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IV. Mord

Hier muß festgestellt werden, daß der Husarenweg nicht zum Mayonnaise-Viertel gehörte, im Gegenteil, der Husarenweg gehörte zu den Straßen in dem großen neuen Viertel, das nach Osten das Verbindungsglied zwischen Stadt und Land bildete. Dort hatte eine fürsorgliche Stadtverwaltung die eine von den großen Gemeindewiesen zur Bebauung nach modernen Prinzipien für den kleineren Mittelstand zur Verfügung gestellt. Auf dem großen Gebiet hatte sich in kurzer Zeit eine reizende Gartenstadt erhoben, Straße nach Straße von kleinen Villen, mit gepflegten Gärten umgeben. Den Straßen hatte man militärische Namen gegeben, um die glorreiche Militärmacht des Landes zu ehren. Außer dem Husarenweg gab es dort den Kürassierweg, den Infanterieplatz, die Dragonergasse, Generalstraße usw. Und da beständig neue Straßen hervorschossen, hatte man, um im Stil zu bleiben, seine Zuflucht zu Bezeichnungen wie: Sergeantweg, Bajonettplatz und Ordonnanzstraße nehmen müssen.

Ein Stück von dem bewußten Hause entfernt, verließen Krag und Keller das Auto und gingen das letzte Ende zu Fuß. Es war zu der Stunde, wo Menschen sich zur Arbeit begeben. Auf dem Fußsteig wimmelte es von Arbeitern, Kontoristen und Ladenmädchen, überall klingelten die eifrigen Warnungsrufe der Fahrradglocken, und die Straßenbahnen fuhren bimmelnd und vollbesetzt vorbei. Es war die Ouvertüre zu dem mächtigen Musikwerk des Arbeitstages, dieser lebhafte und mitreißende Auftakt des Lebens, der den Morgen in allen Großstädten prägt.

»Sehen Sie nur,« rief Keller und faßte seinen Freund am Arm. Sie waren vor Nummer 28 stehen geblieben, auf der anderen Seite der Straße. Nummer 28 war, wie die meisten Villen, ein kleines, freundliches Einfamilienhaus mit einem eingefriedigten Garten davor. Auf dem Gang, der das Haus von der Straße trennte, zwischen blühenden Apfelbäumen, ging ein junges, glückliches Paar. Der Mann war nicht eigentlich in Arbeitstracht, aber auch nicht städtisch gekleidet. Man konnte glauben, daß er auf einem Speicher oder dergleichen beschäftigt war. Die Frau trug beglückt ein kleines Mädchen auf dem Arm. Es ging wie ein Glücksschimmer von ihnen aus und man sah ihnen von weitem an, was sie waren: jungverheiratet und glücklich, ein junges Weib, das ihren Mann begleitet, der zur Arbeit geht. Der Mann gab seiner Frau die Hand zum Abschied – strich der Kleinen übers Haar und sah sich nach der Straßenbahn um, die sich mit kreischendem Laut der Haltestelle näherte.

»Das ist unser Mann,« sagte Krag und schritt über die Straße, »leider müssen wir das Idyll stören.« Keller folgte ihm.

Jedesmal wenn Krag einen Verbrecher verhaften wollte, achtete er genau darauf, wie die betreffende Person sich in dem Augenblick benahm, wo es ihr klar wurde, daß die Polizei da sei. In solcher schicksalsschweren Sekunde konnte Krag viel in dem Auge eines Menschen lesen, Schreck, Verwirrung, Verzweiflung, und er hatte gelernt, zwischen der Ratlosigkeit desjenigen, der nicht versteht, und desjenigen, der sich ertappt weiß, zu unterscheiden.

Als er aber vor diesem jungen Mann stand und sagte: »Wir sind von der Polizei,« meinte er, in dem Blick des Mannes keine dieser gewohnten Beobachtungen entdecken zu können.

»Ihr Name ist Singer?« fragte Krag.

»Ja,« antwortete der Mann, »Arnold Singer ist mein Name. Was wünschen Sie von mir?«

»Sie sind Arbeiter?«

»Ja.«

Vielleicht ist er älter als er aussieht, dachte Krag. Sein Gesicht war weder regelmäßig noch hübsch zu nennen. Die Augen aber waren merkwürdig, blau und offen, der Blick fest und ruhig, fast grüblerisch in sich gekehrt. Bei diesem Blick stutzte Krag unwillkürlich, und er sah jetzt auch, daß die Augen dem Gesicht den Ausdruck ungewöhnlicher Intelligenz verliehen. Es war nicht zum erstenmal, daß der Detektiv stutzte, wenn er einem Menschen Aug' in Aug' gegenüberstand und einen überzeugenden Ausdruck von der Intelligenz dieses Menschen empfangen hatte.

Dieser Ausdruck hatte nichts mit Bildung oder Gelehrsamkeit des Individuums zu tun, es war etwas Ursprüngliches, etwas Überlegenes, Tatkräftiges und Elastisches, das aus dem forschenden Blick der Augen strahlte. Solche Augen hatte Krag sowohl im Parlament wie vor den Gerichtsschranken, sowohl zwischen berühmten Staatsmännern, wie zwischen schlauen Verbrechern aus der Tiefe des Mayonnaise-Viertels gesehen. Der Zufall kennt keine Regel, und gleichzeitig begriff Krag, daß der Mann, den er vor sich hatte, sich nicht leicht zur Strecke bringen lassen würde.

Während Asbjörn Krag diese blitzschnellen Beobachtungen machte, hatte Keller die Photographie hervorgezogen. Sie brauchten keine Vergleiche anzustellen, denn bereits von der anderen Seite der Straße hatten die Detektive die junge Frau erkannt. Der Arbeiter gab auch ohne weiteres zu, daß es seine Frau sei.

»Das ist sie,« sagte er und faßte sie unterm Arm.

Sie war etwas ängstlich geworden, was keiner der Detektive verwunderlich fand. Das Wort Polizei wirkt immer einschüchternd auf einfache Naturen.

»Wem gehört aber die Photographie,« sagte Keller.

»Mir. Ich habe sie wahrscheinlich gestern verloren.«

»Wo?«

Der Arbeiter blickte von einem zum andern. Lacht er? dachte Krag.

»Den Ort kann ich nicht angeben,« antwortete der Arbeiter. »Das kann man ja nie, wenn man etwas verloren hat.«

»Wo wollen Sie jetzt hin?« fragte Krag, »zur Arbeit?«

»Ja.«

»Wo arbeiten Sie?«

»Ich will erst Arbeit suchen

»Sie haben also keine feste Arbeit. Was ist Ihr Fach?«

»Eigentlich bin ich Gartenarbeiter. Aber ich nehme auch andere Arbeit.«

»Wann sind Sie gestern abend nach Hause gekommen?«

»Gegen neun Uhr.«

»Und sind dann zu Hause geblieben?«

»Nein, ich bin ungefähr um elf Uhr fortgegangen und eine Stunde später zurückgekommen.«

»Wo haben Sie sich in der genannten Zeit aufgehalten?«

Der Arbeiter zuckte die Achseln.

»Ich bin spazieren gegangen,« antwortete er.

Krag zeigte aufs Haus.

»Begleiten Sie uns hinein,« sagte er.

Der Arbeiter ging ohne Unruhe, aber zögernd voraus. Die junge Frau beschloß den Zug. Sie kamen in ein ziemlich großes Wohnzimmer, das nett und einfach möbliert war. Die Fenster standen offen, die weißen Mullgardinen blähten sich im Morgenwind, es war ein helles und freundliches Heim. Krag bemerkte, daß ein gepackter Koffer in der Nähe der Korridortür stand. Die Frau ging mit dem Kind ins Nebenzimmer, kam wieder herein und schloß die Tür hinter sich. Keller begann gleich das Zimmer, besonders den Teppich, zu untersuchen. Der Arbeiter betrachtete ihn neugierig. Lacht er wieder? dachte Krag.

Plötzlich wandte Keller sich an die Frau.

»Ist dieser Teppich heute gefegt worden?« fragte er.

»Nein, noch nicht,« antwortete sie etwas zaghaft, als ob die Bemerkung des Detektivs einen Vorwurf gegen sie als Hausfrau enthielte.

»Ist er gefegt worden, seit Ihr Mann gestern Nacht von seinem Spaziergang nach Hause kam?«

»Nein.«

»Das darf er auch nicht,« sagte Keller, »der Teppich darf nicht gefegt werden, bevor ich ihn näher untersucht habe, verstanden!«

Auf Aufforderung des Arbeiters nahm Asbjörn Krag Platz, der Arbeiter selbst aber blieb stehen. Er wartete.

»Lieber Herr Singer,« sagte Asbjörn Krag, »Sie müssen uns etwas Näheres über Ihren nächtlichen Spaziergang mitteilen.«

»Vorher möchte ich gern wissen,« sagte Singer, »weswegen die Polizei mich in Verdacht hat. Ich nehme an, daß hier irgendein unglückseliges Mißverständnis vorliegt. Um was handelt es sich?«

»Raub und Mord,« antwortete Krag, » Mord,« wiederholte er deutlich.

Seltsam. Es war, als ob das Zimmer plötzlich dunkler wurde, die weißen Gardinen schienen graubleich zu werden, wie die Laken in einem Totenbett, und in der Stille, die den Worten des Polizeibeamten folgte, ging ein kalter Lufthauch durchs Zimmer. Auf diese Weise empfindet das Gemüt stets die Nähe eines Mordes, es ist, als ob das Tageslicht grau wird vor Entsetzen, wenn dies schrecklichste aller Worte nur ausgesprochen wird. Auch die Anwesenden fühlten sich von dieser plötzlichen und unwiderstehlichen Unruhe ergriffen.

Da unterbrach Krag das Schweigen.

»O ihr starken Männer und ihr schwachen Weiber!« sagte er, »sehen Sie nur Ihre Frau.«

Das junge Weib stand über den Tisch gebeugt und griff sich krampfhaft mit den Händen an die Brust. Sie zitterte und ihr Gesicht wurde noch blasser.

Der Arbeiter sprang auf sie zu und stützte sie.

»Clary,« sagte er tröstend und besorgt zugleich, »Clary ...«

Darauf sah er die Polizeibeamten an, blickte von einem zum anderen.

Asbjörn Krag bemerkte in diesem Blick Mut und abweisenden Zorn.

Da hörte er den Arbeiter zu seiner Frau sagen:

»Beruhige dich, Clary, sei ruhig und verlaß dich auf mich.«

In diesem Augenblick betrat ein neuer Mensch das Zimmer.

»Hallo, Charlie,« rief Keller laut und vergnügt, »sind Sie es wirklich, mein Freund!«


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