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X. Der singende Priester

Es erregte kein Aufsehen, als die Herren die Bar des ›Vergoldeten Pfau‹ verließen; in jenem Lokal schien es Regel zu sein, daß jeder tat, was ihm beliebte, ohne daß andere sich darum kümmerten.

Der kolossale Wirt hinter dem Schenktisch schien ganz und gar in das Putzen des Champagnerkübels vertieft zu sein – und nichts störte die vier Schönen in ihren häuslichen Beschäftigungen. Eine von ihnen hatte begonnen sich ihre Nägel mit einer Nagelbürste zu polieren, und ihre Freundin daneben sah interessiert zu. Bald näherte sich wohl die Zeit des Abends, wo die leeren Taburetts vor der Bar sich füllen und eine Veränderung in der Beschäftigung der Damen eintreten würde.

Der Mann mit dem gefängnisbleichen Gesicht starrte leer und gleichgültig durch das Lokal, als Krag und Keller an ihm vorbeigingen.

Keller flüsterte:

»Ich meine bestimmt, daß ich dieses Gesicht schon mal gesehen habe, ich weiß nur nicht wo.«

»Vielleicht im Gefängnis,« sagte Krag.

»Er sieht so aus, als ob er von dort käme,« gab Keller zu, »aber ich meine mit Bestimmtheit, daß mich eine andere Ideenverbindung mit seinem Gesicht verknüpft. Er saß so auffallend schlaff da, seine Augen waren wie erloschen, es war, als ob er mit jedem Nerv lauschte. Wenn ich ihn aber kenne, dann kennt er auch mich. Und dann sind wir nicht mehr anonym in diesem sonderbaren Haus.«

Rudolf ging mit fliegenden Rockschößen voran, indem er seine Serviette hin und her schwenkte. Die ganze Zeit murmelte er in einem halb singenden Ton:

»Meine Herren, diesen Weg, diesen Weg, meine Herren.«

Man hatte einen Wegweiser im »Vergoldeten Pfau« allerdings sehr nötig. Krags Mutmaßung, daß sich hinter der einfachen und schmalen Fassade ein ziemlich tiefes Gebäude verbarg, traf zu.

Anscheinend war das Hotel mehrfach angebaut worden. Die Stockwerke lagen übereinander, wie unordentlich zusammengeklebte Schachteln. Die verschiedenen Baumeister, die zu verschiedenen Zeiten dieses Haus vergrößert hatten, hatten keine Rücksicht auf Form oder Verhältnisse genommen, sondern nur da, wo sie Platz fanden, ein Viereck angebaut und mit dem alten durch schlau angelegte Treppen und winklige Gänge verbunden. Gänge und Treppen liefen wie Maulwurfwege im ganzen Haus herum. Drei Treppen hinunter und dann ein Stück Korridor, vier Treppen hinauf, ein schmaler Gang mit einer scharfen Biegung, darauf drei Treppen, und von neuem ein Korridor, der sich in mehrere Gänge teilte, und wieder neue schmale Gänge und neue Treppen. Hin und wieder riefen ihre Schritte einen schwachen metallisch verhallenden Laut hervor, der verriet, daß der Gang über einen Torweg oder einen darunter liegenden Korridor führte. Die Korridore aber waren überall mit Teppichen belegt, die die Schritte dämpften. Auf den Wandfeldern zwischen den Türen, die alle in einem roten Farbton gehalten waren, der an altes Blut erinnerte, waren phantastische Tiergestalten gemalt, die zum großen Teil einer unwirklichen Welt angehörten. Der Basilisk zeigte seine schreckeinflößenden Augen, die Seeschlange schlängelte sich gefährlich um die Türpfosten, und riesengroße Märchenvögel breiteten ihre Flügel bis weit über die Decke. Zwei Tierformen aber kehrten beständig wieder: Der Pfau, der mit seiner graziösen Pracht unbeschreibliches Wohlbehagen ausdrückte, und der Affe, der an seinem Schwanz baumelte und ein grimmiges, aber menschliches Gesicht zeigte. Um die Verwirrung noch größer zu machen, hatten die Türen keine fortlaufenden Nummern, sondern die Zahlen waren nach einem besonderen System geordnet, dessen leitenden Gedanken man unmöglich gleich erfassen konnte. So stand z. B. 6 neben 17 und 244 neben 88. Daß es aber wirklich ein System war, ersah Krag daraus, daß in einem Korridor die Zahlen 3 in folgender Ordnung gesammelt waren: 3, 13, 23, 33, 43 usw. In einem anderen Korridor standen die Zahlen 2, 4, 8, 16, 32, 64 usw.

Dies alles schien darauf berechnet, einen seltsamen Eindruck zu machen. Am rätselhaftesten, fast unheimlich wirkte indessen die Stille im Hotel. Das heißt, es war nicht ganz still, aber alle Laute hatten einen unendlich gedämpften Klang, als ob sie durch dicken Nebel zu einem drangen, und in diesem Hotel gab es viele verschiedene Sorten Laute. Irgendwo sang eine eintönige Stimme ein trauriges Lied, der Gesang kam von sehr weit her und doch hätten die lauschenden Polizeibeamten darauf schwören mögen, daß er ganz in ihrer Nähe aus Nummer 33 kam; auf diese Weise wurde jeder Laut von Teppichen und filzüberzogenen Zwischentüren gedämpft. Aus einer anderen Richtung hörte man Mandolinenspiel, hin und wieder erklang das leise Echo von Gelächter, aber es war unmöglich festzustellen, woher es kam. Vereinzelte Wesen schwebten vorbei, Kellner mit Wein in Küblern, und Gäste, die meistens ein ausländisches Gepräge hatten. Auf einem Korridor begegnete den Detektiven eine ganze Artistenfamilie, die auf dem Weg zum Zirkus zu sein schien, denn sie trugen allesamt schwarze Mäntel über ihren bunten flatternden Kostümen. An der Spitze ging der Mann, gewaltig von Umfang, aber elastischen Schrittes; ihm folgte seine Frau, keineswegs umfangreich, aber schwerfälliger im Gang; dann die übrigen Familienmitglieder, bis zu einem ganz kleinen Jungen herab, einer von denen, die hoch oben in der Luft herumgewirbelt werden und lachend herunterkommen. Alle schlichen fast lautlos über den weichen Teppich und verschwanden in der Tiefe des Korridors.

»Nummer 6, meine Herren.«

Rudolf riß eine Tür auf.

Auf der Schwelle fragte Krag:

»Können Sie den Weg zurückfinden, Keller?«

»Ohne Zweifel,« antwortete Keller, »ich habe einen vorzüglichen Orientierungssinn im Nebel, wir sind die ganze Zeit nach Westen gegangen. Der Rückzug muß also mit östlichem Kurs gesteuert werden.«

»Nummer 8 ist nebenan,« sagte Rudolf.

Krag wollte sofort auf das Gitter vor der Heizung zusteuern, Rudolf aber stellte sich ihm in den Weg. Er legte zwei Anmeldeformulare auf den Tisch.

»Ihre Namen, meine Herren,« sagte er.

Krag nahm den Bleistift. Was sollte er schreiben? Er sah Rudolf fragend an.

Rudolf lachte vergnügt. Der Kerl hatte anscheinend Phantasie. Die Namen, die er vorschlug, bewiesen, daß Stoff in ihm zu einem Verfasser von Abenteuerromanen war.

Indem er sich leicht vor Krag verbeugte, sagte er:

»Mir ist, als ob der Herr Havanna Jack heißen müßte. Beruf: Trapezkünstler.«

Krag schrieb ohne Einwendung.

»Und ich?« fragte Keller.

Rudolf überlegte.

»Dieser Herr ist Impresario, Spezialität Boxen,« murmelte er. »Mir müssen etwas Romantisches finden. Es macht mir Freude, ausgefallene Namen in den Büchern zu haben. Oh, meine Herren, neulich war hier ein Reisender, der Alexis Schrumpenüre hieß. Ich war den ganzen Tag glücklich! Ich schlage vor: Max Landauer, Impresario. Zufrieden?«

»Sie sind ein Meister,« sagte Keller und schrieb.

Rudolf nahm die Anmeldeformulare.

»Ich trage jetzt Herrn Landauers Reisetasche auf Nummer 8,« sagte er, »womit ich die Ehre habe, mich zurückzuziehen. Ich bin die Feinfühligkeit in Person und außerdem fürchte ich das Morgengewölk. Wenn aber der Herr Trapezkünstler aus Havanna tropische Wärme in diesem Zimmer wünscht, so ist die Zentralheizung dort drüben. (Er zeigte auf das Messinggitter unter dem Fenster.) Was sich sonst in diesem Zimmer befinden mag, habe ich vergessen. Vergessen Sie auch mich, meine Herren, bis es ans Trinkgeldzahlen geht. Leben Sie wohl.«

Darauf verschwand er mit einer eleganten Verbeugung. Eine Minute später hatte Krag das Gitter geöffnet. Er zog ein schwarzes, zerdrücktes Zeugbündel heraus und wickelte es auf. Es war ein Priesterrock.

Er hielt den Rock ins Licht.

Unten war ein Riß, der zu dem abgerissenen Fetzen paßte, den die Schutzleute auf Abbé Montroses Gartengitter gefunden hatten.

»Es ist kein Zweifel mehr möglich,« sagte Keller, »wir befinden uns auf der richtigen Spur, dies ist Abbé Montroses Priesterrock, und fühlen Sie hier, Krag, und hier, und hier –«

Krag strich mit der Hand über das zerknitterte Kleidungsstück.

»Noch feuchte Flecke, und rote Flecke – das ist Blut, mein Lieber.«

»Ohne Zweifel,« antwortete Krag, »das Schicksal des guten Abbé macht mir Sorge,« fügte er ernst und gedankenvoll hinzu.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich fürchte, daß er nicht mehr am Leben ist.«

»Diese Schweinehunde,« rief der grobe Keller mit einem Kraftausdruck. »Alle Spuren führen auf dieses seltsame Hotel zu. Der verhaftete Arnold Singer war hier angestellt. Seine Frau, dieses heuchlerische kleine Wesen, ist die Tochter des Morgengewölks. Und nun finden wir hier im Hotel des Morgengewölks diesen blutbefleckten Rock.«

Er sann nach.

»Ich nehme an, daß wir das Hotel mit fünfzehn Mann überrumpeln können,« sagte er nach einer Weile, »sie in ihrem eigenen Rattenloch fangen, das Morgengewölk und Thomas Uri und das Gefängnisgesicht und den Trapezkünstler und Boxer und die ganze Bande.«

»Erstens,« antwortete Krag scharf, »muß ich aufs entschiedenste dagegen protestieren, daß Clary Singer ein heuchlerisches Wesen ist. Sie sind sehr energisch und tüchtig, Keller, es fehlt Ihnen aber an Geduld und Menschenkenntnis, und ohne diese beiden Eigenschaften kann man dieser seltsamen Affäre nicht auf den Grund kommen. Zweitens: was wollen Sie mit einer Erstürmung dieses Hotels erreichen? Wir kennen ja nur diesen einen Eingang.«

»Genügt das nicht, um einzudringen?«

»Zum Eindringen allerdings, aber Sie können überzeugt sein, daß das Hotel mehrere Ausgänge hat.«

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Rudolf zeigte sich von neuem.

»Hallo,« rief Krag, und sah den Kellner interessiert an, »endlich mal ein menschlicher Ausdruck in diesem Komödiantengesicht. Er ist erstaunt. Was ist denn geschehen?«

»Der Abbé,« stammelte Rudolf, »Abbé Montrose ist hier.«

»Meinen Sie Herrn Thomas Uri?«

»Nein, den nicht, sondern den Abbé selbst. Er singt.«

»Er singt?« fragte Krag.

»Ja,« antwortete Rudolf, »er singt. Das tun viele hier im Hotel.«


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