Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Denselben Abend saßen in der »Traube« zu St. Jodok Großvater und Enkel mit einer Anzahl Einheimischer um den schweren viereckigen Tisch beisammen. Der alte Bornschbögel liebte es, mit schlichten Menschen zu verkehren und aus ihrem Munde die Sorgen und Hoffnungen ihres Lebens zu erfahren. Er rühmte es als einen besonderen Vorzug der Fußreisen, daß sie erwünschte Gelegenheit hierzu böten. Wer im Wagen vorfahre, meinte er, bleibe den Leuten ein Fremder; in dem müden Wanderer hingegen sähen sie ihresgleichen und erschlössen ihm willig ihre Herzen.

Als Grundton ging durch die Gespräche jene bekannte Klage über den Niedergang der bäuerlichen Verhältnisse, die so allgemein ist. Was hatte dieser entlegene Gebirgswinkel früher von auswärtigen Ländern gewußt, wo das Gold der Kornfelder ununterbrochen Meilen und Meilen entlang wogt? Was von Absatz und Handel? Von Geld- Steuern und -Umlagen? Was von anderen Bedürfnissen als solchen, die die Bauernwirtschaft aus sich selbst heraus zu befriedigen vermag? Jetzt verstaubte der hölzerne Bauernwebstuhl, und das Spinnrad stand vergessen in einem dunklen Winkel des Bodenraumes. Leinen, Lichter, Loden, sogar Korn, kamen dem Alpenbauer gekauft fast billiger zu stehen als selbst erzeugt und selbst gebaut. Und weil hundert Dinge, der Fleiß der Hände miteingerechnet, ganz unglaublich wohlfeil geworden waren in St. Jodok, so herrschte ein einmütiges Seufzen unter den Leuten, daß es so teure Zeiten nie gegeben hätte.

Wer trug Schuld daran? Das wußte jeder genau. O nach dem Schuldigen brauchte man nicht lange zu suchen, ein jeder kannte ihn, aber einem jeden hieß er anders. Vielleicht waren sie allzusammen Schuldtragende, der Steuerexekutor und der Advokat, die Regierung und die Gesetze, die großen Städte draußen und ganz besonders die Juden, die darin wohnten, vor allem aber die Welschen und die Wenden, die glatten, hinterlistigen Schlangen, die über die Paßhöhe der Wegwacht in die Lüsen herabgeschlichen kamen, das erbeingessene deutsche Bauerntum zu verdrängen.

Wo ein Welscher oder ein Windischer hintritt, da wächst dem Deutschen kein Gras mehr!

Ein ehrenfester und ruhiger Mann, den sie Ambros nannten, meinte, es nehme ihn bloß wunder, warum es dann gerade den neu Eingewanderten gedeihe? Die seien doch auch Menschen und müßten sich sorgen und plagen, das Ihrige zu erhalten!

Wie konnte man blind genug sein, den Unterschied zu übersehen? Der Windische, der von drüben über die Wegwacht kam, war doch bloß ein halber Mensch, der schlechter und frugaler lebte als der letzte deutsche Bauernknecht. Und der Welsche verlangte von seinem Gütel nichts weiter, als daß es sein Weib und seine unmündigen Kinder ernähre, die es bewirtschafteten. Er selbst mit den halb oder ganz Erwachsenen zog ins Weite und verdiente sich seinen Unterhalt in der Fremde, brachte wohl auch einen Sparpfennig mit heim. Ja, wer das könnte und über sich brächte! Händler und Bauer sein ist zweierlei, mit deutscher Treue an seiner Scholle hängen etwas anderes, als mit welscher List Waren anpreisen und Kunden übers Ohr hauen.

Ein schon ziemlich angetrunkener Mann, ein Besitzer aus der Gegend, den sie Gramundler nannten, der wußte am meisten von der deutschen Treue und Heimatliebe zu sagen. Und von der Pflicht des Staates, den Bauer auf seiner Scholle zu schützen! Denn der Bauer sei das Wichtigste und Notwendigste auf der Welt, der Bauernstand ein heiliger Stand und alle andern Menschen unnütze Brotesser im Vergleich mit dem Bauer! Das Elend der Rührseligkeit übermannte ihn, weil ein deutscher Bauer nach dem andern abwirtschafte in der Lüsen, und ein Hof nach dem andern in fremde Hände übergehe.

Da wurde der alte Bornschbögel, so behaglich er neben Doll in der Wirtsstube saß, ein wenig aufgebracht. Und erzählte ihnen, überall sei es schwieriger geworden, in der neuen Zeit, nicht bloß in der Bauernwirtschaft, das mögen sie sich nur ja nicht einbilden! Im Handwerk und Gewerbe zum Beispiel geradeso, da wisse er Bescheid, weil er selbst ein Seidenweber gewesen. Die Zähne zusammenbeißen heiße es heutzutage und zusehen, wie man's zwinge; mit Jammern richte keiner etwas, der Städter so wenig wie der Bauer!

»Die Welschen schicken uns ihre Seidenstoffe ins Land,« sagte er, »und nicht bloß die Welschen! Auch die Schweizer, die Franzosen, sogar die Japaneser! Glaubt ihr, dem Weber hilft einer, wenn er sich nicht selber hilft? Gescheit und geschickt und fleißig muß er sein – sonst wirtschaftet er halt auch ab!«

Dem Besitzer des Gramundlergütels, der von Wein und Eifer erhitzt war, wollte der Vergleich nicht passen. Bei den letzten Reichsratswahlen war er Wahlmann gewesen, und der Volksmann aus der Stadt, der sich um das Mandat bewarb und mit breitem Pinsel aufzutragen verstand, hatte ihn und manchen andern mit wirtschaftlichem Zuckerbrot ins politische Märchenland gelockt, wo man vor lauter al fresco gemalten Parteibäumen den wirklichen Wald nicht mehr sieht. Der sausende Wind der demagogischen Beredtsamkeit war in die Lodenjoppen gefahren, sie aufblähend und mit allein echter Gesinnung füllend. Sich in die Brust werfen und überall Schuld wittern außer bei sich selbst, stärkt das Herz, und man kann dabei ruhig die Hände in den Schoß legen. Bauernempfindsamkeit ist wohlfeil zu haben, und ein jeder Stand läßt sich gern einreden, daß er gestützt werden müsse, weil er selbst zu den vornehmsten Stützen gehöre. So hätte es, wären alle Wünsche zu erfüllen gewesen, bald keine Stützen mehr und bloß noch Gestützte gegeben. Die Bevormundung von oben, vor achtundvierzig das Schreckbild aller, war nach und nach zur Lockspeise der volkstümlichen Wühlerei und Gegenstand bequemer Sehnsucht geworden. Die Überhebung, die einst der bessere Rock sich gegen den schlechteren herausgenommen, schlug jetzt allmählich die umgekehrte Richtung ein und machte jeden, der sich bewußt war, ein Wahlrecht zu besitzen, zu einem verdrossen Fordernden.

Wenigstens in St. Jodok gab es Bauern, die sich weit mehr dünkten als gleichberechtigte Arbeiter in einem großen, emsigen Bienenkorbe, und still oder laut der Meinung waren, die Gemeinschaft sei dazu verpflichtet, an ihrer wirtschaftlichen Rettung zu arbeiten, nur sie selbst brauchten nichts weiter dazuzutun, als ebenso gemächlich ihre Sache weitertreiben wie ihre Väter und Vorväter es getan hatten.

Dem Mann indessen, den sie Amoros nannten, behagte es wenig, in dieses Horn zu stoßen. Er war einer von den Gelassenen, die gern auf sich selbst vertrauen und ihre Sache ruhig treiben, wachsam und immer darauf gefaßt, daß das Morgen anders sein wird als das Gestern.

Nach fremder Hilfe auslugen, stehe ihm wenig an, sagte er. Nur behindert wolle er nicht sein, fördern werde er das Seinige schon selbst. Und im Ganzen, dünke ihn, sollte man nicht so viel reden und sich dafür mehr dazu halten. Immer der Bauer und der Bauer heiße es jetzt bloß, als ob andere Stände nicht ebenso notwendig und unentbehrlich wären! Wenn der Bauer für die Städte arbeite, so arbeiten die Städte wieder für den Bauer, das gehe so ineinander und hin und her, eins könne ohne das andre nicht sein und keines sollte sich einbilden, es sei das Wichtigere und müsse eigens einen Schutzengel hinter sich haben, der bestellt sei, seinen Vorteil wahrzunehmen!

Darüber gerieten sie scharf aneinander. Wovon die in der Stadt überhaupt zu leben hätten, wollte der Gramundler wissen, ohne des Bauers Vieh und Korn, ohne des Bauers Arbeit?

»Es ist nur gut, daß sie nicht von deiner Arbeit leben müssen!« gab der Ambros zurück.

Und dann nahm er gar die Welschen in Schutz und die Wenden. Gut deutsch sei er selbst, das wisse jeder, und leiden könne er keinen Furlaner, ob der italienisch schwatze, oder windisch. Aber zugeben müsse man, daß sie arbeitsam wären und mit wenig auszukommen wüßten. Umbringen könne man sie nicht, so bliebe nichts übrig, als gescheiter werden und seine Sache besser treiben, das wäre mehr wert als Weltverbessern.

Überhaupt – die Gattung Menschen, denen die Hühner das Brot wegfraßen, die seien ihm arg verdächtig.

Es lachten einige. Dem Manne aber, den sie Gramundler nannten, wurmte es nicht weniger, im Wortstreit zu verlieren als im Kartenspiel. Er geriet aus Rand und Band, schalt den Gegner einen Herrenknecht, einen Weinpanscher (weil Ambros, wie sich später herausstellte, Wirt auf der Wegwacht war) und einen Judas, der es mit den Feinden halte. Als aber niemand mehr mit ihm sich einlassen wollte, ging er schließlich polternd und schwankend davon, ansehnlich angetrunken mit welschem Wein.

Den andern Tag, als die beiden Wanderer in der Morgenfrische die schmale weiße Fahrstraße zwischen den Matten hinanstiegen, holte der starke große Mann, welcher Ambros hieß, mit seinem langsamen, stetigen Bergesteigerschritt sie allmählich ein und bot ihnen einen guten Morgen. Er trug eine hölzerne Trage auf dem Rücken, wie Senner und wohl auch Schmuggler sie im Gebirge benützen, es war ihm schwer aufgepackt, aber anscheinend trug er's ohne Mühe.

Noch hatten sie kaum erst ein paar Worte miteinander gewechselt, als plötzlich, während ihre Straße sie an den letzten und obersten Höfen von St. Jodok vorüberführte, ein wüstes Geschrei und Gezeter an ihr Ohr schlug.

Eine hagere Frau stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür eines Holzschuppens, während von innen eine unsichtbare Gewalt die Tür zu öffnen und den Widerstand zu brechen versuchte. Eine Zeitlang schwankte die Wage der Entscheidung, bis die geheimnisvolle Macht, die den Blicken der Zuseher entzogen war, die Oberhand gewann, worauf die Frau zurücktaumelte und die Tür aufflog. Ein Mann kam zum Vorschein, der eine weiße Ziege an einem Strick hinter sich herzog.

Die Frau fuhr fort zu zetern und zu greinen, wendete sich an die drei Männer, die am Zaune standen und rief sie gleichsam zu Zeugen des Unrechts auf, das ihr widerfahre. Diese erkannten bald, daß es sich um eine Pfändung oder dergleichen handelte; denn der Mann, der sich anschickte, die Ziege fortzuführen, war die menschgewordene Staatsgewalt, wie aus der Amtskappe ersichtlich, die er sich jetzt aufstülpte. Er war die Hand des Gesetzes, die sich aus Ebriach, dem Marktflecken weiter draußen im Tal, wo die Behörden ihren Sitz hatten, nach diesem entlegenen Bauernhof in der Lüsen ausstreckte, um eine weiße Ziege bei den Hörnern zu fassen.

O fleischgewordenes Paragraphenzeichen, vollführe unentwegt die durch Brief und Siegel geheiligte Amtshandlung! Kümmere dich nicht um das verzweifelte Weib, höre nicht auf ihre Einwände, die Ziege sei ihr Eigentum, ihr Erspartes, die Ziege falle aus der Masse, die Ziege dürfe nicht aufgeschrieben und fortgeführt werden! Schreite mit ehernem Schritt über die Unglückliche hinweg, wenn sie sich dir in den Weg werfen will, schüttle sie ab wie eine lästige Klette, wenn sie sich an deine Rockschöße klammert! Wappne deine Brust mit Härte und mit dem Stahl der Überzeugung! Halte dir vor Augen, daß du die vollziehende Gewalt des Bezirkssprengels Ebriach bist! Und mehr noch: die Vollzugsgewalt eines ganzen Kronlandes, eines ganzen Reiches sogar, eines großen, mächtigen Staatswesens, ja, was sag' ich? – die vollziehende Gewalt einer ganzen Weltordnung, die eiserne Hand des Schicksals, eine Art von jüngstem Gericht, das die Lämmer von den Böcken sondert, die Gerechten von den Ungerechten, oder wenigstens die Erfolgreichen von den Erfolglosen, die Hinaufkommenden von den Zugrundegehenden. Denn die weiße Ziege, die jetzt von ihrem Stalle Abschied nimmt, was ist sie anderes als ein Symptom, als ein Vorbote des Kommenden? Sollte es denn leerer Zufall sein, und steht es nicht mit Sternenschrift im Buch der Gerechtigkeit geschrieben, daß das Gramundlergütel in St. Jodok aus der Hand seines gegenwärtigen Besitzers ins Eigentum eines Mannes überzugehen bestimmt ist, der sich Slawitsch nennt und erst ganz kürzlich mit einer Schar Kinder aus dem wendisch-welschen Grenzland über die Wegwacht nach St. Jodok eingewandert ist?

Bedrückt durch das Bild des Niedergangs, das ihnen hier entgegentrat, setzen die drei Männer ihren Weg fort und bleiben einsilbig, bis das Steigen in der frischen, morgendlichen Bergluft ihre Herzen wieder freier macht und ihre Zungen löst. Jetzt erst erfahren Großvater und Enkel, daß ihr Gefährte der Wirt von der Wegwacht ist, und dieser freut sich, da er vernimmt, daß sie auch auf die Wegwacht wandern und sogar eine Zeitlang sich dort aufzuhalten gedenken.

Doll möchte gern wissen, ob Ambros bloß Pächter, oder auf der Wegwacht daheim sei? Er erfährt, daß das Anwesen da oben in den Bergen, auf der Paßhöhe zwischen deutschem und fremdsprachigem Lande, sich schon seit Menschengedenken in der Hand ein und derselben Familie erhalten hat. Es ist ein altererbter Besitz, den Ambros bewirtschaftet, schon sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater, alle waren sie Wirte auf der Wegwacht gewesen.

»Wenn aber die unten eins nach dem andern ihre Sache verwirtschaften,« sagt er von Unmut übermannt, »was nützt mich dann das Wegwachten? Leicht erleb' ich es noch, daß St. Jodok halb welsch und halb wendisch wird!«

Darauf verfielen sie wieder in Schweigen und gingen bekümmert nebeneinander her. Aber Doll bemerkte, wie der eifrige Großvater sich abmühte, mit dem Gefährten Schritt zu halten, der um vieles jünger und des Bergsteigens nicht ungewohnt war wie der alte Herr. Er gab dem Wirte einen Wink, worauf dieser, rasch verstehend, innehielt und eine große silberne Uhr aus dem Hosensack hervorzog.

Nun müsse er aber vorwärts machen, die Gäste in der Herberge anzukündigen. Denn zu essen würden sie auch etwas haben wollen, in der Bergluft komme einem der Hunger! Und mit dem landesüblichen Gruß: »Zeit lassen!« legt er seine weitausgreifende Gangart wieder ein und läßt die beiden Weggesellen, ohne sich noch ein einziges Mal nach ihnen umzusehen, mehr und mehr hinter sich zurück, während er doch nur ganz gemächlich Schritt vor Schritt zu setzen scheint.

Die Straße ist nicht zu verfehlen und ein Führer überflüssig. Je höher man emporkommt, umso reiner weht die Luft, umso hochstämmiger rauscht der Wald. Mit jeder Biegung des Weges feiern die beiden Wanderer eine neue Andacht. Immer näher sehen sie den tiefblauen Himmel über sich. Jetzt stehen bloß noch zartgefiederte Lärchen auf den Wiesen verstreut. Jetzt erreichen sie die Sattelhöhe, die über der Baumgrenze liegt. Da fliegt der Blick frei über weite grüne Alpmatten, die mit Felstrümmern übersät sind, und zu beiden Seiten steigen graue Schutthalden daraus empor wie verzweigte Wurzeln, die die wuchtigen Felsgipfel in der Runde nach dem nährenden Erdreich ausstrecken.

Der Großvater zog eine Karte aus der Brusttasche hervor und hielt sie ausgebreitet zwischen den Händen. Ein kleines schwarzes Rechteck war auf der Paßhöhe eingezeichnet, ein paar kleinere daneben und außerdem noch ein winziger Kreis mit einem Kreuzlein darüber, wie die Kartenzeichner eine Kapelle andeuten. Über dem Ganzen aber stand in Perlschrift gedruckt: »Auf der Wegwacht.«

Eine geballte Wolke mit goldglänzenden Rändern tritt in diesem Augenblick vor die Sonne und wirft ihren Schatten auf die saftgrünen Grashänge zur Rechten. Wie ein dunkles Schiff gleitet der Schatten daran entlang, das weiße Fahrsträßchen aber, das sich wie ein dünner Faden über die Wellen des hochgelegenen Bodens hinzieht, leuchtet nur umso heller. Da erblickt Doll fern an der Straße die grauen Schindeldächer der Gebäude, die auf der Karte eingezeichnet waren. Nur für ein scharfes Auge zu entdecken, lagen sie in der großartigen Umgebung inmitten der unzähligen grauen Felstrümmer, neben denen die unscheinbare Siedelung der Menschen ein paar winzigen Sandkörnern glich.

Neue Ströme von Licht stürzen hernieder, die geballte Silberwolke fliegt weiter und wirft Anker nach einer der höchsten Felszinken hin, wo sie die Schneeflecken in den Schrunden an Reinheit und Weiße zu überstrahlen sucht.

»Hier möcht' ich daheim sein!« rief Doll, überwältigt von der Schönheit und Größe, die gegen seine Seele stürmten.

Hufe klangen auf dem Fahrsträßchen ganz in der Nähe und die rollenden Räder eines Wagens. Um einen Grashang, der ihnen das Nahen des Gefährts verborgen hatte, bog ein leichter Jagdphaëton. Ein vornehm aussehender Herr in der Tracht eines Jägers lenkte selbst die Pferde, eine junge Dame mit prachtvoll schwarzem Haar, gleichfalls in Jägertracht, saß neben ihm, und auf dem rückwärtigen Sitz der Kutscher mit gekreuzten Armen und ein Forstmann, der mehrere Jagdflinten in Lederfutteralen zwischen den Knien hielt.

Eine steile Stelle nötigt die Pferde, im Schritt zu gehen. Der Wagenlenker scheint ganz mit den edlen Tieren beschäftigt und scheucht ihnen mit der Bogenpeitsche die Bremsen von den Flanken. Die junge Frau aber wendet auffallend den Kopf nach Doll herum und blickt ihn an. Da besinnt dieser sich endlich und reißt den Hut vom Kopfe.

Sie neigt lieblich lächelnd das Haupt und grüßt zu ihm hinüber. Im nächsten Augenblicke ziehen die Pferde an, und der Jagdwagen rollt in scharfem Trab davon.

Die beiden Wanderer schreiten rüstig aus, in den grünen Alpboden niederzusteigen.

»Triffst du sogar in dieser Einsamkeit Bekannte?« fragte der Großvater lächelnd.

»Es ist seltsam,« sagte Doll, »daß man von einem Menschen eher ein Bild seines Wesens und Charakters in Erinnerung behalten kann als seinen Namen, ja sogar seine äußere Erscheinung. Ich hätte um ein Haar versäumt, die Dame zu grüßen, die ich einmal irgendwo in Gesellschaft getroffen haben muß. Ich zerbreche mir auch vergeblich den Kopf darüber, wer sie ist, und kann nicht dahinter kommen. Und doch habe ich ein ganz deutliches Gefühl ihrer Art, ich glaube sie so genau zu kennen, als hätt' ich sie oft gesehen und gesprochen.«

»Das kommt vor, heutzutage,« sagte der Großvater; »es wundert mich auch nicht sehr.«

»Und wie erklärst du es?«

»Ganz einfach. Es gibt halt auch bei den Menschen wie bei den Blumen Gattungen. Eine Tulpe oder Hyazinthe kenn' ich überhaupt nicht persönlich und weiß doch gleich, daß sie bestimmte Eigenschaften haben muß, wie eben eine jede Tulpe oder Hyazinthe sie hat.«

»Die Menschen pflegen sich sonst ein wenig voneinander zu unterscheiden?«

»Die Menschen, die nicht viel gelernt haben,« sagte der Großvater, »oder doch nicht mehr, als sie brauchen können. Und dann auch die andern, die soviel gelernt haben, daß sie wirklich gescheiter davon geworden sind, Die in der Mitte aber, die bloß mit der Bildung angestrichen sind, die sind einer wie der andere. Jetzt kommen ja die mechanischen Webstühle auf. Wenn das Werkel einmal eingerichtet ist, so webt so ein Kraftstuhl ganz von selbst weiter, so lang als du willst, tausend Meter meinetwegen. Und wenn du ein Meter gesehen hast, so kennst du auch die neunhundertneunundneunzig anderen. Es ist alleweil dieselbe Fadenzahl und alleweil die nämliche Struktur. No, und bei den Menschen gibt es halt auch Massenartikel.«

Doll lächelte, aber er widersprach nicht. Wem alles in der Welt so einfach scheine wie dem guten Großvater, dachte er, den müsse man auch dabei lassen. Schließlich sei es eher ein Glück als das Gegenteil, die Dinge einfach zu sehen. Und wer weiß, hatte der Großvater nicht auch ein klein wenig recht? Der Menschen, die einen persönlichen Eindruck hinterlassen, vergißt man doch nicht so leicht. Und wenn er nicht wußte, wo er jene anmutige junge Frau hintun sollte, die ihm vom Jagdwagen zugenickt hatte, so mochte die allgemeine Vorstellung, die ihm von ihrem Wesen zurückgeblieben war, in der Tat mehr auf eine ganze Spezies passen, als auf ein bestimmtes Exemplar.

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