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II. Während Keller diktiert

Eine Stunde später, als das Leben in der Stadt erwachte, mit eifrigen Schritten auf dem Asphalt, munterem Peitschenknallen und rollenden Wagen, herrschte geschäftige Unruhe in Abbé Montroses Arbeitszimmer.

Dort waren mehrere Menschen zur Stelle gekommen.

Außer den beiden Schutzleuten sah man einen Herrn von mittleren Jahren in einem Frühlingsmantel, dessen Kragen hochgeschlagen war, als ob ihn an diesem herrlichen Frühlingsmorgen fröre. Dieser Herr gähnte mehrmals, und vielleicht fror ihn wirklich, denn Müdigkeit setzt, wie bekannt, die Körpertemperatur herab. Er gab seiner Ungeduld Ausdruck, indem er sich in der Nähe der Tür aufhielt. Er sah aus, als ob er bei sich dächte: Was in aller Welt habe ich hier verloren? Läge ich nur in meinem Bett. Dieser Mann war der Gerichtsarzt.

Neben Abbé Montroses großem Schreibtisch stand eine unbeschreibliche Person. Das heißt, sie war insofern unbeschreiblich, als sie keine besonderen Merkmale an sich hatte. Es war ein Mensch wie Gogols Helden in den »Toten Seelen«, weder hell noch dunkel, weder dick noch mager, ein ganz gewöhnlicher Mensch, den man schon oft gesehen zu haben meint, wenn man ihn zum erstenmal sieht. Er konnte ebensogut Kaufmann wie Beamter sein, er ist aber Detektiv, bei der Detektivabteilung angestellt. Er hat ein für einen Detektiv vorzügliches Äußere, indem er nie und nirgends von seiner Umgebung absticht, ein Mensch, der in der Menge verschwindet, sich in der farblosen Masse verliert. Er heißt Keller.

Neben ihm vor dem Schreibtisch, mit der Feder in der Hand, sitzt Schutzmann Nummer 12 und schreibt sorgfältig und langsam nach Kellers Diktat. Keller sieht sich hin und wieder nach verschiedenen Gegenständen im Zimmer um, es scheint, daß er im Begriff ist, eine Inventarliste aufzunehmen. Einmal wendet er sich an den Gerichtsarzt mit folgender Frage:

»Sind Sie sicher, Doktor, daß diese roten Flecke Blut sind?«

»Ja,« sagt der Gerichtsarzt, »das unterliegt keinem Zweifel.«

»Also,« fährt Keller in seinem Diktat fort, »eine Decke von Blut befleckt, ein rot und gelbes Halstuch, auch von Blut befleckt –«

»Auch ... von ... B ... lut ... be ... fleckt,« murmelt Nummer 12, während er schreibt.

In einem tiefen und bequemen Lehnstuhl sitzt ein ganz stummer Herr, der sich anscheinend nur für seine Stiefelspitzen interessiert. Jedenfalls blickt er die ganze Zeit darauf herab, so daß sich seine Glatze hell von dem dunklen Leder des Stuhles abhebt. Sein Gesicht ist mager und bleich, aber mit festen charakteristischen Zügen und einem leicht ergrauten, kurz gestutzten Schnurrbart. Sein Kinn, das jetzt auf dem schwarzen Schlips ruht, ist ungewöhnlich breit und kräftig.

Neben dem Schreibtisch steht Schutzmann Nummer 314 und verzehrt langsam und bedächtig sein Butterbrot. Nichts hindert einen Schutzmann, sein mitgebrachtes Butterbrot in der Nacht zu essen. Oft können einsame Nachtwanderer Papiergeraschel aus einem halbdunklen Torweg hören, das ist der Schutzmann, der sein Butterbrot ißt. In vielen stillen Städten geschieht in der langen Nacht überhaupt nichts anderes, als daß der Schutzmann sein Butterbrot ißt. Im Augenblick hatte 314 nichts Besonderes zu tun, darum hatte er sein Butterbrotpaket hervorgezogen, wie einfache Naturen nun einmal sind. Es fiel 314 keinen Augenblick ein, daß es merkwürdig war, wie er hier auf dem Schauplatz eines blutigen Dramas stand und kaute.

Denn das große Zimmer trug unverkennbare Anzeichen von furchtbaren Ereignissen.

Es war die Bibliothek und das Arbeitszimmer des Abbés, mit stilvollem und sicherem Geschmack eingerichtet, der sowohl Kultur wie Reichtum verriet. Die vielen Bücher, die die eine Längswand fast ganz bedeckten, waren alle kostbar gebunden. Da waren alte Möbel und alte Bilder und auf dem Teppich lagen die traurigen Überreste von altem Porzellan. Denn die Friedensstörer waren mit diesem schönen Raub übel umgegangen. Möbel waren umgestoßen, Bücher aus den Borten gerissen, überall lag Papier verstreut, und der große Schreibtisch war von Tinte und Blut beschmutzt. Ein Mahagonischrank war vollständig zerbrochen und die Schubladen lagen auf dem Fußboden. Das zersplitterte Fenster hing lose in den Angeln und bewegte sich kreischend im Morgenwind.

Wir haben bisher Nummer 314 und Nummer 12 kennengelernt, ferner den Gerichtsarzt und den Detektiv Herrn Keller. Wer aber war der Herr mit den Stiefelspitzen, der schweigsame Herr, der aussah, als ob er zwischen den Kulissen säße und auf sein Stichwort in einem Konversationsstück wartete?

Man wird es sofort erfahren, denn plötzlich zeigte es sich, daß der Mann mit den Stiefelspitzen durchaus kein uninteressierter Beobachter war, sondern daß er im Gegenteil Kellers Diktat mit größter Aufmerksamkeit gefolgt ist. Keller war in seiner Inventaraufnahme bei folgendem angelangt:

»Die Photographie einer jungen Dame –« als der Herr mit den Stiefelspitzen den Kopf hebt und sagt:

»Aus?«

»Aus?« fragte Keller erstaunt. »Was meinen Sie damit, Herr Asbjörn Krag

»Aus Arendorffs Atelier,« setzt der andere fort und erhebt sich. »Wenn die Liste genau sein soll, dürfen Sie doch das Wesentlichste nicht vergessen.«

Asbjörn Krag, der bekannte Detektiv, begab sich in den Garten, und der Gerichtsarzt folgte ihm, während die anderen Polizeibeamten ihre Arbeit fortsetzten. Krag konnte mit seiner geschmeidigen Gestalt noch für einen jungen Mann gelten. Sein eigenartiges Gesicht mir den tiefen Linien um den Mund, den nadelfeinen Fältchen an den Augen und die kahle, weiße Stirn aber schienen darauf zu deuten, daß er das mittlere Alter bereits überschritten hatte.

Trotzdem aber war Krag erst vierzig Jahre alt.

»Was meinen Sie dazu?« fragte der Gerichtsarzt und gähnte. Verbrechen waren für ihn etwas Altgewohntes.

»Ich meine, daß es ein herrlicher Morgen ist,« antwortete der Detektiv, kreuzte die Arme und atmete begehrlich die duftgesättigte Luft.

»Nein, ich meine die Sache da drinnen,« sagte der Arzt.

»Das sehen Sie ja selbst,« antwortete Krag, »Einbruch, Plünderung, Raub, was Sie wollen. Ich nehme an, daß Abbé Montrose viele Wertsachen in dem zerbrochenen Mahagonischrank gehabt hat.«

»Es sind mehrere Verbrecher gewesen.«

»Zweifelsohne. Einer von ihnen war höchstwahrscheinlich Seemann.«

»Alle Wetter, woher wissen Sie das?«

Krag wandte sich zum Arzt um und zeigte seine kräftigen Zähne in einem gutmütigen Lächeln.

»Es fiel mir ein Vers aus einem Seemannslied ein,« antwortete der Detektiv, »der so lautet:

In leuchtenden spanischen Farben,
In Farben von rot und gelb –

An diesen Vers habe ich die letzte halbe Stunde unablässig denken müssen.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte der Arzt mit leiser Stimme. »Glauben Sie, daß ein Mord begangen ist? All das Blut –«

»Ja, Blut ist überall,« antwortete der Detektiv ausweichend.

»Jedenfalls hat ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden.«

»Ohne Zweifel.«

»Wo aber ist Abbé Montrose?«

»Verschwunden,« sagte Krag, »aber er ist zugegen gewesen.«

»Heute nacht, während des Kampfes?«

»Sicherlich.«

Der Gerichtsarzt schauerte wie bei Kälte zusammen.

»Es wäre traurig,« sagte er, »wenn ihm ein Unglück zugestoßen ist, solch edle Persönlichkeit, solch wirklich hervorragender Gelehrter – glauben Sie, daß man ihn erschlagen hat?«

»Nicht unmöglich,« sagte der Detektiv.

»Und seine Leiche mitgenommen?«

»Das wäre allerdings eine merkwürdige Idee,« murmelte Krag.

»Man hat einen Fetzen von dem Priesterrock des Abbés an dem Gitter gefunden, auf dem Weg, den die Verbrecher bei ihrer Flucht eingeschlagen haben –«

»Sehr richtig,« sagte Krag, »und der Abbé ist nirgends zu finden. Das Ganze ist rätselhaft.«

»Und unheimlich?« fragte der Arzt unsicher.

Krag nickte.

»Und unheimlich,« bestätigte er.

Ein sanfter Wind bewegte die Bäume des Gartens, das Laub rauschte, es klang wie eine ferne Brandung. Krag blieb stehen, starrte grübelnd vor sich hin und der Gerichtsarzt hörte ihn murmeln:

»Er kommt nicht wieder ... vielleicht kommt er nicht wieder –«

Der Detektiv starrte gedankenvoll in die Ferne, als erwarte er, daß jemand oder etwas, eine Person oder ein Wahrzeichen sich zwischen den mächtigen, wogenden Kronen der Bäume zeigen und mit dem Morgenlicht durch das Laub auf ihn zukommen würde.

Die große Stadt erwachte mehr und mehr. Der Lärm des Tages hatte die Stille abgelöst.


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