfahrtseinrichtungen, die noch zu Giojas Zeiten begründet wurden, sind ihrer Aufsicht anvertraut. Außerdem hat Haarhammer den Versuch unternommen, den Angestellten und Werksarbeitern eine Beteiligung an dem Unternehmen zu ermöglichen, dem sie dienen. Durch wochenweise Einzahlung kleiner Ersparnisse können sie nach und nach gewisse Anteile daran erwerben, und da keiner seine privaten Angelegenheiten gern in jedermanns Mund weiß, so haben sie Bethy einmütig zu ihrem Vertrauensmann gewählt und sie ersucht, das Buch, worin die Einzahlungen verzeichnet stehen, um Dankeslohn für sie zu führen. Was läßt sich aus diesem Buche nicht alles herauslesen! Glück und Leid, Aufstieg und Niedergang, die Schicksale Einzelner wie ganzer Familien. Im allgemeinen aber geht zahlenmäßig eine Tatsache daraus hervor, die Bethy für alle Mühe reichlich entlohnt: der zusehends wachsende Wohlstand der ganzen Gegend.

Einmal, an einem langen Winterabend, saß sie gemeinsam mit dem Direktor über dem Buche. Sie rechneten und zählten zusammen und waren mit solchem Feuereifer bei ihrer Sache, als handelte es sich um ihre eigenen Ersparnisse, und als hätten sie etwas davon, wenn es schon recht viel geworden wäre. Sie hatten beide rote Wangen davon bekommen und mußten schließlich darüber lachen.

»Rechte Geizhälse sind wir geworden!« sagte Bethy. »Ich kenn' ja die meisten Leute gar nicht,« sagte Haarhammer, »sie sind mir nichts als leere Namen. Und doch hab' ich jedesmal eine Freud', wenn dieser Berti oder jener Mundl einen kleinen Schuß vorwärts getan hat. Ich bin nur froh, daß die Leute von den Vätern her noch eine gewisse Handwerksüberlieferung im Blut haben. Wären sie für das Steinmetzgewerbe nicht abzurichten gewesen, so hätten wir Welsche kommen lassen müssen, die sich in der Regel besser darauf verstehen als die Deutschen.«

»Dann hätt' ich nicht mitgetan,« sagte Doll.

Haarhammer lachte, daß es nur so schmetterte.

»Glauben Sie, ein Unternehmer kann sich das aussuchen? Vor ihm müssen alle gleich sein wie vor unserm Herrgott. Und das ist auch recht so! Wer sich nicht konkurrenzfähig zu machen weiß, der verdient nicht, daß man ihm hilft.«

»Denen, die einem näher stehen, darf man schon ein bißchen mehr helfen als den andern,« meinte Doll.

»Wenn sie ihre Sache ebenso gut machen!« sagte Haarhammer ernst.

»Das tun sie – zum Glück!« sagte Doll.

Es war von jedem Hof im ganzen Tal der Vater oder ein Sohn, manchmal zwei, drei und mehr Söhne, beim Werk, So groß war die Bauernwirtschaft ja nicht, hier im Gebirg, daß sie kinderreiche Familien hätte ernähren können. Und Kinder, viel Kinder hatten sie alle, es wimmelte von Kindern in der Lüsen. Die konnten der Mutter helfen, das bißchen schütteren Roggen mit der Sichel schneiden und die paar Stück Vieh versorgen, während die Männer verdienten. Und wenn dann die Kinder größer wurden, blieb der Vater meist wieder daheim, und die Kinder hatten ihren Verdienst. Das leuchtete den Leuten bald ein. Ein jedes Kind in der Lüsen, wenn man es fragte: »Was wird denn einmal aus dir?« antwortete: »Ich geh' in Berg.« Denn es mußten alle oben anfangen, auf der Berghöhe, mit dem harten Dienst in den Steinbrüchen.

Kein Anwesen in der Lüsen war in andere Hände übergegangen, seit das Werk bestand, keines hatte seinen Besitzer gewechselt.

O, es ist eine Lust zu schaffen, wenn Erfolg und Segen bei der Arbeit ist! Es liegt viel auf Dolls starken Schultern, und es liegen auch auf Bethys schwachen Schultern nicht bloß die Sorgen der jungen Mutter. Aber gibt es ein vollkommeneres Glück der Menschen als strenge Arbeit, der die Hoffnung winkt, an einem treuen, verstehenden Herzen auszuruhen?

Vereint in Arbeit und in Liebe schreiten Doll und Bethy Hand in Hand ihren Weg aufwärts nicht nur bildlich gesprochen; jeden neuen Sommer auch wirklich aufwärts, zur Paßhöhe über der Lüsen – auf die Wegwacht.

O Zeit der vollen Reife und der vollen Kraft, wo der Mensch auf seiner Höhe steht, verweile! Du bist süßer als die beschränkte Kinderzeit, die noch nichts von sich weiß, süßer als das Bangen und dunkle Sehnen der Jugend, die einem ungewissen Ziele entgegengeht. Du bist die Erfüllung und doch nicht die Sättigung, du bist die Beruhigung und doch nicht die Ruhe. Du bist ganz Bewegung, Wirksamkeit, Stärke. Du bist das Leben, ja, nur du allein bist das eigentliche und einzige Leben!

Die Landkartenzeichner, wenn sie die Wegwacht neu aufnehmen wollten, fänden jetzt nicht mehr ihr Auslangen mit einem kleinen schwarzen Viereck für das Hospiz und einem Kreuzlein über einem winzigen Kreise für die Kapelle. Sie müßten ihre Feder tiefer in die Tusche tauchen und eine Menge andere Vierecke hinzeichnen, große und kleinere, und eines wäre das Werkshaus und eines das Haus der Steinmetzen, wo sie den Blöcken die erste rohe Form geben, und ein anderes, um das kleine Hausgärten blühen, wäre das Wohngebäude für die Werksarbeiter und wieder ein anderes das Schulhaus für die Sommerschule. Und um die großen Vierecke würden noch viele winzige herumwimmeln, für Ställe, Remisen, Maschinenräume und Reparaturwerkstätten, für Lagerräume und Magazine, für einen Konsumverein, wo die Arbeiter ihre Lebensmittel beziehen, für ein Erholungsheim, wo sie ausruhen, miteinander plaudern oder in einem Buche lesen können, und für ein Krankenhaus, das gottlob nicht groß zu sein braucht, denn die Luft auf der Wegwacht macht gesund und stark.

Und etwas abseits von den übrigen, wo die Karte grün wäre, weil die Alpwiesen beginnen, und wo die übliche Schraffierung anzeigen müßte, daß der Boden ansteigt, da hätten die Kartographen noch ein ganz kleines Viereck einzuzeichnen, und das wäre das Haus, in dem Doll und Bethy wohnen. Es ist aus grauem Stein gebaut wie die übrigen und sieht unscheinbar aus unter seinem grauen Schindeldache; man könnte es für einen der Felsblocke halten, die die Bergstürze alter Zeiten vom Mahrkopf auf die grünen Matten herabgewälzt haben. Aber in seinem Innern ist es ein warmes Nest für die Liebe, während draußen die Arbeit klingt, das Klirren der Meißel, das Sausen der Bohrmaschinen, das Donnern und Krachen der Sprengschüsse in den Steinbrüchen, daß die Felsberge rings in der Runde erbebend widerhallen.

Auf der eigentlichen Paßhöhe hätten die Kartenzeichner ihre Aufgabe erschöpft, wenn sie die erwähnten Baulichkeiten in ihren Plan eingetragen haben. Steigen sie aber noch mehr in die Felsen und biegen sie gegen die unwirtlichen Staffeln ein, in denen der Mahrkopf kahl und weiß wie gebleichtes Gebein nach der südlichen Seite abstürzt, die gegen Gorenje hinunterschaut, so erblicken sie in einer Steinmulde außerdem noch eine Ansammlung niedriger und langgestreckter steinerner Hütten, die wie Nester der Felsenschwalbe mit dem Berg selbst verwachsen scheinen. Das sind die Schutzhäuser der Arbeiter, die von der andern Seite heraufkommen. Das ist das feindliche Fort, das sich der Festung auf der Wegmacht entgegenstellt.

Der Freiherr von Grahovo hatte es verstanden, die Entscheidungen der Verwaltungsbehörde auf die lange Bank zu schieben. Sein Einfluß reichte weit, aber doch nicht bis zu den Gerichten. Indessen zog der Zivilprozeß, der anhängig war, durch die Schwerfälligkeit des schriftlichen Verfahrens und durch den Umstand, daß die Verhältnisse ohnedies verwickelt genug lagen, sich von selbst in die Länge, ohne daß er viel dazu hätte beitragen brauchen. Es genügte, sich auf Formsachen zu steifen, Termine abzuwarten und den Instanzenzug auszunützen. Immer hieß es, die endgültige Entscheidung stehe vor der Tür. Aber noch immer war sie nicht erflossen, noch immer ließ der Freiherr im Edelweißbruch arbeiten, ohne daß Doll ihn daran hätte hindern können.

Das war freilich eine seltsame Art des Steinbruchbetriebes, die da oben beliebt wurde. Denn es kam kein brauchbares Material zum Vorschein, das gefördert worden wäre, bloß die Schutthalden im Gsölk, die gegen die Paßhöhe abfielen, wuchsen unheimlich und rückten wie ein Gletscher, der ins Wandern geraten ist, den Werksanlagen auf der Wegmacht näher. Schon konnte man auf den Alpmatten, die sich von Dolls Wohnhaus am Fuße des Gsölks hinzogen, kein Vieh mehr werden, ohne Steinschläge befürchten zu müssen. Aus der Schlucht, die hoch oben den Einstieg in den Edelweißbruch ermöglichte, führten sie mittels einer Huntebahn, die der Freiherr hatte anlegen lassen, Unmassen von Bruchgestein aus und stürzten es gegen das Gsölk ab.

Es ging die Sage, der Freiherr hätte einen Stollen von bald hundert Metern Tiefe in die Bergwand getrieben und durch Querschläge eine riesige Verzweigung von Gängen geschaffen, an deren Enden Minenkammern von ungewöhnlichem Umfang angelegt seien. Den ganzen Mahitopf wolle er heruntersprengen, hieß es. Einige von den Werksarbeitern auf der Wegwacht, die Bekannte in Gorenje hatten, wußten zu erzählen, daß er sich geäußert haben sollte, er werde den Leuten zeigen, wie man ins Große arbeite. Ganz Gorenje und Grahovo würde zu tun bekommen, so viel Marmor würde es bald zu bergen und zu bearbeiten geben.

Unter solchen Umständen ist es begreiflich, wenn ein wahrer Alp von Dolls Brust fiel, als eines Nachmittags ein Brief von Lois Birenz kam, der ihm die Freudenbotschaft brachte, die Werksgesellschaft hätte den Prozeß gegen den Freiherrn in letzter Instanz gewonnen.

Birenz war nämlich jetzt der Vertreter der Gesellschaft. Haarhammer hatte ihn, seit er als Rechtsanwalt selbständig geworden, dazu gemacht. Er schätzte ihn in jeder Hinsicht, schon von damals her, da er Instruktor seiner Kinder gewesen war. Und Lois hatte sich in diesem Prozeß die Sporen verdient. Er blieb fortan einer der gesuchtesten Advokaten, besonders in industriellen Kreisen, und brachte es zu großem Wohlstand. Später verlor er seine Klientel wieder, als er sich von der Sozialdemokratie in den Reichsrat wählen ließ.

»So muß es auch sein,« sagte er; »erst verdienen, dann wieder einbrocken, das ist das Richtige! Für mich und meine Frau langt es bis ans Ende, und den Kindern soll man nichts hinterlassen, sonst wird nichts aus ihnen.«

Was mochte der Freiherr dazu sagen, daß ihm das Recht, im Edelweißbruch Steine zu brechen, abgesprochen war? Nun blieb ihm kein Rechtsmittel mehr zur Verfügung. Seine Sache war offenkundig von allem Anfang an eine so anrüchige gewesen, daß Doll kein Mitleid mit ihm empfand. Bloß daß er der Gesellschaft auch noch den ganzen entgangenen Gewinn zu ersetzen verurteilt worden war, schien ihm zwar nicht unbillig, aber immerhin äußerst hart.

Zufällig fand sich denselben Nachmittag Besuch auf der Wegmacht ein. Baronin Natalie war mit ihrem Bruder Leo von Pinkenfeld aus Grahovo heraufgekommen. Sie pflegte sich jeden Sommer ein paarmal auf der Wegmacht zu zeigen, und während der Freiherr gewöhnlich nur vorbeifuhr, um sein Jagdhaus aufzusuchen, das auf der entgegengesetzten, grasigen Seite des Mahrkopfes lag und erst nach Umgehung anderer Gebirge von der Sattelhöhe aus zu erreichen war, versäumte sie selten, Doll und Bethy aufzusuchen. Der Verkehr bewegte sich freundschaftlich innerhalb der üblichen gesellschaftlichen Formen. Sie half sich Doll gegenüber gern durch eine leichte Ironie, hinter der sich ein bitter gekränktes Herz verstecken mochte. Es war der Ton der verschmähten, gleichsam im Frost verbrannten Gefühle, die sich zu früh oder zu weit vorgewagt haben und doch nicht ganz absterben können.

Immer besser verstand Doll, wie wenig er sie an jenem Abend, da sie einsam über die Höhe gingen, verstanden hatte.

Ihr ganzes Leben hatte sie damals vor ihm ausgebreitet, ihren Mann verraten, mit werbenden Worten um ein Verständnis gefleht, das er ihr nicht zu bieten vermochte. Er hatte sie nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Er wußte, daß eine Frau so etwas nie verzeiht. Und er wußte auch, daß er sich nicht täuschte. Jetzt, da er einmal aufmerksam geworden war, fand er überall Bestätigungen. Jedes geringste Anzeichen wußte er zu deuten, einen halben Blick, ein hingeworfenes Wort, ein kleines Auflachen, wodurch plötzlich ihr wahres Verhältnis zu Bethy wie mit einem Blitzlicht sich aufhellte. Bethy selbst aber ging ahnungslos an diesen Dingen vorüber, ihr war die Baronin nichts weiter als eine ziemlich gleichgültige Bekanntschaft von ehedem. Und sie ließ sie wie alle Menschen, die sich ihr nahten, der Himmelsgabe eines in sich ruhenden gleichmäßigen und von Natur aus liebenswürdigen Gemütes teilhaftig werden.

Leo von Pinkenfeld, der sich eine Zeitlang in Grahovo aufhielt, kam mit der Absicht, einen Marmorblock auszuwählen. Er war der Kunst treu geblieben. Sein neues Werk, eine rätselhafte Brunnenfigur, sollte in der Bildhauerwerkstätte in der Lüsen punktiert werden. Er zeigte Doll die Photographie des Gipsmodells. Alle seine Figuren hatten dieselbe schwermütige Haltung des Hauptes und des Oberkörpers, die ihm selbst eigen war. Man schätzte ihn als Plastiker, wenn auch mehr in Kreisen der Fachgenossen als des Publikums.

»Es ist eigentlich nichts Neues darin,« sagte er mit einer Bescheidenheit, an der nichts Unechtes war.

Doll gefiel die Gestalt ausnehmend gut. Er freute sich darauf, wenn sie aus dem Marmorblock herauswachsen würde. Aber es war ihm freilich, als hätte Leo Ähnliches schon öfter gemacht. Ihn selbst hatte er seit den Studentenjahren nicht wiedergesehen, aber die Werke der Bildhauerkunst behielt er im Auge und tat sich in den Ausstellungen um, so oft er nach Wien oder in eine andere Stadt kam. Denn es gehörte halb und halb zum Beruf.

»Ich drücke immer wieder denselben Gedanken aus,« sagte der Bildhauer in einem Ton, der fast wie Schwermut klang.

»Sie geben immer sinnende, gleichsam bedrückte Gestalten.«

»Heimatlosigkeit,« sagte Leo.

Die Baronin hatte sich ins Wohnhaus begeben, um Bethy aufzusuchen. Sie gingen auf dem Lagerplatz umher, um den schönsten Block auszuwählen.

»Warum suchen Sie nicht neue und kräftigere Ziele?« fragte Doll.

»Es ist nur eine einzige echte Note in jedem Künstler,« sagte Leo. »Ganz mein eigen ist nur die eine Idee: das Entwurzeltsein.«

Und er neigte traurig sein schönes Haupt, das Anzeichen frühen Verfalles zeigte.

War es vielleicht keine ganz freiwillige Beschränkung, die er sich auferlegte? Es sprach auch aus dem neuen Werk wieder jene innige Zartheit der Linie, die seine früheren Werke auszeichnete. Aber wenn man einiges von ihm kannte, so glaubte man immer wieder dasselbe zu sehen. Vielleicht hatte die Einseitigkeit seines Schaffens nicht wenig dazu beigetragen, ihm den Namen zu machen, den er immerhin besaß. Sieht nicht Einseitigkeit auf den ersten Blick wie Eigenart aus? Aber wie stünde es um die Kunst, wenn jede Eigenart sich in so engen Grenzen bewegte wie die Leo Pinkenfelds?

Das Gespräch kam auf den Prozeß mit dem Freiherrn. Er interessierte sich für die gefallene Entscheidung, von der er noch nichts wußte, und Doll gewährte ihm Einblick in die Mitteilungen des Lois Birenz.

»Mein Schwager war sicher im Unrecht,« sagte Leo, als er den Brief zurückgab. »Mein guter Vater, der doch genau wußte, wie bei der Pentelikon-Gesellschaft alles zusammenhing, hat ihn noch kurz vor seinem Tode beschworen, den Prozeß aufzugeben. Nun wird er sich die Folgen selbst zuzuschreiben haben.«

Doll hatte gehört, daß Herr von Pinkenfeld keineswegs als reicher Mann gestorben war. Es sollte nach dem jähen Aufstieg wieder nach und nach bergab gegangen sein, wie es eben bei dieser Art des Geldverdienens vorkommt. Vielleicht war die kühne Idee, den ganzen Mahrkopf zu sprengen, gleichsam ein verzweifelter Einsatz auf eine letzte Karte? Der Wahnsinn eines Spielers, der gehofft hat, sich durch eine reiche Erbschaft zu retten und sich nun enttäuscht sieht?

»Mir tut es nur um Natti leid,« sagte Leo. »Die Verpflichtung, der Gesellschaft den entgangenen Gewinn zu ersetzen, kann, wenn ich mich nicht sehr täusche, ruinös für den Freiherrn werden.«

»Soweit es an mir liegt,« sagte Doll, »werden wir die Berechnungen so milde als möglich aufstellen.«

Sie holten die Baronin im Wohnhaus ab, und Doll und Bethy begleiteten die Gäste, während der Wagen langsam nachfuhr, noch bis an die Stelle, wo die Straße sich gegen Gorenje zu senken beginnt.

Als sie am Fuß des Gsölks hingingen, dessen Schutthalden schon fast bis an die Straße reichten, sahen sie nach dem Mahrkopf hinauf.

Doll faßte den Bildhauer unter und redete leise zu ihm.

»Bereiten Sie Ihre Schwester schonend vor und sagen Sie ihr, daß ich bemüht sein werde, sie und ihren Mann vor Vermögensverlust tunlichst zu bewahren. Ich will gleich morgen vormittag in den Edelweißbruch einsteigen. Sollte es sich herausstellen, daß die dort geleisteten Arbeiten für uns von Wert sind, so können wir kaum eine Entschädigung für entgangenen Gewinn beanspruchen; im Gegenteil, unter Umständen würden wir uns vielleicht sogar verpflichtet fühlen, die aufgewendeten Auslagen zu ersetzen. Ich meine natürlich nur für den Fall, als uns gewissermaßen die Früchte des bisher Geleisteten in den Schoß fielen – Sie verstehen mich?«

»Ich kenne Ihre und Direktor Haarhammers vornehme Geschäftspraxis und danke Ihnen,« sagte Leo. »Übrigens muß ich gestehen: Es ist ein wahres Glück, daß meinem Schwager das Heft aus der Hand gewunden wird; die Schutthalden bedrohen ja schon fast Ihre Anlagen!«

»Nun denken Sie,« sagte Doll, »wenn der Freiherr gar noch Zeit gewonnen hätte, die großen Sprengungen vorzunehmen, von denen man munkelt! Wüßte ich nicht, daß er ein Laie ist, der von technischen Dingen keine Ahnung hat, so müßte ich fast glauben, er hätte uns mit Mann und Maus unter einem Bergsturz begraben wollen.«

Sie waren an der Stelle angelangt, wo Doll am ersten Tage, den er auf der Wegmacht verlebte, mit dem guten Großvater gesessen hatte, und verabschiedeten sich jetzt voneinander. Die Baronin und ihr Bruder bestiegen den bereitstehenden Wagen.

»Natürlich darf ich wie immer auf keinen Gegenbesuch zählen,« sagte sie bitter und grüßte mit einem halben Lächeln zurück, während sie sehr vornehm ihr Haupt neigte.

Dann fuhr der Wagen mit eingelegtem Radschuh behutsam die Schlangenwindungen der Straße hinunter.

Leo hatte auf dem Wege seiner Schwester den Inhalt seiner Unterredung mit Doll erzählt. Sie nahm seine Mitteilungen ohne sonderliche Bewegung entgegen.

»Meinem Mann geschieht recht,« sagte sie. »Von mir aus mag er auch abwirtschaften, mir ist es gleichgültig. Aber Herrn Mairold wird jetzt der Kamm noch höher wachsen, das ärgert mich. Daß wir gewissermaßen Gnaden von ihm annehmen werden, das soll er sich nur ja nicht einbilden!«

Auf Schloß Grahovo stand, als sie ankamen, das Abendbrot bereit. Der Freiherr schien heiter und ließ sich nichts merken. Erst nach dem Essen kam die Rede auf die Wegmacht.

»Ich freue mich,« sagte Leo, »daß du die Entscheidung so gefaßt hinnimmst.«

Der Freiherr gab vor, von nichts zu wissen – vielleicht wußte er auch wirklich noch nichts davon.

»Herr Mairold nimmt den Mund voll,« sagte er gelassen. »Ich habe keine amtliche Verständigung erhalten und lasse mir meinen Besitz nicht durch Maulmachen aus der Hand winden.«

Er machte Miene, sich früh auf sein Zimmer zurückzuziehen. Natalie, in einer Anwandlung von Mitleid, sagte, als sie ihm Gutenacht wünschte: »Mach' dir nichts daraus, du wirst dich eben jetzt mehr auf die Landwirtschaft werfen.«

»Das fällt mir nicht ein!« sagte er. »Selbstverständlich setze ich meine Arbeit fort. Ich stehe knapp am Ziel, die Minen sind geladen, die Stollen verdämmt und die elektrische Zündung im Gang. In dem Augenblick, wo ich zuschlagen will, werde ich mir doch nicht gutwillig den Säbel aus der Hand nehmen lassen – da kennst du mich schlecht!«

»Herr Mairold meint,« sagte Leo, »daß eine Sprengung im großen Maßstab die Bauten auf der Wegwacht gefährden könnte.«

»Meinetwegen!« sagte er. »Was geht es mich an? Was bauen sie ihre Anlagen gerade an den Fuß des Gsölks, das von Rechtswegen mein Eigentum ist – seit dreihundert Jahren, bitte, denn es gehört zu Grahovo, das früher Familienfideikommiß war! Und sprengen vielleicht die andern nicht auch, wo es ihnen gefällt? Haben sie mir aus meinem Revier hinter dem Rosenbruch nicht das ganze Gemswild vertrieben? Es war die beste Jagd in der ganzen Gegend, jetzt ist sie keinen Schuß Pulver mehr wert!«

Er hatte sich in Zorn geredet und verließ unmutig das Zimmer, die Tür hinter sich ins Schloß werfend.

Erschrocken blickte Leo seine Schwester an, die aber sagte mit verzogenen Mundwinkeln: »Jetzt siehst du einmal, wie er sein kann. Aber beunruhigen brauchst du dich deswegen nicht. Er liebt es zu drohen, im Grunde ist er feig. Er wird es nicht wagen, etwas gegen die behördliche Entscheidung zu unternehmen, die er sicher bereits in der Tasche hat, wenn er sich auch anstellt, als wüßte er von nichts.«

Am nächsten Morgen fehlte der Freiherr beim Frühstück. Die Baronin schickte den Diener auf sein Zimmer, er war aber im ganzen Schlosse nicht aufzufinden. Der Diener kam zurück und meldete, nach Aussage des Stallburschen sei der Freiherr schon vor Tagesanbruch weggeritten.

Die Baronin erhob sich vom Frühstückstisch; Leo sah, daß sie sich verfärbt hatte. Sie gab Befehl, sofort ihr Pferd zu satteln, und eilte aus dem Zimmer. Er stand auf und ging beunruhigt hin und her. Endlich trat er auf den Gang hinaus, da kam sie ihm schon im Reitkleid entgegen.

»Was willst du eigentlich tun, Natti?«

»Sagtest du nicht, daß Herr Mairold heute in den Edelweißbruch hinauf will?«

Damit glitt sie an ihm vorüber und war auch schon die Treppe hinunter. Er sah vom Hoffenster, wie sie sich in den Sattel schwang und zum Tor hinausjagte. Sie hatte nicht einmal gewartet, bis auch der Reitknecht gesattelt hätte. Sie ritt allein davon.

Die Sonne brennt heiß, keine Luft rührt sich, die Hufeisen klingen auf dem Schotter. In der ganzen weiten Landschaft ist nichts zu hören als das Klingen der Hufeisen auf dem Schotter ...

Ob sie noch zurecht kommt? Ob es nicht zu spät ist?

Ihr, die ihr es erfahren habt, wie die Angst um das Leben eines Menschen, den man liebt, in den Eingeweiden wühlt, ihr werdet es verstehen, daß der Reiterin, die über die staubige Landstraße von Grahovo gegen Gorenje fliegt, die Windeseile ihres englischen Halbbluts ein langweiliger Schneckengang dünkt.

Ob sie noch zurecht kommt? Ob es nicht zu spät ist?

Eine riesige weiße Staubwolke wandert das sonnige Tal entlang, die immer wieder von vorn anfängt und Roß und Reiterin zu verfolgen scheint, obgleich sie nach der entgegengesetzten Seite strebt ...

Ob sie noch zurecht kommt? Ob es nicht zu spät ist?

Ihr, die ihr es erfahren habt, wie die Angst um das Leben eines Menschen, den man liebt, in den Eingeweiden wühlt, ihr wißt, was die Sorge ist, die wie eine scharfe Feile am Herzen nagt, ihr kennt den wirbelnden Reigen der Gedanken, der wie ein sturmgepeitschter Hexentanz durch das Hirn jagt.

Siehe! Der Felskoloß fliegt in die Luft und begräbt unter seinen Trümmern den Wandernden, der nach der Höhe strebt! O welches Entsetzen, welcher Jammer!

Nein, hier ist der triefende Pferdehals, und die Hufe klingen. In der ganzen weiten Landschaft ist nichts zu vernehmen als das Klingen der Hufeisen auf dem Straßenschotter.

Ob sie noch zurechtkommt? Ob es nicht zu spät wird?

Horch! War es nicht wie ein dumpfes Getöse aus der Ferne durch die Luft?

Sie hält das Pferd an und lauscht. Ein Wasser stürzt schäumend aus der Felsrinne seitlich der Straße. Steil baut sich die Bergwand darüber, kahl und fahl wie gebleichtes Gebein bis zum Mahrkopf hinauf, der von dieser Seite wie ein schneeweißer ausgebrannter Vulkan in der glühenden Sonne steht.

Vorwärts! Fliege, mein Windspiel! Lauf' mit dem Sturm um die Wette! Was schleichst du so? Da ist die Peitsche!

O, was für ein verfehltes Leben, Natti! Du liebtest ihn, er aber dachte nicht an dich. Warum hast du nicht dein Leid auf dich genommen? Warum bist du nicht du selbst geblieben?

Ob es noch Zeit ist? Ob es nicht zu spät wird?

Die Häuser da – ist das nicht Gorenje? Weiter! So schnell als immer möglich weiter! Wenn inzwischen der Mahrkopf in die Luft flöge? Wer von der Wegwacht über das Gsölk ansteigt, der wäre rettungslos verloren!

Aber nun wird die Straße steil. Vorwärts und kühn hinan! Meinst du, ich ritte, um mein Pferd zu schonen? Heute gilt es noch edleres Blut!

O, was für ein verfehltes Leben, Natti! Der falsche Schein, in dem du von Kind auf lebtest, ist nicht von dir gewichen bis zu dieser Stunde. Nur einmal eine Tat der Liebe und dann der Tod! Wäre es nicht schön?

Ob sie noch zurechtkommt? Ob es nicht zu spät wird?

Die Sonne brennt auf die schlangenweis bergan gewundene Straße. Die edle englische Stute ist mit Schaum bedeckt, aber sie nimmt die Windungen, als flöge sie auf ebenem Wege dahin.

Noch steht der Mahrkopf fest. Wie lastend liegt er auf den grünen Matten, in die er die Wurzeln seiner Schutthalden senkt.

O, was für ein verfehltes Leben, Natti! Nur einmal echt sein, nur einmal ganz du selbst! Ist es nicht zu spät? Wirst du noch zurechtkommen?

Ihr, die ihr es erfahren habt, wie die Angst um das Leben eines Menschen, den man liebt, in den Eingeweiden wühlt, ihr habt es auch erlebt, wie die ganze Welt und wie man selbst mit ihr versinkt, wie das Bewußtsein auslöscht, wie man im Schlafe handelt und das Richtige tut, ohne es zu wissen, wie alle Begriffe von Raum und Zeit schwinden und nur der eine Gedanke noch vorhanden ist: Warnen! Retten! Helfen!

Ob sie noch zurechtkommt? Ob es nicht zu spät wird?

Hier ist die Stelle, wo sie gestern noch von ihm Abschied nahm. Warum sprachen ihre Lippen nicht ein gutes Wort? Mußte es ein bitteres sein? Gibt es keine Liebe ohne Besitz? Öffne dein Herz, laß Licht einströmen! O, was für ein verfehltes Leben, Natti!

Vorwärts! Weiter! Noch steht der Mahrkopf wie lastend unter der Sonne, auf den grünen Matten, in die er seine Schutthalden wie klammernde Wurzeln schlägt.

Vorwärts, mein Windspiel! Vorwärts, du Schnecke! Heute gibt es kein Ausruhen, kein Verschnaufen! Zieh' deinen Atem aus dem letzten verflackernden Feuer deines eigenen Lebens, wenn er nicht mehr reichen will! Was liegt daran, ob auch das edelste Pferd zuschanden geritten wird?

Weiter und weiter! Die Straße ist wieder flach, nun verdopple deine Eile, da ist die Peitsche!

Mit hervorgequollenen Augen, fast mit brechenden Knien saust das treue Tier die Hochstraße auf der Wegwacht entlang. Es wird sterben müssen, es wird an diesem Ritte sterben. Warum nicht? Was liegt daran? O, was für ein verfehltes Leben, Natti!

Da hält sie am Hospiz auf der Wegwacht. Martina, die Tochter des Wirtes, steht an der Tür.

»Wissen Sie zufällig, wo Herr Mairold sich aufhält?«

»Er ist mit dem Vater nach dem Edelweißbruch aufgestiegen.«

Schon hat Natti sich vom Pferd geschwungen. Das Reitkleid schürzend, eilt sie die Schutthalde des Gsölks aufwärts. Weglos über die rauhen Steine hinweg. Hoch oben im Gsölk hat Martina ihr zwei schwarze Punkte gezeigt, die sich im grellen, sonnigen Gestein bewegen.

Der Pfad windet sich in Serpentinen durch den Schutt wie die Straße von Gorenje auf die Höhe. Es wäre Zeitverschwendung, ihm zu folgen. Sie schneidet ihn ab und springt atemlos über das Geröll hinweg, das nachgibt und abwärtsgleitet. Oft muß sie sich mit den Händen festsaugen, um emporzuklimmen. Die scharfen Steine zerreißen ihr Kleid und ihre Schuhe. Die Sonne brennt und strahlt vom glühenden Gestein zurück wie aus einem Backofen. Ihre Wangen hitzen und das Blut hämmert in den Schläfen, daß sie meint, der Kopf müßte ihr zerspringen.

Sie bleibt stehen, läßt einen gellen Ruf erschallen und winkt mit dem Taschentuch. Vergebens! Wie das Zirpen eines Heimchens verhallt ihr Schrei in der Großräumigkeit dieser Berge.

Nur weiter, nur höher! Ihre Hände sind zerschunden, ihre Füße wund. Ein Strom von Blut bricht ihr aus dem Munde. Sie sinkt zu Boden, rafft sich auf und klettert auf allen Vieren wie ein elendes Tier bergan.

Sie sieht, wie die Entfernung abnimmt. Das stählt die Kräfte! Die beiden Männer haben keine Eile. Wahrscheinlich reden sie miteinander während des Ansteigens.

Sie schwingt sich von Stein zu Stein. Es ist, als ob sie leichter geworden wäre, seit ihr das Blut aus dem Mund gequollen. Sie atmet freier. Es ist, als ob der Leib von ihr fiele. Sie ist nichts mehr als Wille. Wie eine Seele, wie eine von den weißen Frauen, die um die hohen Berge geistern, fliegt sie aufwärts über das Geröll. Trotzig schaut der Mahrkopf auf sie herunter. Sein Antlitz wird älter und voll von Runzeln, je mehr man sich ihm nähert.

Jetzt erblickt sie hoch über sich die beiden Männer, die das Gsölk durchqueren. Aber sie sehen nicht mehr wie Punkte aus, man kann schon erkennen, daß es Männer sind, Männer aus Liliput, gerade so groß.

Sie hält ein. Ihre Brust tobt wie eine arbeitende Maschine. Sie fühlt, jetzt könnte sie nicht mehr weiter, es wäre zu Ende. Da legt sie abermals die Hände an den Mund und schreit. Wenn sie es diesmal nicht hören, so ist alles verfehlt. Nicht einen Schritt könnte sie mehr weiter!

»Hoihoh!«

Und siehe, die zwei Liliputaner da oben stehen still und schauen sich um. Ihre letzten Kräfte zusammennehmend, winkt sie mit dem Tuche.

Gottlob! Sie müssen sie erblickt haben. Sie lugen aus, und dann fangen sie an abzusteigen, jäh herunter, man erkennt sie genau. Da sinkt sie erschöpft aufs harte Bett der Steine.

Doll steht vor ihr. Er erkennt sie kaum wieder. Abgerissen, verstört, blutüberströmt liegt sie vor ihm.

»Um Gotteswillen, Baronin, was ist Ihnen?«

»Nichts! Nichts!« deutet sie mehr, als sie es spricht. »Eilen Sie! Fliehen Sie! Hinunter! Hinunter!«

Kopfschüttelnd sehen beide Männer einander an. Sie begreifen nicht, was in ihr vorgeht, warum sie hier heraufgekommen ist.

»Der Mahrkopf!« stößt sie hervor und hebt den Arm.

Sie folgen mit dem Blicke ihrer ausgestreckten Hand. Ist es nicht, als ob plötzlich der ganze Mahrkopf sich neigt? Als ob er sich langsam umlegt? Und im nächsten Augenblicke stürzen beide Männer zu Boden, die Erde hebt sich und schüttelt. Ein dumpfer Donner steigt aus ihrem Innern. Ein Sturm braust durch die Luft, und krachend poltern hausgroße Felstrümmer und Schuttlawinen rechts und links an der Stelle vorbei, wo sie stehen. Wie Gewitter geht es durch die Wände und hallt ringsum lange grollend nach, während immer noch Gesteinsmassen kollern und gleiten, als wäre das ganze Gsölk ins Rutschen geraten.

Als Doll sich aufrichtete, sah er Ambros an der Erde liegen.

»Was war das?«

Er springt empor und blickt nach der Wegwacht hinunter. Seine Brust hebt sich, wie von einem Gebet der Dankbarkeit geschwellt. Unversehrt liegen die Werksgebäude auf der grünen Paßhöhe nebeneinander, und aus seinem eigenen kleinen Haus, wo jetzt Bethy um ihn zittern wird, steigt bläulich der friedliche Rauch des Herdes. Bis nahe an das Werk der Menschen hat der Bergsturz seine Trümmer herangewälzt, aber knapp davor haben sie halt gemacht. Ihr plumpes Schwergewicht gehorchte der Bosheit nicht, die sie sandte, sobald sich ihnen Gelegenheit dazu bot, blieben sie lastend liegen wie schwerfällige Tiere, die nichts Gutes wollen, aber zu stumpf und träge sind, das Werk der Zerstörung auf ihr versteinertes Gewissen zu laden.

Und die vielen Arbeiter, die rings in den andern Steinbrüchen auf der Höhe beschäftigt sind, haben sich durch den Schreck nicht lange aufhalten lassen. Schon hört man von allen Seiten wieder das emsige Klirren der Meißel und Pochen der Hämmer im Gestein, und durch die lautlose Stille, die jetzt über der Wegwacht liegt, klingt traut und friedlich das Geräusch der Arbeit.

Auch Ambros hat sich aus seiner Betäubung aufgerichtet und ist zu Doll getreten. Sie blicken nach dem Mahrkopf hinauf. Die ganze Gestalt des Berges scheint verändert. Und an der Stelle im Gsölk, wo sie standen, als die Baronin sie anrief, türmen sich jetzt Felsentrümmer übereinander, als hätten Titanen in wildem Übermute sich gegenseitig damit bombardiert.

Doll streckte nur die Hand aus und zeigte stumm hinauf. Und auch Ambros redete kein Wort. Er nahm die Mütze vom Kopf, und Doll sah, wie er mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen dastand.

Ein Stöhnen schlug an Dolls Ohr. Da bemerkte er erst, daß der Baronin das Bewußtsein geschwunden war. Bleich wie eine Tote lag sie im Gestein. Regungslos ruhte ihr Haupt auf einem Felsstück, und aus dem halb geöffneten Mund kam der Atem röchelnd und stoßweise wie bei einer Sterbenden.

O wie gern würden sie ihr danken! O wie gern würden sie ihr helfen, ihr beistehen, sie retten, wie sie soeben selbst gerettet wurden!

Die beiden Männer flechten eine Bahre aus den zähen Zweigen der Bergkiefer und tragen die Ohnmächtige auf die Wegmacht hinunter.

Ist hier noch etwas zu helfen? O wie gern würden sie ihr beistehen, wie gern sie retten, wie sie soeben selbst gerettet wurden!

Im Hospiz auf der Wegwacht, in demselben Zimmer, wo Doll gewohnt hatte, als er zum ersten Male die Paßhöhe betrat, wurde sie gebettet. Sie fiel in Delirien und kam nur für kurze Augenblicke zu sich. In einem solchen Augenblicke erkannte sie Bethy, die sie pflegte und betreute.

Da sagte sie zu ihr, indem sie sie duzte, obgleich sie sonst nicht auf du und du gestanden hatten: »Du mußt mir nicht böse sein, Bethy! Ich habe Doll geliebt.«

Bethy streichelte ihre Hand.

»Du bist Dolls Schutzengel geworden.«

Da trat ein verklärtes Lächeln auf ihre Lippen.

»So ist es gut!« sagte sie.

Bald darauf erkannte sie Bethy nicht mehr. In weniger als sechsunddreißig Stunden raffte ein Blutsturz sie hin.

Bei ihrem Begräbnis betraten Doll und Bethy zum erstenmal Schloß Grahovo. Es fiel ihnen auf, daß der Freiherr nicht daran teilnahm. Als sie ihren Wagen bestiegen hatten, um auf die Wegwacht zurückzukehren, trat Leo von Pinkenfeld heran und teilte ihnen mit, daß der Freiherr abgängig sei. Er war seit dem Morgen, da er vor Tagesanbruch das Schloß verlassen hatte, nicht mehr dahin zurückgekehrt. Die slawischen Arbeiter, die er im Edelweißbruch beschäftigt hatte, sagten aus, er sei an demselben Morgen bei ihnen erschienen und hätte Befehl erteilt, die elektrische Zündung zu einer bestimmten Stunde in Tätigkeit zu setzen. Hierauf hatte er sich entfernt, niemand wußte, wohin, niemand hatte ihn seither gesehen.

Es blieb lange ein Rätsel, wo er geblieben war. Leo hielt es für möglich, daß er sich ins Ausland begeben hätte, um seinen Gläubigern zu entfliehen. Wenigstens ergab die Erhebung seiner Verhältnisse, daß auch ein für ihn günstiger Ausgang seines Prozesses ihn kaum vor dem Ruin hätte retten können.

Viel später erst stellte es sich heraus, daß es ihm nicht an dem Mute gefehlt hatte, der immerhin noch dazu gehört, die Summe eines verfehlten Lebens zu ziehen.

Als Doll unterhalb jener Schlucht, die nach dem Edelweißbruch führt, die Felsentrümmer wegräumen ließ, um den Einstieg freizulegen, fand man die Leiche des Freiherrn darunter begraben. Da die Zündung genau zu der von ihm selbst bestimmten Stunde betätigt worden war, so schien ein unglücklicher Zufall ausgeschlossen. Es blieb keine andere Deutung übrig, als daß er freiwillig in den Tod gegangen war.

Das Wappenschild der Freiherrn von Gall-Rastenburg-Grahovo wurde bei seinem Leichenbegängnis umgekehrt getragen, so daß die drei silbernen Panther im roten Feld auf dem Kopfe standen. Denn der Mannesstamm der Linie starb mit ihm aus. Und wenn er – was übrigens nicht erwiesen ist und nie zu erweisen sein wird – wirklich die verbrecherische Absicht gehabt haben sollte, zugleich mit sich selbst auch seine Feinde und ihr Werk zu vernichten, so mag, wenn nicht zur Entschuldigung, so doch zur Erklärung seines Vorgehens die Erwägung beitragen, daß er als letzter Sproß eines Geschlechtes, das jahrhundertelang sein Recht mit der Faust gesucht hatte, sich in die neue Zeit nicht finden konnte, in der Kämpfe immer weniger durch Gewalt entschieden und dauernde Siege nur durch stetige Friedensarbeit errungen und festgehalten werden.

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