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XXXI. Abbé Montroses Rückkehr

Seine Eminenz bat Krag, Platz zu nehmen, und er setzte sich ihm gegenüber in seinen bequemen Lehnstuhl.

»Es freut mich außerordentlich,« sagte er, »daß die energischen Nachforschungen der Polizei Erfolg gehabt haben. Wenn ich Sie recht verstehe, werden wir bald die Freude haben, Abbé Montrose wieder unter uns zu sehen. Ich hoffe, daß ihm nichts Ernstes zugestoßen ist. Da alles bereits aufgeklärt zu sein scheint, ist es vielleicht nicht einmal nötig, daß ich Ihnen den Brief zeige, den Montrose mir geschrieben bat?«

»Doch,« antwortete Krag. »Ich bin des Briefes wegen hergekommen. Ich halte ihn für außerordentlich wichtig. Ich hoffe, daß vor Ablauf einer Stunde etwas geschehen wird, das diese ganze Angelegenheit auf befriedigende Weise abschließt. Falls dieses Etwas aber nicht eintrifft, glaube ich dennoch, daß der Brief das letzte entscheidende Glied in meiner Beweiskette sein wird.«

»Es freut mich aufrichtig, daß Sie den Brief für so bedeutsam halten,« antwortete Seine Eminenz mit seinem verbindlichen Lächeln, »dann weiß ich jedenfalls, daß ich Sie nicht unnötig bemüht habe.«

Der Bischof öffnete seine Schreibtischschublade und suchte zwischen Papieren.

»Der Brief ist ganz privat,« sagte er, »darum habe ich bisher daran gezweifelt, daß er der Polizei von Nutzen sein könnte.«

»Der Inhalt ist auch nicht so wichtig, sondern der Brief als solcher.«

»Aha, ja, auf so etwas versteht die Polizei sich besser, als ein alter Priester. Der Inhalt ist in Kürze folgender,« fuhr Seine Eminenz fort, indem er den Brief entfaltete, »Abbé Montrose bittet mich um eine Unterredung, weil es seine Absicht ist, die Kirche zu verlassen, um sich ganz seinen wissenschaftlichen Studien zu widmen. Er bittet mich, ihn aus dem Verband der Kirche zu lösen. Er schreibt, daß sein Entschluß feststeht und fügt hinzu, daß Umstände da sind, die eine Änderung in seinem Entschluß unmöglich machen. Dieser Brief ist am Abend vor dem bedauernswerten Auftritt in der Bibliothek des Abbé geschrieben. Ich gestehe, daß Montrose mir bereits bei früheren Gelegenheiten diesen selben Plan vorgelegt hat, und daß ich dann getan habe, was meine Pflicht mir gebot, indem ich versuchte, ihn von diesem aufsehenerregenden Schritt zurückzuhalten. Als ich diesen Brief bekam, sah ich indessen ein, daß es keine Wahl mehr gab, denn Montrose gehört zu jenen willensstarken Menschen, die von einem einmal gefaßten Entschluß nicht abzubringen sind. Darum sah ich ein, daß es nichts anderes zu tun gab, als das Band auf die geeignetste Weise zu lösen. Das ist ja eben die Stärke unserer Kirche, daß sie mehr mit den unvermeidlichen Ereignissen des Menschenlebens rechnet, als andere Kirchengemeinden dieses Erdenlebens. Hier ist der Brief, mein Herr.«

»Das Gesagte beweist mir bereits,« sagte Krag, »daß der Brief das abschließende Glied meiner Beweiskette bildet. Und es freut mich, daß Abbé Montrose auf jene Nachsicht rechnen kann, die alle Schwierigkeiten im Menschenleben verständnisvoll und freundlich beurteilt.«

Seine Eminenz beugte bejahend den Kopf.

Krag durchflog hastig den Brief, der nichts weiter enthielt, als was der Bischof bereits kurz wiedergegeben hatte. Darauf nahm er aus seiner Tasche ein sehr starkes Vergrößerungsglas und die Photographie einer jungen Frau – dieselbe Photographie, die er in jener Nacht in der Bibliothek des Abbés gefunden hatte. Er untersuchte eine Weile sowohl den Brief wie die Photographie sehr genau durch das Vergrößerungsglas.

»Zweifeln Sie an der Echtheit der Handschrift?« fragte der Bischof.

»O nein,« antwortete Krag. »Als Abbé Montrose Ihnen diesen Brief am Abend schrieb, bekam er zufällig etwas Tinte an den Daumen. Mit Hilfe des Vergrößerungsglases finde ich nämlich den Abdruck seines Daumens ganz unten in der rechten Ecke des Briefes. Derselbe Abdruck ist auch, viel deutlicher, auf der Rückseite der Photographie zu finden. Diese Photographie wurde in der geplünderten Bibliothek des Abbés gefunden. Als einige Stunden darauf ein Mann des Verbrechens verdächtigt wurde, stimmte sein eigener Fingerabdruck mir dem Abdruck auf dieser Photographie überein. Verstehen Sie, was das zu bedeuten hat?«

»Nein, ich muß sagen – –«

Krag legte die Photographie vor Seine Eminenz hin.

»Eine junge Frau,« sagte der Bischof, »ein junges und sympathisches Gesicht.«

»Ihr Name ist Clara Singer,« sagte Krag, »und diese Frau ist schuld daran, daß Abbé Montrose Ihnen den Brief geschrieben hat.«

»Ah, ich fange an zu verstehen –«

»Aber«, fuhr Krag fort, »damit Euer Eminenz ein deutliches Bild von der ganzen Sache bekommen, wird es notwendig sein, daß ich sie ganz kurz wiederhole. Die Sache hat in der Öffentlichkeit ein so großes Aufsehen erregt, wie sie es von Anfang an gar nicht verdiente. Ursprünglich handelte es sich nämlich um nichts anderes, als um einen ganz gewöhnlichen, plump ausgeführten Einbruch. Die Verhältnisse aber brachten es mit sich, daß das eine Verbrechen ein größeres nach sich zog. Überhaupt ist diese Affäre ein charakteristisches Beispiel dafür, wie verwickelt eine an sich ganz klare Sache werden kann, wenn sie mit einer anderen, nicht dazugehörigen Sache vermengt wird. Die Affäre Montrose ist nicht eine, sondern zwei Affären, die in diesen Tagen nebeneinander hergelaufen und von der Öffentlichkeit und der Polizei, übrigens begreiflicherweise, vermischt worden sind. So etwas kann ja leicht in einer großen Stadt vorkommen, wo Menschen und Geschehnisse einander ununterbrochen kreuzen. Bevor ich aber fortfahre, habe ich Euer Eminenz ein Geständnis für eigene Rechnung abzulegen. Ich habe jemanden mit hierhergebracht. Dieser Jemand hält sich in einem Nebenzimmer auf, und wenn es so weit ist, werde ich mir erlauben, Euer Eminenz die betreffende Person vorzustellen.«

»Es wird mir eine Freude sein, den Betreffenden kennenzulernen,« antwortete der Bischof freundlich. »Im übrigen bin ich sehr gespannt, die Fortsetzung dieser merkwürdigen Sache zu hören. Bitte, fahren Sie fort, mein Herr.«

Statt aber fortzufahren, verharrte Krag eine Weile in lauschender Stellung.

»Es läutet,« sagte er.

»Lassen Sie sich nicht davon stören,« sagte der Bischof, »die Besucher warten im Vorzimmer.«

»Ich möchte Euer Eminenz trotzdem raten, sich zu erkundigen, wer eben gekommen ist.«

»Wie Sie meinen. Ich verstehe, daß Sie eine besondere Absicht haben.«

Er drückte auf den elektrischen Knopf auf dem Schreibtisch, und nach einem Augenblick trat ein livrierter Diener ein. Das Gesicht des Bedienten trug Spuren äußerster Verstörtheit.

»Ja, ein Herr ... ich meine, der verschwundene ... ich –«

»Wer, mein lieber Morten Philipp?« fragte der Bischof von neuem.

» Herr Abbé Montrose,« antwortete Morten Philipp.

»Führe den Abbé herein,« befahl der Bischof und erhob sich erregt.

Abbé Montrose trat ein in einem schwarzen Rock, wie Priester ihn zu tragen pflegen. Große, blaue Brillengläser verbargen seine Augen.

»Treten Sie näher,« sagte der Bischof, »Sie kommen wie ein Wesen von jenseits des Grabes.«

Auch Krag hatte sich erhoben und betrachtete den Abbé.

Montrose rührte sich nicht.

Da ging der Detektiv auf ihn zu und streckte ihm seine Hand entgegen.

»Lieber Arnold Singer,« sagte er, »nehmen Sie Ihre Brille ruhig ab, die Wahrheit ist unterwegs.«

Abbé Montrose schien einen inneren Kampf durchzumachen. Da nahm er hastig die Brille ab und trat mit festen Schritten ins volle Licht. Es war Arnold Singers bleiches Gesicht und seine strahlenden Augen, die Krag von Anfang an aufgefallen waren.

»Ja,« rief er, »von jetzt ab nur die Wahrheit und nichts anderes. Ich bin Arnold Singer. Aber ins Gefängnis gehe ich nicht wieder zurück.«

»Das sollen Sie auch nicht,« antwortete Krag, »die richtigen Verbrecher sind ergriffen und werden bald ihren Lohn bekommen. Ich war gerade dabei, Seiner Eminenz zu entwickeln, daß jetzt nichts anderes zu tun ist, als jene menschliche Nachsicht zu üben, die Wunden heilt und Glück zurückgibt. Sie haben bereits genug auf Grund des Mißverständnisses der Polizei gelitten. Sie sind außer Gefahr.«

Zum Bischof gewandt, fuhr Krag fort:

»Die Ankunft dieses Herrn macht die Sache vollständig. Soll ich fortfahren? Also gut, nehmen Sie Platz, lieber Abbé Montrose, meine Erzählung ist in vieler Beziehung Ihre Geschichte. Ich bitte Sie, mich zu unterbrechen, wenn ich etwas sage, was nicht mit der Wahrheit übereinstimmt.

Also, meine Herren, Abbé Montrose hat sich vor drei Jahren den Gesetzen des Lebens und der Liebe unterworfen und ist eine Ehe mit Clary Whist, der Tochter des Wirts aus dem ›Vergoldeten Pfau‹ eingegangen.«

Abbé Montrose verhielt sich noch immer schweigend. Es war also wahr.

»Bereits damals«, fuhr Krag fort, »begann er das Doppelleben, das vielleicht nicht so unerhört selten ist innerhalb des priesterlichen Standes, wie man gern glauben möchte, und das einerseits sein Verlangen, sein eigenes Leben zu leben, befriedigte, andererseits seine Stellung nach außen als angesehenen Gelehrten und Prälaten nicht schädigte. Seine Frau kannte ihn nur als den braven und künstlerisch interessierten Arbeiter, der ihres Vaters Hotel so hübsch und phantasievoll dekoriert hatte. Sie führten ein vollendet glückliches Familienleben. Jeden Morgen begleitete sie ihren Mann zur Straßenbahn; jeden Abend, wenn er nach Hause kam, ging sie ihm strahlend und froh entgegen. Ein Kind erhöhte noch ihr Glück. Ich brauche mich nicht in Kleinigkeiten darüber zu verlieren, wie es Abbé Montrose glückte, sein Doppeldasein zu verbergen. Wahrscheinlich hatte er irgendwo in der Stadt einen heimlichen Zufluchtsort, wo er täglich, wenn seine Anwesenheit in der Abbéwohnung nicht mehrere Tage hintereinander erforderlich war, seine Verkleidung vornahm. Ich sehe Ihnen an, Abbé Montrose, daß ich richtig geraten habe. Ich brauche auch nicht weiter auszumalen, wie furchtbar peinlich dieses Doppelleben mit der Zeit wurde. Die Wissenschaft und Ihr Amt hielten Sie lange fest, schließlich aber siegte das Leben, und Sie beschlossen, Ihr offizielles Verhältnis zur Kirche zu lösen und wandten sich in dieser Veranlassung an Ihren Freund, Seine Eminenz, ohne jedoch den tatsächlichen Sachverhalt zu verraten. Ihr Verhältnis zur Kirche wäre auch sicher in aller Stille und ohne Aufsehen gelöst worden, wenn nicht ein unvorhergesehenes Ereignis eingetroffen wäre, das Sie veranlaßte, schnell zu handeln, und da schrieben Sie jenen Brief dort an den Bischof.

Da geschieht es, daß das Verbrechen in Ihr Schicksal eingreift. Und das Verbrechen wiederum bangt mit der Entdeckung Ihres Doppellebens zusammen.

Habe ich recht?

Gut, wir sind jetzt zum Abend vor der Plünderung in Ihrer Bibliothek gekommen.«


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