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XX. Der Brief

Asbjörn Krag verharrte unbeweglich und betrachtete den Mann, der sich näherte. In dem großen und stillen Garten kam ihm das Erscheinen dieses Menschen wie etwas Unwirkliches vor. Plötzlich stand die Gestalt da, von der Frühlingssonne scharf beleuchtet. Sie war aus der Dunkelheit herausgetreten, hatte unter den verworrenen Schatten der Bäume Gestalt angenommen, und in der seltsamen Gemütsverfassung, in der Krag sich befand, meinte er, daß das plötzliche Auftauchen dieses Menschen wie eine Offenbarung wirkte, eine Kundschaft aus der Dunkelheit und dem Rätselhaften. Als er das priesterliche Gepräge der Gestalt sah, durchfuhr ihn ein erwartungsvoller Schauer. Krags Gedanken waren stark mir dem verschwundenen Abbé beschäftigt gewesen, jetzt suchte er unwillkürlich eine Verbindung zwischen dem Verschwundenen und dem Herrn, der, anscheinend mir der Umgebung vertraut, gesenkten Hauptes, nachdenklich auf dem goldschimmernden Weg des Gartens daherkam.

Der Fremde konnte ungefähr fünfzig Jahre alt sein. Er trug einen hohen Hut und einen langen Gehrock, der bis zum Hals hinauf geknöpft war. Ein weißes Halstuch hob sein priesterliches Aussehen. In der Hand hielt er einen Stock. Er kam über den Gartenweg wie ein Mann, der weiß, wo er hin will, ohne nach rechts oder links abzuweichen. Krag stellte fest, daß er durch die südliche Gittertür des Gartens hereingekommen sein müsse, die selten benutzt wurde und auf alle Fälle immer verschlossen war.

Als der Mann bis zur Bibliothek gekommen war, blieb er stehen und blickte sich prüfend um. Krag konnte sein Gesicht jetzt genauer sehen; es hatte ein Gepräge von Ruhe und Freundlichkeit, und der weiße Backenbart verlieh ihm ein gewisses großväterliches Aussehen.

Der Mann trat langsam auf das mittlere Fenster zu und blickte in die Bibliothek, indem er seine Augen mit der Hand beschattete. Es sah aus, als ob die große Unordnung in der Bibliothek ihn erschreckte, denn er zog sich mit einer heftigen Bewegung zurück. Dann aber fiel sein Blick auf Asbjörn Krag, der im Lehnstuhl saß und sein Gesicht wurde sofort von frohem Erkennen erhellt, als ob er den gefunden hätte, den er suchte. Er winkte dem Detektiv zu, der sich erhob und die Tür öffnete.

Der Fremde trat ein und reichte dem Polizeibeamten freundlich die Hand.

»Gerade Sie suche ich,« sagte er, »ich erkenne Sie nach den Bildern in den Zeitungen.«

Er betrachtete Krag neugierig.

»So sieht also ein Detektiv von internationalem Ruf aus,« murmelte er.

Darauf warf er von neuem einen Blick durchs Zimmer und seine Stimme bebte leicht, als er fortfuhr:

»Es erschüttert mich, wie schrecklich es in diesem Zimmer aussieht, an dieser ausgeprägten Stätte des Friedens. Wenn ich an die herrlichen Stunden denke, die ich in diesem Zimmer verbracht habe, wenn –«

»Warum haben Sie mich an diesem Ort aufgesucht?« fragte Krag, »und mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«

Der Fremde suchte in seinem Taschenbuch nach einer Visitenkarte und antwortete:

»Ich suche Sie hier, weil ich Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen habe und weil ich Sie auf dem Polizeiamt nicht antraf. Hier ist meine Karte, mein Name ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt.«

Krag nahm die Karte, die der Herr ihm reichte und las:

Dr. jur. Thomas Wide.

»Ah, der bekannte Rechtsgelehrte,« sagte Krag, »gewiß kenne ich Sie dem Namen nach. Es freut mich, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Als ich Sie draußen im Garten sah, glaubte ich übrigens, daß Sie Geistlicher seien.«

Dr. Wide nickte erfreut, er schien diese Bemerkung als ein Kompliment aufzufassen.

Krag hob einen der umgeworfenen Stühle auf und bat ihn, Platz zu nehmen.

»Ich nehme an,« sagte er, »daß Sie wegen der traurigen Sache mit Abbé Montrose kommen?«

»Ganz recht,« antwortete Dr. Wide, »ich bin Abbé Montroses juristischer Beirat und außerdem sein Freund. Ich habe mich stets für kirchliche Fragen interessiert und verkehre gern mit Geistlichen. Viele aus meiner Familie gehören dem geistlichen Stande an. Das alles hat natürlich auf mich eingewirkt, so daß mein Wesen etwas Priesterliches angenommen hat. Gewissensfragen haben es indessen mit sich gebracht, daß ich dem Wunsch meines Herzens nicht folgen und Mitglied des Priesterstandes werden konnte.«

Krag betrachtete diesen Mann verwundert, der zu so ungewöhnlicher Zeit, an einen so ungewöhnlichen Ort gekommen war, um ihm von seinen privaten Verhältnissen zu erzählen.

»Ich darf wohl sagen,« fügte Wide hinzu, »daß ich der einzige bin, der Abbé Montroses Vertrauen besitzt, ja, vielleicht bin ich sein einziger Freund.«

Krag fiel die Form dieser Bemerkung auf und er sagte:

»Wenn Sie die Zeitungen genau gelesen haben, dürfte es Ihnen klar sein, daß Sie kaum mehr davon sprechen können, daß Sie Abbé Montroses Freund sind

»Sie meinen, daß ich es war,« antwortete Dr. Wide.

»Ja,« sagte Krag, »leider deutet viel darauf, daß der Abbé nicht mehr zwischen den Lebenden ist.«

Dr. Wide blickte Krag forschend durch seine goldgefaßte Brille an.

Bei diesem Blick stutzte Krag. Er war prüfend und vorsichtig.

»Ich wage zu behaupten,« sagte der Jurist, »daß ich noch immer, auch in dieser Sache, Abbé Montroses Vertrauen besitze.«

Der Detektiv horchte hoch auf.

»Sie drücken sich mit solcher Bestimmtheit aus,« sagte er, » wissen Sie etwas?«

»Ja.«

»Lebt Abbé Montrose?«

»Ja,« antwortete Dr. Wide, »jedenfalls lebte er noch gestern.«

»Am Tage nach der Plünderung. Kennen Sie seinen Aufenthaltsort?«

»Nein.«

Krag erhob sich und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb er vor dem Juristen stehen.

»Wenn Sie wahr sprechen,« sagte Krag, »so hält Abbé Montrose einen Schleier über ein Geheimnis gebreitet, das der Polizei bei ihren gesetzmäßigen Bemühungen, ein Verbrechen aufzuklären, große Hindernisse in den Weg legt. Dieses Verbrechen verbirgt bereits einen Mord. Als Jurist dürfte es Ihnen bekannt sein, was das bedeutet. Warum gibt Abbé Montrose sich nicht zu erkennen?«

»Er hat sich zu erkennen gegeben.«

»Ja, Ihnen, warum aber kommt er nicht selbst?«

»Daß weiß ich nicht,« antwortete Dr. Wide, »ich habe einen Brief von ihm bekommen.«

Während der Jurist einen Brief aus seinem Taschenbuch nahm, konnte Krag kaum seine Neugierde beherrschen, trotzdem unterließ er es nicht, alter Gewohnheit getreu, einen Blick auf das Kuvert zu werfen, bevor er den Brief entfaltete. Es war ein einfaches graublaues Geschäftskuvert, aber es war sehr zerknittert und schmutzig, als ob es durch viele und nicht sehr reine Hände gegangen sei.

Das Kuvert hatte keine Freimarke, der Poststempel auf der Rückseite aber zeigte, daß der Brief von Dr. Wide mit Strafporto ausgelöst war, was der Jurist auf Krags Frage bestätigte.

Krag zog den Brief aus dem Kuvert und entfaltete ihn. Es war ein gewöhnlicher viereckiger liniierter Bogen. Auch er war zerknittert. Krag las halblaut:

»Lieber Freund!

Teile der Polizei mit, daß ich lebe und mich von meiner Arbeit zurückgezogen habe, um mich eine Zeitlang in Ruhe besonderen Studien widmen zu können.

Dein ergebener Freund
Montrose.«

Nachdem Krag diese wenigen Worte genau gelesen hatte, steckte er den Brief wieder ins Kuvert und fragte:

»Darf ich den Brief behalten?«

»Ja,« antwortete Dr. Wide, »ich glaube kaum, daß Montrose etwas dagegen einzuwenden hätte.«

»Ist der Brief sicher von dem Abbé selbst geschrieben?« sagte der Detektiv.

»Darüber kann ganz und gar kein Zweifel herrschen,« antwortete Dr. Wide. »Abbé Montroses Handschrift ist so charakteristisch, daß man sie unmöglich mit einer anderen verwechseln kann. Was halten Sie im übrigen von dem Brief?«

»Er ist so überraschend gekommen,« sagte Krag, »daß ich noch nicht Zeit gefunden habe, mir eine Meinung darüber zu bilden. Eines aber ist gewiß, daß dieser Brief die Sache nicht vereinfacht, sondern sie im Gegenteil noch viel geheimnisvoller macht. Der Brief gibt Aufschluß darüber, daß Abbé Montrose gestern noch am Leben war, er gibt aber keinen Aufschluß darüber, ob er heute noch lebt.«

»Sollte es möglich sein,« murmelte Dr. Wide unruhig. »Warum aber meinen Sie –«

»Weil der Brief beweist,« antwortete Krag, »daß Abbé Montrose nicht mehr Herr über seine Handlungen ist. Ich glaube kaum, daß ich fehlgehe, wenn ich zu behaupten wage, daß er in der Gewalt anderer Menschen ist.«

Während der Detektiv sprach, hatte er das Kuvert aufmerksam studiert.

»Dieses Kuvert erzählt viel,« sagte er. »Wollen Sie hören, was es erzählt –«


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