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XXVII. Die Jagd

Dies Gespräch fand in Kellers privatem Kontor in der Detektiv-Abteilung statt. Während der letzten Minuten hatten elektrische Glocken unaufhörlich in den angrenzenden Zimmern geläutet.

Krag ging zur Tür.

»Die Polizeibehörden fangen an zu telefonieren, wie es scheint,« sagte er, indem er seine Uhr zu Rate zog. »Wir können jetzt die ersten Berichte erwarten.«

Er nickte und schickte sich zum Gehen an, besann sich aber wieder.

»Nein, ich habe nicht gelacht,« sagte er.

»Das kam mir doch so vor,« antwortete Keller, »es war aber auch ein wilder Einfall von mir.«

»Sie haben recht,« sagte Krag. »In einer Lage wie dieser verfällt man auf die merkwürdigsten Ideen, und es war nicht meine Meinung, Sie mit Hohn zurückzuweisen. Ich muß gestehen, ich wußte nicht einmal, was Sie sagten, ich hörte nur den Klang Ihrer Worte. Und wenn ich den Mund ein wenig verzog, bedeutete es nur, daß ich in Betrachtungen vertieft vor mich hinlachte, so zerstreut, als ob ich ferne Musik hörte.«

Keller erhob sich heftig und schlug mit der flachen Hand auf den mit Papieren bedeckten Tisch.

»Nein, jetzt werden Sie mir zu poetisch,« rief er halb scherzend, halb ärgerlich. »Sie sprechen nur noch von Rosen und Märchendichtern und Musik. Was meinen Sie mit dieser letzten Bemerkung?«

»Ach, nichts Besonderes,« antwortete der andere gutmütig. »Ich wollte nur bildlich ausdrücken, daß ich eine Ahnung habe, mir ist, als ob ich ferne Musik hörte, oder Duft von Blumen spürte, die ich nicht sehen kann. Ich bin kein Dichter, aber ich wünschte, daß ich in der unbestimmten und unbestimmbaren Form eines Dichters meine Gefühle darlegen könnte, wenn ich ahnungsvoll merke, daß mein Sinn im Begriff ist, das Richtige, das Licht, die Lösung einzufangen. Was ich jetzt empfinde, empfindet sicher auch ein Dichter, der lange mit der Vollendung eines Werkes gekämpft hat und plötzlich die erlösende Stimmung fühlt, nicht deutlich und handgreiflich, sondern ahnungsvoll herannahend und wachsend. Jetzt will ich nur noch alles sammeln, Keller, dann habe ich die Lösung, das Licht. Es ist eine höchst sonderbare Affäre.«

Keller erinnerte sich nicht, seinen Freund je so erregt gesehen zu haben und blickte ihm erschrocken und verwirrt nach.

Krag ging durch den langen Korridor, der die Halle des Detektiv-Gebäudes mit der eisernen Treppe verband, die zum Zellengefängnis führte.

Auf dem Korridor begegnete er einem zivilgekleideten Detektiv, dessen Beinkleider am Fußgelenk mit Fahrradspangen zusammengehalten waren. Er ließ ihn vor sich in einen großen Raum treten, wo mehrere andere Detektive saßen und an einem großen Tisch mit grünem Tuch warteten. Es war das Sitzungszimmer der Kriminalpolizei, voll von Telephonapparaten und Handbüchern, im übrigen aber nur spärlich möbliert; außer dem großen Tisch waren da nur einige unbequeme Stühle und ein riesiger Wandschrank.

Während der vor ihm eingetretene Detektiv sich ans Telephon begab, begann Asbjörn Krag eine Unterhaltung mit den anderen Detektiven. Einer von ihnen verabschiedete sich, nachdem er einen kurzen Bescheid von Krag bekommen hatte; andere fanden sich ein, ein Schreiber in Uniform kam mit Papieren herein, die er auf den grünen Tisch legte, worauf er wieder verschwand. Währenddessen läuteten die Telephone mit ihrem scharfen knatternden Metallklang. Ein Mann in der Uniform der Gefängniswärter kam mit einem Brief herein, den er Krag übergab, und den dieser ungeöffnet in der Hand behielt, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. Ein dicker Polizeikommissar, der vor Wärme stöhnte und seine Uniform aufgeknöpft hatte, legte ein großes, rotgerändertes Plakat auf den Tisch. Krag besah es und nickte beifällig. Es war das Plakat mit dem Signalement des »Gefängnisgesichtes«, das an alle Anschlagsäulen geklebt werden sollte. Es wurden nur kurze und leise Worte gewechselt. Keiner sagte etwas Überflüssiges. Hin und wieder hörte man das Hallo! Hallo! der Beamten, die am Telephon saßen. So sah es in der Zentrale der Kriminalpolizei an Mordtagen aus oder wenn sonst etwas Ungewöhnliches im Gange war. Eine intensive Geschäftigkeit, aber keine Verwirrung. Ein unaufhörliches Kommen und Gehen von Männern, deren Äußeres in keiner Weise mit dem landläufigen Begriff übereinstimmte, den man von Detektiven hat. Kräftige Männer mit einem militärischen Zuschnitt, blauäugig und aufgeweckt, zu Rad heimkehrend und wieder forteilend. Der einzige, der von diesen Menschen abstach, war Asbjörn Krag, der seine Lieblingsstellung am Fenster einnahm, den Rücken dem Licht zugekehrt, den Brief, den er soeben erhalten hatte, lesend. Seine Gesichtszüge waren ausdrucksvoller, verfeinerter; mit seiner Glatze sah er eher wie ein Richter, ein Assessor, als wie ein Detektiv aus.

So war das Leben in diesem ungemütlichen, kasernengelben Raum mit den kahlen Fenstern, ein Leben, das verdichtete zielbewußte Geschäftigkeit, intensives Streben ausdrückte. Draußen in der grauen Steinwüste der Großstadt aber ahnte man das Wild, den Mörder, der sich in dem Menschengewühl und den dunklen Schatten verbarg, bebend gehetzt mit Todesgewißheit im Blick.

Wenn ein Unbefugter während dieser Stunden in die Zentrale der Kriminalpolizei gekommen wäre und eine Weile den Befehlen und Bruchstücken der Unterhaltung gelauscht hätte, würde er sehr bald zu der Überzeugung gekommen sein, daß man hier nach einem bestimmten Plan arbeitete.

Währenddessen beantwortete Krag eine telephonische Mitteilung und man konnte ihn sagen hören:

»Nehmen Sie die Wirtschaften in der B.-Straße vor und dann alle Seemannskneipen am Kai.«

Oder:

»Sie sind im Seemannshaus gewesen? Gut. Es gibt auch noch ein Heim für christliche Seeleute am Viktoriakai, gehen Sie dort auch hin.«

Oder:

»Schicken Sie Johnson zu den Dampfschiffsgesellschaften.«

Oder:

»Veranlassen Sie, daß keine Segelschiffe auslaufen.«

Da rief der Mann am Telephon laut durchs Zimmer:

»Pat hat eine Spur auf dem Kohlenkai entdeckt, hat sie aber wieder verloren.«

Krag, der gerade mit dem Chef der Polizei im Gespräch stand, nickte nur. Der Polizeichef war einen Augenblick in die Kriminalabteilung gekommen, um persönlich zu hören, wie die Sache stand. Seine Exzellenz war nervös. Das Ansehen der ganzen Polizei stand auf dem Spiel. Er spürte bereits eine unerhörte Aufregung in den Zeitungsredaktionen. Er nahm nicht selbst an der Arbeit teil, als oberster Chef aber trug er die Verantwortung. In einer Stunde sollte er zu einer Mittagsgesellschaft beim Minister und er wollte gern (Krag kannte seine Eitelkeit und lächelte), er wollte gern die Neuigkeit von der Verhaftung beim Mittagessen mitteilen, wie der mächtige Polizeichef solche Neuigkeiten mitzuteilen liebte, unberührt lässig, mit einem eisgrauen Polizeiblick: »Liebe Frau X. Wir haben den Mörder um 6 Uhr 34 gefaßt.« Und Krag sagte:

»Er kann uns nicht entgehen, Ew. Exzellenz, wir sind ihm auf den Fersen, ich meine bereits seine fliehenden Schritte zu hören. Der da (er zeigte mit dem Kopf auf den Detektiv mit den Fahrradspangen) berichtete, daß er nach der Mordtat nicht in das kleine Zimmer, das er bewohnt, zurückgekehrt ist. Er hat es nicht gewagt, denn er weiß, daß wir hinter ihm her sind. Ich hatte übrigens erwartet, daß er sich gutwillig melden würde.«

»Wirklich,« sagte der Polizeichef erstaunt. »Warum glaubten Sie das?«

»Ich dachte es mir, nachdem ich das Motiv zur Tat geprüft hatte.«

Krag legte die Hand auf den Brief, den er soeben erhalten hatte.

»Das Motiv habe ich hier,« sagte er, »der Ärmste mag aber doch noch an die Möglichkeit einer Flucht geglaubt haben. Er ist langjähriger Seemann und weiß, daß gerade in dieser Zeit Seeleute knapp sind und mancher notleidende Kapitän gern Schleichwege geht, um einen Mann zu bekommen. Vielleicht kennt er auch irgendeine gewissenlose Person, die willig ist, ihm zu helfen. Unsere Leute aber sind überall. Jedes Schiff ist unterrichtet, jedes Heuerkontor, Seemannsheim, jede Kneipe. Vielleicht zögert er noch etwas, weil er ängstlich ist, aber er wird sicher bald kommen.«

»Ich erwarte weiteres auf meinem Kontor,« sagte Seine Exzellenz. »Telephonieren Sie mir bitte sofort.«

Und die intensive Geschäftigkeit in der Zentrale der Kriminalpolizei nahm ihren Fortgang. Leute kamen und gingen. Die Berichte folgten einander.

Schließlich trat der Augenblick ein, den viele Menschen von anderen Verhältnissen im Leben kennen. Jener Augenblick, wo man an einem heftigen Ruck der Lebensäußerungen um sich her, an der abnehmenden Geschäftigkeit und dem hastigen Atemholen merkt, daß eine Entscheidung gefallen ist.

Plötzlich läutete eine Glocke ungewöhnlich grell, und alle Stimmen vermischten sich zu einem vielstimmigen Gemurmel, als ein verstaubter und schweißtriefender Radfahrer ins Zimmer gestürzt kam; die Tür wurde aufgerissen und blieb weit offen stehen, so daß man viele herbeieilende Schritte auf dem Gang hörte. Dann fielen die drei Worte, kurz und scharf:

» Wir haben ihn.«


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