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XVIII. Das Schicksal

Asbjörn hatte Bescheid gegeben, daß die Schutzleute den Toten vom Gasthof »Zum vergoldeten Pfau« in seine Wohnung tragen sollten. Als jetzt die Detektive Schritte auf der Treppe hörten, dachten sie im ersten Augenblick, daß es die Polizisten seien, die mit ihm kämen.

Krag öffnete die Tür, so daß das Licht durch den dunklen Treppenschacht fiel. Der Laut von Schritten verstummte. Unten stand ein uniformierter Schutzmann.

»Was wollen Sie?« fragte Krag, der ihn nicht kannte.

»Ich möchte einen der Detektive, Herrn Krag oder Herrn Keller sprechen.«

»Was wollen Sie?« fragte Krag von neuem und nannte seinen Namen.

»Kommen Sie etwas näher,« fügte er hinzu.

Der Schutzmann stieg die knarrende Treppe einige Stufen hinauf und sagte:

»Ich habe im Restaurant ›Zum vergoldeten Pfau‹ bereits nach Ihnen gefragt. Dort sagte man mir, daß Sie hier seien. Ich bringe Ihnen eine Mitteilung vom Polizeiamt.«

»Betreff des verschwundenen Abbé?« fragte Krag.

»Ja.«

»Hat man ihn gefunden?«

»Nein. Aber etwas anderes hat sich ereignet. Der Arrestant Arnold Singer hat einen Fluchtversuch gemacht.«

Krag erschrak. Keller hatte im Zimmer gehört, was draußen gesprochen wurde und eilte jetzt die Treppe hinunter.

»Er ist aber wieder gefaßt worden, wenn ich Sie recht verstehe?« fragte der Detektiv.

»Ja. Man hat ihn wieder gefaßt – eine Stunde nach seiner Flucht. Und jetzt ist er von neuem im Gewahrsam. In dieser Veranlassung aber wünscht man, daß wenigstens einer der Herren sich auf dem Polizeiamt einfinden möchte. Unten wartet ein Automobil.«

Krag und Keller verhandelten einen Augenblick und wurden sich einig, daß Krag dem Schutzmann folgen, während Keller hierbleiben sollte, um nähere Aufschlüsse zu bekommen, hauptsächlich über Arnold Singer, den der Wirt »Zum vergoldeten Pfau« ja näher kennen mußte, da er mit seiner Tochter verheiratet war.

Auf der Fahrt im Automobil erfuhr Asbjörn Krag die näheren Umstände von dem mißglückten Fluchtversuch. Diese näheren Umstände setzten Asbjörn Krag sehr in Erstaunen, weil sie die Vorstellung, die er sich von dem eigentümlichen Arrestanten gebildet hatte, ganz verschoben. Er hätte ihm ein schlaueres Vorgehen zugetraut, Krag fand den Fluchtversuch an und für sich sehr dumm, und außerdem so plump ins Werk gesetzt, daß der Detektiv plötzlich den überraschenden Einfall bekam, Arnold Singer habe diesen Fluchtversuch vielleicht einzig und allein aus dem Grunde gemacht, um den Verdacht, der auf ihm lastete, noch zu verstärken.

Abends um acht Uhr hatte Singer den Antrag gestellt, von neuem ins Verhör genommen zu werden. – Nicht in einer der Kriminalkammern, sondern unten in der Detektiv-Abteilung. Wahrscheinlich hatte er bei einem früheren Verhör bemerkt, daß dort eine Tür vom Korridor direkt auf die Straße hinausführte, und die Umstände für einen Fluchtversuch günstig waren. Das hatte er sich zu Nutzen gemacht. Als sein Wächter ihn hinunterführte, hatte er diesem einen heftigen Schlag versetzt, der ihn momentan betäubte, hatte die Tür aufgestoßen und war auf die Straße hinausgeeilt.

Indessen traten zwei Umstände ein, die die Flucht hinderten. Erstens war der Schlag, den er dem Wächter versetzt hatte, nicht stark genug gewesen. Der Mann schrie um Hilfe und Polizisten kamen aus allen Türen angestürzt. Das Schlimmste aber war, daß Arnold Singer, als er auf die Straße kam, zufällig einem Schutzmann begegnete, der ins Haus wollte. Dieser Schutzmann, den der Fliehende fast umgerissen hätte, erfaßte sofort die Situation und rannte auf der Straße hinter ihm her. Nach ihnen kamen dann die anderen Schutzleute. Man schrie: »Faßt den Dieb!« Und viele Menschen schlossen sich den Verfolgern an. Es wurde eine der bekannten Jagden, Straße auf und Straße ab, wobei Arnold Singer wie ein gejagter Taschendieb um seine Freiheit lief, während die Volksmenge wie eine Koppel bellender Hunde hinter ihm her war. Schließlich verschwand er durch einen offenen Torweg in einem Hause, wo es ihm eine Zeitlang glückte, seinen Verfolgern zu entgehen. Die Schutzleute aber umringten das Haus von allen Seiten, worauf sie es von oben bis unten durchsuchten. Arnold Singer wurde schließlich unten im Keller gefunden und mit Handschellen zum Gefängnis zurückgeführt.

Das war in aller Kürze die Geschichte der sonderbaren Flucht. Der Schutzmann, der Krag davon Bericht erstattete, hatte selbst an der Jagd teilgenommen.

Krag fragte ihn, wie Singer sich nach seiner Festnahme benommen habe.

»Er lachte,« antwortete der Schutzmann. »Er schien das Ganze für einen Spaß zu halten und ließ sich willig abführen. Er sagte, daß er an einen täglichen Spaziergang gewöhnt sei und daß der kleine Laufmarsch ihm sehr wohlgetan habe. Im übrigen aber wollte er nicht mit der Sprache heraus.«

Obgleich die Uhr bereits elf war, beschloß Krag dennoch, den Gefangenen in seiner Zelle aufzusuchen. Arnold Singer lag auf seiner Pritsche, als Krag eintrat, und stand auch während ihrer Unterredung nicht auf.

»Sie haben mit diesem Fluchtversuch eine große Dummheit gemacht,« sagte Krag, »und Ihre Lage in bedenklichem Grad dadurch verschlimmert.«

»Was Sie sagen,« antwortete der Gefangene. »Ich dachte übrigens, Sie seien der Ansicht, daß meine Sache durch nichts mehr verschlimmert werden könne. Soweit ich mich erinnere, hatte die Polizei Beweise, daß ich Abbé Montroses Mörder bin.«

»Keine Beweise,« antwortete Krag aufrichtig, »aber so starke Indizien, daß Ihre Stellung sehr gefährdet ist. So war die Lage jedenfalls heute vormittag. Im Laufe des Tages trat dann allerdings eine Verbesserung ein.«

»Worin bestand diese Verbesserung?«

»Wir haben eine Aufzeichnung von Abbé Montrose über Auszahlung von dreißig Kronen für sechs Arbeitstage gefunden.«

Diese Mitteilung schien keinen besonderen Eindruck auf Singer zu machen. Er verarbeitete sie indessen mit gewohnter Logik, indem er folgendes feststellte:

»Das einzige Indizium, das die Polizei gegen mich hat, ist eine Photographie, die man in der geplünderten Bibliothek fand und die mir gehört. Die Polizei behauptet, daß ich sie vor dem Mord oder Überfall verloren habe. Ich dagegen behaupte, daß ich sie verloren habe, während ich im Garten arbeitete. Nun meine ich, daß das Indizium der Polizei hinfällig wird, in dem Augenblick, wo ich beweisen kann, daß ich wirklich als Gartenarbeiter bei Abbé Montrose gearbeitet habe. Und wird dies nicht dadurch bewiesen, daß die Quittung über den Arbeitslohn gefunden ist?«

»Ohne Zweifel,« antwortete Krag, »und dieser Umstand bedeutete auch, wie ich bereits sagte, eine ansehnliche Verbesserung Ihrer Lage. Später aber sind zwei Umstände eingetroffen, die sie verschlechtert hat. Die Quittung existiert nicht mehr, sie ist heute nachmittag aus dem Archiv der Polizei gestohlen worden.«

Diese Mitteilung schien einen außerordentlich starken Eindruck auf Arnold Singer zu machen.

Er richtete sich auf den Ellbogen auf und starrte den Detektiv mit weit aufgerissenen Augen an.

»Gestohlen?« rief er aus. »Diese kleine Quittung, dies unwichtige Stück Papier – ist wirklich gestohlen?«

»Ja,« antwortete Krag.

Da lachte Singer ein fast herausfordernd heiteres Lacken.

»Sie nennen es ein unwichtiges Stück Papier,« sagte Krag. »Für Sie aber hatte es doch eine unerhörte Bedeutung.«

»Mit anderen Worten,« sagte Singer, »ein Mensch, der die Bedeutung dieses Stück Papieres verstanden hat, hat es verschwinden lassen.«

»Davon können wir ruhig ausgehen.«

»Möglicherweise kann mein Leben davon abhängen,« sagte Singer, »dieser Mensch muß also mein Feind sein.«

Er streckte sich wieder auf die Pritsche und schob seine Arme unter den Nacken.

»Ich fürchte ihn aber nicht,« sagte er.

»Dazu haben Sie auch keinen Grund,« antwortete Krag, »wir haben den Dieb gefunden.«

»So – oh, wer ist es denn?«

»Kennen Sie den verrückten Professor?«

»Das ist kein Name.«

»Strantz heißt er.«

»Hat die Polizei ihn gefunden?« fragte Singer hastig.

»Dann bedaure ich im Namen der Polizei,« fuhr der Arrestant fort, »daß sie abermals in dem Versuch, meine Schuld zu beweisen, fehlgegriffen hat. Ich kenne Strantz. Ich habe mit ihm im Garten des Abbé gearbeitet. Er war leider ein schlechter Gärtner, denn er stahl Blumen.«

»Auch Strantz kann nicht für Sie zeugen,« antwortete der Detektiv.

»Warum nicht?«

»Weil er tot ist! Heute abend um neun Uhr ist er durch den Dolchstich eines unbekannten Mörders gefallen. Sie haben wirklich gefährliche Feinde, lieber Arnold Singer. Das einzige Dokument, das für Ihre Unschuld sprechen konnte, wurde gestohlen und der einzige Mensch, der zu Ihren Gunsten zeugen konnte, ist ermordet worden.«

Nach diesen Worten des Detektivs verharrte Singer lange stumm. Dann fragte er:

»Ist Strantz im Verhör gewesen?«

»Nein.«

Wieder eine lange Pause, worauf Singer halb zu sich selbst, mit einer Stimme, deren seltsam verstörter Klang Krag erbeben machte, sagte:

» Das ist das Schicksal


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